Wind Beyond Shadows

Normale Version: We're going down to a bottomless pit
Du siehst gerade eine vereinfachte Darstellung unserer Inhalte. Normale Ansicht mit richtiger Formatierung.
Es war selten geworden, dass sie sich der Öffentlichkeit zusammen zeigten. Damals in Phoenix waren sie regelmäßig ausgegangen. Doch dort war alles anders gewesen. Und all das wirkte inzwischen wie ein wahnwitziger Traum. Wie etwas, das er sich im Fieberwahn ausgedacht hatte. Niemand würde ihm Glauben schenken, wenn er davon erzählte, wie Nobu in dem Jahr gewesen war, in dem sie sich kennengelernt hatten. Zuvorkommend, liebevoll, romantisch. Ansätze zeigten sich hier und da noch immer, doch war es wie ein Systemfehler in ihm. Als würden irgendwelche Bugs dafür sorgen, dass das alte Verhalten für einen kurzen Augenblick wieder an die Oberfläche kam, bevor es wieder verschwand. Wie zwei vollkommen unterschiedliche Männer in zwei underschiedlichen Ländern.
Chuya hatte versucht es anzusprechen, doch war es nur eskaliert und er lernte, dass er jemanden mit Aggressionesproblemen nie auf Aggressionsprobleme ansprechen sollte, denn es triggerte die Aggressionsprobleme. Da hätte er wohl auch selbst drauf kommen können, doch die Demonstration hatte es ihm besser eingebläut als jede Vermutung es gekonnt hätte.

Schweigend starrte er auf sein Glas Wasser, während Nobu ihm von seinem Tag erzählte, davon berichtete wie er bei irgendwem Schulden eingetrieben hatte, der sich ewig aus der Affäre gezogen hatte. Es Grund zum Feiern, wie er meinte und weswegen sie nun hier saßen. Chuyas Begeisterung hielt sich in Grenzen, besonders nach den letzten Tagen, die er hatte durchleben müssen, Tage in denen die Frustration in Nobu wohl Höchstwerte erreicht hatte.
Zu Beginn hatte er noch die Energie gehabt, seine Laune anzupassen. Fröhlich zu sein, wenn Nobu es war, motiviert und liebevoll. Doch Stück für Stück verließ ihn die Kraft über all das hinwegzusehen und so zu tun als wäre es nichts. Diese Beziehung, die sie führten, hatte ihn in den vergangenen Monaten geradezu bitter gemacht. Kaum etwas hatte ihm Freude bereitet, wenn es nicht die Stunden auf Arbeit waren, die Zeit in der sie getrennt waren und er nicht darauf achten musste, was er sagte. Doch je ausgelassener er auf Arbeit war, je entspannter oder ausgeglichener nach Hause kam, umso schlimmer wurde die Zeit in den eigenen vier Wänden.
Es war für Nobu ein wunder Punkt, wenn er mit irgendwem anderes sprach oder Zeit verbrachte. Da war es egal ob es zum Vergnügen oder zur Arbeit war, er machte da keine Unterschiede. Es war als wäre der Schritt, den Chuya getan hatte als er sein eigenes Unternehmen zurückgelassen hatte um mit ihm in dessen Heimat zu ziehen, nicht Beweis genug gewesen um ihm zu zeigen, wie treu ergeben er dem Kerl eigentlich war.

Chuya wusste, dass dieser Abend nicht gut ausgehen konnte. Er war nie pessimistisch veranlagt gewesen, doch war das etwas, das Nobu ihm schnell beigebracht hatte. Es gab keine guten Zeiten mehr, er konnte jederzeit explodieren und es gab nicht einmal irgendwelche Protokolle oder Sicherheitsvorkehrungen. Keine festen Themen die er vermeiden musste, keine bestimmten Blicke, die er nicht zeigen durfte oder Wörter die ungesagt bleiben mussten. Es konnte einfach aus einem alltäglichen Gespräch heraus passieren.
Nobu erzählte ihm gerade von seinen Plänen für das bevorstehende Wochenende und Chuya lächelte leicht als es geschah. Sein Handy vibrierte kurz. Eine Nachricht vermutlich, konnte aber auch jede gottverdammte App gewesen sein, die ihm eine Benachrichtigung geschickt hatte. Es machte keinen Unterschied. Irgendetwas suchte Kontakt zu Chuya und es ließ Nobu in seinen Worten innehalten. Er neigte seinen Kopf leicht und sein Blick - noch immer neutral - wirkte als würde er Chuya durchleuchten wollen. Man konnte sehen wie seine Augen neugierig größer wurden, während er den Kopf auf beide Hände bettete, die Ellenbogen zu beiden Seiten seines Tellers auf den Tisch abgestützt.
"Was war das?", fragte er betont freundlich und erntete ein "Was?". Doch Chuya wusste es besser, sich dumm stellen würde nichts bringen. Nobu würde es aus ihm herauswringen wie aus einem Schwamm. Zur Not mit Gewalt, wenn auch nicht hier, nicht in aller Öffentlichkeit. Hoffte er zumindest. "Dein Handy...", begann er und seine Miene verfinsterte sich wie in Zeitlupe. "... vermutlich nur der Gruppenchat der Kollegen...", versuchte er zu beschwichtigen bevor ihm bewusst wurde, dass es womöglich die falscheste Antwort gewesen sein könnte. Hätte er doch Newsletter gesagt. Oder besser noch der Wetterbericht. Irgendetwas das nichts mit anderen Menschen zu tun hatte!
Für einen Moment glaubte er, dass Nobu es ziehen lassen würde, doch dann folgte das zweite leise Vibrieren.

"Scheint wichtig zu sein" - "Glaub nicht." - "Warum siehst du nicht nach? Jemand will anscheinend deine Aufmerksamkeit" - "Es kann sicherlich warten, bis wir wieder zuhause sind" - "Zuhause hab ich andere Pläne für dich. Da wirst du keine Zeit für finden." Ein Schmunzeln zeichnete sich auf Chuyas Lippen ab, auch wenn ihm absolut nicht danach war. "Es ist wirklich nicht so wichtig. Vielleicht schau ich morgen nach." - "Und wenn es doch ein Notfall ist?" - "... Nobu, lass uns doch einfach in Ruhe essen, das Handy ist doch jetzt egal." - "Ich wollte ja in Ruhe essen, aber irgendjemandes Telefon vibriert die ganze Zeit störend." - "Tut mir leid, ich mach es aus." Er unterdrückte ein Seufzen und zog das Handy aus der Tasche mit dem einzigen Beweggrund es abzuschalten, doch Nobu sah wohl wieder Gespenster. "Und? Ist es was Wichtiges?" - "...Ich hab doch nichtmal draufgeschaut." Nobus flinke Finger griffen nach dem schmalen Gerät und zogen es aus Chuyas Händen. "Wer ist Manabu?" - "Ein Barkeeper in Tokyo. Er half mir dabei, mich besser auf die Arbeit hier vorzubereiten." - "Wie oft seht ihr euch?" Chuyas Blick entgleiste als er die Frage hörte. "Gar nicht! Es ist rein geschäftlich. Nun fahr mal drei Gänge runter." - "Und wie lang geht das schon so?" Nobu begann durch den Chatverlauf zu scrollen, als Chuya nach seinem Handy griff und es noch während er es zu sich zog ausschaltete. "Jetzt ist es aus. Können wir uns jetzt wieder auf uns konzentrieren bitte?", fragte er und versuchte ruhig zu klingen, doch er wusste, dass man seiner Bitte garantiert nicht nachkommen würde. Und leider hatte er reicht, denn sie wurde mit einem Scheppern beantwortet, als Nobus flache Hand auf der Tischplatte aufkam. "Ich konzentrier mich immer auf dich. Ich hab dich extra hergebracht um mit dir meinen Erfolg zu feiern anstatt mit den anderen Trinken zu gehen und du textest hier stattdessen mit irgendwelchen anderen Kerlen." - "Ich texte mit niemandem und jetzt hör auf damit. Ich hab keine Lust, dass du mir hier in aller Öffentlichkeit grundlos eine Szene machst. Beruhig dich und wir unterhalten uns Zuhause in Ruhe. Meinetwegen kannst du dann auch mein gesamtes Handy durchsuchen, wenn es dich glücklich macht." Chuyas Nerven waren am Ende. Seine Stimme war ruhig während er versuchte Nobus aufziehenden Sturm irgendwie zu besänftigen doch schien es ihm nicht gelingen zu wollen. "Das ist der Dank dafür, dass ich dich hierher einlade, dich meinen langjährigen Freunden vorziehe? Was heißt hier Szene machen. Ich will doch einfach nur den Abend mit dir genießen!"

Wie paranoid musste ein Mensch sein um von einem vibrierenden Handy so schnell in Rage zu geraten? Chuya biss sich auf die Unterlippe und spürte die ersten verwirrten Blicke anderer Gäste auf sich. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken während seine Schultern sich etwas hochzogen. Er wollte hier weg. Doch wohin? Nach Hause zu gehen wäre in diesem Moment wohl so etwas wie ein Todesurteil. Panik stieg in ihm auf, schnürte ihm die Luft ab und legte sich wie ein massiver Stein in seinen Magen, der alle Wärme aus seinem Körper zog. Seine Hände wurden klamm und er musste sich zusammenreißen, den Tränen nicht nachzugeben, die bereit waren, die Welt zu erkunden. "Nobu es reicht. Ich habe absolut nichts getan. Geh mit deinen Jungs feiern, mir reicht es." - "Wie bitte?!" Chuya spürte wie der Tisch unter seinen Armen, die darauf lagen, sich langsam hob. Nobu war wohl bereit, ihn durch das gesamte Restaurant zu werfen. "Geh! Ich will dich heut nicht mehr sehen. Ich lass mir hier doch nichts unterstellen. Wir klären das zuhause, ich geh bezahlen." So schnell er konnte erhob er sich vom Tisch, griff die Jacke von der Stuhllehne und marschierte durch die Gänge des Restaurants, suchte irgendeine Ecke, in die er sich verkriechen konnte, damit er Nobus Reaktion nicht miterleben musste. Als er beim Kellner vorbeikam bat er darum, dass die Rechnung fertig gemacht würde, er würde sie gleich an der Bar begleichen, doch erstmal verzog er sich in die Toiletten. Versuchte sein Gesicht mit kühlem Wasser zu beruhigen und spürte, dass seine Unterlippe zu bluten begonnen hatte. Nicht viel, doch er schmeckte das Eisen wenn er mit der Zungenspitze über die wunde Stelle fuhr, die vorhin noch nicht da gewesen war.

Mit zitternden Händen griff er nach dem Waschbeckenrand und betrachtete sich im Spiegel. Wenn er eines wusste dann, dass er heut nicht nach Hause konnte. Dass er abwarten musste, bis Nobu sich beruhigt hatte.
Ein paar Minuten blieb er noch so stehen, wartete darauf, dass der Atem und sein Puls sich etwas beruhigten, bevor er langsam wieder den Restaurantbereich betrat. Mit einem vorsichtigen Blick um die Ecke konnte er erleichtert feststellen, dass ihr Tisch leer war, bis auf das Geschirr, das zurückgeblieben war. Für den Moment mochte er wohl sicher sein. Langsam machte er sich auf den Weg zur Bar, entschuldigte sich für die Szene die sie gemacht hatten und bezahlte ihr Essen, bevor sein Blick über die mit Flaschen gefüllten Wandregale glitt. "Und einen Gin Tonic bitte...", bestellte er widerwillig obwohl er sich gerade erst vor dem Restaurantbesuch selbst geschworen hatte, heute keinen Alkohol anzurühren. Er schob sich auf einen der Barhocker und legte sich die Jacke über den Schoß. Stützte die Arme an der Bar ab und legte seine Stirn in die Hände. Er fühlte sich noch immer elend. Als wär ihm zu Heulen zumute.
Aufmerksam saß er am Tisch und hörte den zwei Männern zu, die hier waren, um mit ihm über die nächsten Projekte zu verhandeln. Woher er den Mut hatte, zu sagen, was er für seine Arbeit erwartete, wusste er nicht, wahrscheinlich lag es an der Erziehung. Sein Vater hatte ihm immer wieder eingebläut, was er verlangen konnte, was seine Arbeit wert war und der Musiker dahingehend ruhig mehr verlangen konnte. Der Kunde würde schon zahlen, wozu er bereit war und bei den Verhandlungen war es gewinnbringender, hoch anzusetzen. Es war Arbeit, darauf verstand er was. Wie ein Schalter legte er sein eigentliches Wesen ab, seine Emotionen und funktionierte so, wie es erwartet wurde. Eigentlich so, wie es zu 95 % in seinem Leben war. Andernfalls würde es nur wieder Telefonate nach sich ziehen oder gar den Besuch seiner Eltern, die ihn zurück in die Staaten holen würden. Die Hand über seine Geschäfte zu haben, war für sie selbstverständlich. Geld wuchs nicht auf Bäumen und von nichts, kam nichts, würde sein Vater sagen, denn das Familienvermögen war nicht von selbst entstanden.
Die Hände hatte er auf den Schoß gelegt, um ungesehen an den weißen Hemdsärmeln zupfen zu können. Obwohl er nach außen vollkommen ruhig und gefasst wirkte, ja fast schon ein wenig arrogant, tobte ein Sturm der absoluten Unsicherheit in ihm, den es zu bewältigen gab. Wie gern wäre er geflüchtet, sich irgendwo verkrochen, statt den Männern immer wieder ins Gesicht sehen zu müssen. Daumen und Zeigefinger griffen immer wieder nach dem gestärkten, feinen Stoff, zupfen, zogen, bauten unterschwelligen Stress ab, der ihm sonst die Brust eng werden lassen würde. Keine Schwäche zu zeigen war leicht gesagt, wenn man das Gefühl hatte, kiloschwere Steine würden ihm auf der Brust liegen.
Während die anderen beiden aßen, sich die Köstlichkeiten des Steaks auf der Zunge zergehen ließen, schob der junge Pianist, welcher auf der ganzen Welt bekannt war, das Essen von einem Tellerrand zu nächsten. Er war so angespannt. Zwar hatte er auf Empfängen schon mehr Menschen um sich gehabt, doch konnte er sich bei solchen Dingen in sich zurückziehen, sein Programm abspielen, ohne Unterhaltungen führen zu müssen. Nun hier zu sitzen, die Aufmerksamkeit der Geschäftspartner zu haben, die hin und wieder den Gesprächsfaden aufnahmen, kostete ihn all seine Energie. Und doch zwang er sich, aufmerksam zu sein und verbot seinen Gedanken, abzuschweifen und sich unnütze Dinge zu fragen.
„Das zweite Album zum Film wird sicher noch erfolgreicher werden, als das erste. Die Szenen lassen viel Spielraum für Interpretationen, aber wir können uns auf sie verlassen.“, meinte der rechte vollkommen überzeugt, denn die Zahlen sprachen für sich. „Sicherlich werden sich auch die Konditionen verbessern, sodass wir ihre Prozente erhöhen können. Darüber sprechen wir aber das nächste Mal. Ich denke, ein Anruf sollte dann ausreichen?“, fragte er und suchte Cyrs Blick, der versucht war zu nicken, doch so schnell sollte er nicht zustimmen.
„Weitere 5 % Beteiligung sollten doch kein Problem sein?“, schlug er vor, hielt im selben Moment jedoch schon die Luft an, abwartend, ob er zu weit gegangen war. Die Stille zog sich und Cyr spürte, wie ihm der Schweiß auszubrechen drohte. Er fand seine Forderung für gerechtfertigt. Bis jetzt bekam er 20 % Beteiligung, durchaus gerechtfertigt und doch blickten die beiden Männer, die ihm gegenübersaßen, an.
„Nun, das letzte Wort habe ich nicht, aber es steht im Raum, dass Sie mit 30 % beteiligt werden sollen. Wenn der zweite Soundtrack wieder so erfolgreich wird, stehen sogar für den dritten Teil 35 % im Raum. Aber…“, der Mann mit den kurzgeschnittenen Haaren, stockte, als jemand die gediegene Stimmung mit einem Handschlag auf den Tisch zerstörte. Die Gläser hüpften, schlugen klirrend aneinander, einem Weckruf ähnlich, denn alle Anwesenden blickten zu dem Tisch hinüber, der im Zentrum der Geräusche stand.
Cyr, einen Moment abgelenkt, blickte ebenso hinüber. Lang brauchte er nicht, um die Situation zu erfassen, denn der Linke, der beiden schien, im Boden versinken zu wollen, nicht ähnlich der eigenen Empfindungen, nur waren die Gründe wohl vollkommen andere.
„…aber“, wurde der Faden wieder aufgenommen und der Pianist riss seinen Blick und seine Gedanken von dem Pärchen am nahe gelegenen Tisch, los und blickte seinem Gegenüber wieder an. Natürlich wusste er noch, wo er stehen geblieben war, als er ach schon weiter sprach. „…aber das letzte Wort hat Nakamata, das wissen Sie ja. Es sieht gut aus.“
„Ich werde auf den Anruf Nakamatas warten.“, sicherte Cyr mit einem sehr leichten, unverbindlichen Lächeln zu. Die Geschäfte waren vorerst abgeschlossen, vermutete er, denn der Blonde, dessen Haare recht stumpf vom Färben wirkten, sprach nun von seiner kleinen Tochter, die wohl in eine Klinik eingeliefert worden war. Das Stichwort, um sich ein wenig zu entspannen und vielleicht doch einen Happen zu essen, doch er saß weiterhin da, wie eine gespannte Feder, bereit, jeden Moment aufzuspringen und aus dem Lokal zu verschwinden. Weg, nur weit genug weg, wo er sich vor all den Menschen verkriechen konnte. Ab Besten in die Arme Sevs.
Eine Bewegung riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah, wie einer der Beiden an ihnen vorbeiging. War da Blut an dessen Lippen? War ein Schlag erfolgt? Flüchtig sah er sich um, da aber alle noch mit ihrem essen beschäftigt waren, schien sich kein Eklat ereignet zu haben. Doch wie sollte dann… Cyr unterdrückt ein Verziehen der Lippen. Er sollte doch wohl am besten wissen, dass es Wunden gab, die man nicht gleich beim ersten Blick sah. Seine Anspannung nahm zu. Irgendwas rührte in ihm, was ihn an längst vergessene Zeiten erinnerte. Seine kleinen Brüder. Schläge hatten sie nie erledigen müssen, aber es brauchte sie nicht, um jemanden zu unterdrücken. Ein Beschützerinstinkt, der ihn an einen Cris denken ließ, der vor Trotz und Ungerechtigkeit weinte, dazu der Jüngste von ihnen drei, der auf ein Internat geschickt wurde, nicht wissend, warum er gehen musste, die anderen aber nicht.
Ihm schnürte sich der Hals zu, raubte ihm die Luft, dass er schneller handelte, als es typisch für ihn war, schneller, als er es hätte aufhalten können, als sein Denken die Gelegenheit hatte, sich einzuschalten und ihn aufzuhalten.
„Entschuldigen Sie mich bitte!“, murmelte er gerade so laut, dass die beiden auf ihn aufmerksam wurden, ihn anblickten und nickten. Nur wartete er diese Reaktion nicht ab, sondern begab sich zu den Toiletten. Erst als er vor der Tür stand, das Bild des Männchens sah, bemerkte er sein Tun, doch nun war es zu spät. Tief atmete er durch, raffte alles zusammen, was er irgendwo an Mut in sich fand und drückte die eiskalten Hände, aus denen jedes Blut gewichen war, gegen die Tür.
Sie schwang nach drinnen auf und Cyr konnte gerade so einen Schritt nach hinten machen, denjenigen vorbeilassen, dem er eigentlich hatte folgen wollen. Ein zweites Mal an diesem Abend blickte er ihm nach, keinen Deut beruhigt. Der Ausdruck in dessen Augen war… Nicht richtig. Der Situation zu folge verständlich, aber allgemein nicht richtig.
Sich an seine Begleitung erinnernd, ging er langsam zum Tisch zurück und sah, als er sich gesetzt hatte, dass der junge Mann sich an der Bar niedergelassen hatte.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, erkundigte man sich bei ihm, doch er lächelte, vollkommen selbstverständlich, die Bedenken des anderen zerstreuend. Perfektion darin, etwas vorzuspielen, was nicht war. Wie immer hatte er darin Erfolg, denn man lenkte das Gespräch nach einem Nicken wieder auf unverfängliche Dinge.
So ging es den Rest des Abends, bis man die Rechnung verlangte.
Es schien ein ganzes Gebirge von dem Pianisten abzufallen, als sich die Männer mit dem Versprechen, sich wieder bei ihm zu melden, verabschiedeten. Sie hatten die Rechnung bezahlt. Spesen, wie sie meinten. Also nichts, worum er sich kümmern musste, daher erhob auch er sich, verschwand kurz im Bad, wo er sich die Hände wusch, ehe auch er zur Bar kam.
Eigentlich hätte er die Sache auf sich beruhen, Abstand wahren und den Mann sich selbst überlassen sollen, doch er erinnerte ihn wirklich an Cris, wie er damals immer in seinem Zimmer gehockt hatte. Einsam. Allein. Verlassen, abgesondert von der Welt, wie er sich selbst oft fühlte. Wahrscheinlich war es nur eine Projektion seiner eigenen Gefühlswelt, die ihm was vorgaukelte, was nicht da war.
Er bestellte sich einen Cocktail, einer von diesen, die verschiedene Schichten hatten. Irgendwie fand er diese ebenso interessant, wie lustig.
„Kennst du Ironman?“, fragte er und spürte einen eisigen Stich im Magen. Was für einen Unsinn rede ich hier? Hier saß nicht sein jüngerer Bruder, dem er nun eine Geschichte erzählen sollte. Die Erkenntnis kam nicht allein, denn es folgte eine weitere. Das letzte Mal, als er Cris von seinem Lieblingsactionhelden erzählt hatte, war gute 10 Jahre her, wahrscheinlich mehr. Wie gern wäre er nun im Boden versunken. Man sollte ihn wirklich nicht auf Menschen loslassen. „Entschuldige bitte.“, murmelte er um einiges leiser, nahm das Getränk entgegen und schloss die Finger darum.
Nachdem er Platz genommen hatte, atmete Chuya tief durch. Sehr tief. Hielt die Luft für einige Augenblicke in den Lungen gefangen, bevor er sie wieder freiließ und spürte, wie zumindest für einen kurzen Moment die Anspannung seinen Körper verließ, bevor sie wiederkam und ihn daran erinnerte, was gerade erst passiert war. Und so tat er nun das, was vermutlich jeder in der Situation getan hätte: Er ließ die Geschehnisse Revue passieren. Analysierte jede Minute ihres Gesprächs und grübelte darüber nach, was er hätte sagen können um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Was hätte er besser machen können, was hätte er vermeiden müssen. Er, er, er. Nicht Nobu. Warum eigentlich? Weil er ihn nicht kontrollieren konnte, weil er nicht vorhersagen konnte, wie jener reagierte. Alles was Chuya tun konnte war sich selbst kontrollieren, und verbiegen um irgendwie der Situation angemessen zu reagieren und ihr Leben leichter zu gestalten. Doch was machte er sich da vor? Tief in sich wusste er, dass nichts was er gesagt hätte Nobu ruhig gestimmt hätte. Nichts hätte das verhindern können außer präventiv das Handy auszuschalten oder Zuhause zu lassen. Und selbst dann hätte hätte man etwas gefunden über das man hätte streiten können. Eine Sekunde zu lang den Kellner betrachtet, ein unbedachtes Wort, ein unkontrolliertes Zucken der falschen Gesichtsmuskeln, die man falsch deuten konnte. Egal was, Nobu liebte es, sich aufzuregen und Chuya spüren zu lassen, dass er die Kontrolle über ihn hatte. Doch bis Chuya das akzeptierte würde eher die Hölle gefrieren. Er hielt fest an dieser Beziehung. Weil sie alles war, was er noch besaß. Irgendwie musste er sie funktionsfähig machen.

Den Kopf in Händen betrachtete er abwesend den Drink, den er sich vor gefühlten Ewigkeiten bestellt hatte. Das Eis darin war fast vollständig geschmolzen, Perlen hatten sich am kalten Glas gebildet, waren an jenem hinabgeronnen und hatten eine kleine Pfütze auf dem Tresen gebildet während Chuya in Gedanken versunken einfach nur versuchte zu verstehen was geschehen war und einen Weg zu finden, es ungeschehen zu machen.
Das sich jemand zu ihm gesellt hatte bemerkte er erst, als Worte an sein Ohr drangen und das Karousel in ihm kurz zum Halten brachten. Was?, hallte es leise durch seinen Kopf während er keinen Ton von sich gab und versuchte zu verarbeiten, was gerade gesagt worden war. Hatte er sich verhört?
Langsam hob er den Kopf und drehte ihn langsam in Richtung der Worte. Betrachtete den jungen Mann neben sich schweigend, während er in der absoluten Verwirrtheit über diese Situation ein Blinzeln nicht vermeiden konnte.
Und schließlich verzogen sich seine Lippen zu einem Schmunzeln, das er zu unterdrücken versuchte. Und je mehr er es tat, desto breiter wurde es, bevor ein Kichern über seine wunden Lippen rollte, bevor er sich verlegen die Hand vor den Mund hielt. "Entschuldigung, bitte nicht falsch verstehen. Ich war so in Gedanken ... das war das letzte was ich gerade erwartet hätte zu hören", versuchte er sein Lachen zu erklären. Schließlich wollte er nicht, dass man es falsch verstand oder geradzu beleidigend auffasste. Es war eher die Absurdität der Worte in dieser Situation und seine Angespanntheit, die dieses Lachen hervorgebracht hatten und während Chuya es vor sich und dem anderen erklärte spürte er wie er ... wie er sich beruhigte. Wie die Ablenkung Wirkung zeigte, obgleich er bezweifelte, dass sie gewollt war.
Cyr schmunzelte kaum merklich vor sich hin. Absicht war es nicht gewesen, ihn aus den trüben Gedanken zu reißen, aber wohl die einzige Möglichkeit, ehe er sich darin verlor. Wie er darauf kam? Nun, er sah es dem fremden an, wusste zeitgleich, wie es war, wenn die Spirale einmal begonnen hatte. Stunden konnten vergehen, ehe er aus den Irrwegen seiner Gedanken wieder heraus fand. Meistens dann, wenn er zu einer Klinge griff und sich selbst verletzte. Dann stoppte das Karussell und er spürte Erleichterung, dass es zu Ende war und er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Erleichterung, dachte er bitter und verdrängte den Gedanken gleich wieder, ehe er sich daran erinnerte, wie süß ein Schmerz sein konnte, wie befreiend.
Was den anderen bewegte und beschäftigte, konnte er nur vermuten und doch presste er vorerst die Lippen zusammen. Nun mit vermeintlich klugen Ratschlägen um die Ecke zu kommen, war das Letzte, was er wollte. Viel mehr ekelte ihn ein solches Verhalten, denn niemand wusste, wie es in jemanden aussah, woher nahmen all die Menschen sich also das Recht, darüber zu urteilen und meinen, etwas besser machen zu können, als man selbst? Manchmal halfen viel einfacher Sachen, die scheinbar selbstverständlich waren und doch so wichtig.
Vorerst wollte er dem Fremden einfach Gesellschaft leisten. Wenn er reden wollte, was Cyr bezweifelte, konnte er es tun. Wenn nicht, wäre es auch vollkommen in Ordnung. Manchmal half es einfach, nicht allein zu sein.
„Tu ich nicht.“, versicherte er ihm. Es machte ihm im Moment nichts aus, was der andere dachte, es spielte keine Rolle. Das Heben seiner Hand quittierte er, kommentierte er aber nicht. Selbst wusste er, wie es war, unzählige Macken zu haben. Die Worte lagen ihm auf den Lippen, doch er unterdrückte sie, damit er nicht wieder an die trüben Gedanken dachte, die unweigerlich wieder aufkommen würden. Den Moment der Ablenkung musste er nutzen, auch wenn er jetzt, da er es geschafft hatte, nicht wusste, wie. Cyr, der sonst alles bis zum Erbrechen durchplante, blickte ein wenig überfordert und war froh, als sein Cocktail kam und er sich mit langen schlanken Fingern, die er darum legte, festhalten konnte.
„Meine jüngeren Brüder hörten gern Geschichten über ihn.“, gab er nun zur Erklärung ab. Nun über Ironman eine dieser Millionen Geschichten zu erzählen, die er sich in all den Jahren ausgedacht hatte, war absurd. Sie waren beide erwachsen, aber bereit wäre er, wenn der Fremde wollte. Langsam und geschickt drehte er das kleine Glas zwischen den Händen, auf jeder Farbe hatte er je zwei Finger. Nur gut, dass es so viele Farben nicht waren.
„Mein Name ist Cyr.“, stellte er sich vor, nicht daran denkend, dass ihn ein ¼ des Landes sicher kannte. Aber davon auszugehen, dass jeder klassische Musik hörte, wäre absurd. Er war niemand, der auf seinen Status beharrte, schließlich war er auch nur ein normaler Mensch.
Noch immer war er aufgeregt, ihm schlug das Herz bis zum Hals, was nicht besser wurde, als er sich visualisierte, dass er sich mit einem Fremden unterhielt. Dass er auf diesen zugegangen war. Plötzlich wurde ihm der Hals trocken. Wie war er denn in diese Situation geraten und das auch noch freiwillig? Nüchterner konnte er nicht sein!
Auch wenn die Worte ihn aus dem Konzept gebracht hatten, als Chuya das Gesicht des jungen Mannes neben sich erblickte, überkam ihn ein eigentümliches Gefühl. Als hätte er diese Züge schonmal gesehen. Irgendwo. Doch wo? Er sah nicht so aus als würde er das Sukoshi himitsu frequentieren - wobei man da selten wirklich nach dem Aussehen gehen sollte - und wirklich viel außerhalb war Chuya nie gewesen. Also konnte er fast mit Gewissheit sagen, dass er dieses Gesicht nicht im letzten knappen Jahr gesehen hatte. Es musste davor gewesen sein. Doch wie sollte er dem Typen in den USA begegnet sein, so viel Zufall konnte es nicht geben. Er musste den Kerl verwechseln, anders ging es gar nicht. Darauf, dass Chuya ihn vielleicht auf irgendwelchen Plakaten oder Magazinen gesehen haben könnte, kam er gar nicht. Einer prominenten Person spontan zu begegnen schien für ihn zu abwegig. Besonders in einem so einsiedlerartigen Dasein.

"Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, ich kenne ihn. Nicht persönlich, aber ich habe die Filme gesehen", scherzte er leicht und schenkte dem jungen Mann ein aufmunterndes Lächeln. Dank seines Jobs konnte Chuya Körpersprache recht gut lesen, sodass ihm durchaus auffiel, dass der andere ein wenig aufgeregt wirkte. Warum das so war, konnte er nicht sagen. Vielleicht war es einfach nur, weil sie sich fremd waren und er Chuya angesprochen hatte - nicht jeder konnte so selbstverständlich auf Fremde zugehen wie der Barkeeper und auch dann war immer ein kleines Bisschen Aufregung mit dabei, wie der Gegenüber reagierte. Wenn man so viele Interaktionen nicht gewöhnt war, konnte das Gefühl durchaus auch stärker sein und an die Oberfläche treten, bemerkt werden. Es störte ihn nicht, er hatte nichts als Respekt vor Leuten, die sich ihren Schwächen oder Ängsten stellten. Daher das Lächeln. Vor ihm hatte man nichts zu befürchten.

"Geschichten?", fragte er und neugierig neigte sich sein Kopf ein wenig. "Ach, es gibt ja Comics zu ihm, richtig?", fügte er noch an, sich nicht sicher, ob das überhaupt gemeint war. Aber andere Geschichten zu Iron Man kannte er nicht - nicht, dass er die Comics kannte, die Filme hatte er auch nur geguckt, weil Nobu sie gut fand. Aber er musste zugeben, schlecht waren sie nicht. Besser als manch andere Action Filme, soviel stand fest.
"Freut mich, wirklich! Ich bin Chuya", entgegnete er auf die Vorstellung des anderen und dessen Name ließ ihn nochmals kurz überlegen, ob es ihm irgendwie weiterhalf, doch schien die Erinnerung zu tief im Gedächtnis vergraben, um sagen zu können warum ihm das Gesicht bekannt vorkam.
Erleichterung durchströmte ihn, die daher rührte, dass er weder eine Geschichte zum Besten geben musste, die er sicher auf Lager gehabt hätte, noch, dass man ihm an den Hals ging, weil er den Fremden angesprochen hatte. Die Szene war alles andere als nett gewesen, so könnte man leicht darauf schließen, dass die betreffenden nicht darauf angesprochen werden wollten und doch saß er hier. Mit einem anderen zu sprechen, weil er den ersten schritt getan hatte, hätte er sich nie träumen lassen. Sev war schuld, eindeutig, vorher wäre er mit Scheuklappen nach draußen gerannt, kaum das der Termin zu ende war, statt Gespräche zu suchen! Niemand der ihn kannte, würde es ihm glauben.
„Es gibt welche, ja, aber die meine ich nicht. Eher selbst erfundene.“ Cyr hatte noch heute seine Brüder im Sinn, wie sie ihn vor ihm hockten, ihn anstarrten und jedem Wort lauschten, welches er von sich gab, während er von Ironman berichtete. Sie hatten nie davon genug bekommen können und ließen für seine Geschichten alles stehen und liegen. Jede wunde, jedes Weinen, ja jeder Schrecken war dann vergessen. Ach, wie er die beiden vermisste… Nun waren sie alle drei in der Weltgeschichte verstreut. Cyr konnte nicht mal sagen, ob die Nummern, die er hatte, noch stimmten…
Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu, ließ seinen Puls ansteigen und erfüllte ihn mit einer unerklärlichen Angst, die er nicht in Worte fassen konnte. Es ging sogar so weit, dass er das Gefühl hatte, die Realität würde sich ein wenig verschieben, aber das war Unsinn. Blanker Unsinn, sagte er sich und schloss die Augen, um sich wieder zu sammeln. Er konnte und wollte der aufkommenden Panikattacke nicht nachgeben. Nur weil er nun das Gefühl hatte, der einzige Menschen auf der Welt zu sein, würde es von einem Moment auf den anderen nicht so sein. Das Leben ging weiter. Die Menschen um ihn herum existierten weiterund seinen Brüdern ging es gut. Sie waren erwachsen und wesentliche Selbständiger, als er! Kein Grund zur Panik. Das Glas vor ihm kam ihm gerade recht, doch statt es hinunterzukippen, wie es normale Menschen tat, nippte er daran, schmeckte das brennende Gefühl auf der Zunge und bestrafte sich für die unnötigen Gefühlsausbrüche, die sich in ihm abspielten.
„Sie waren damals zu jung zum Lesen.“, sagte er rau, was an dem Alkohol lag. „Ich erfand irgendwelche Geschichten und lenkte sie dann von ihrem Problem ab.“, erklärte er nun mit einer etwas festeren Stimme, stutzte dann aber. „Sie konnten schon lesen. Natürlich konnten sie das, als sie die Filme sahen.“ Leicht schüttelte er den Kopf. Sicher waren sie das, wenn sie die Filme sehen konnten. „Bücher waren wichtiger als Comics. Wir sollten richtige Bücher lesen, statt Comics.“ Daher die Geschichten, weil ihnen die Comics verboten waren, wobei Cris sicher den einen oder andere besessen hatte. Der Rabauke.
Cyr machte sich durch das Missgeschick selbst verlegen. Wärme stieg ihm in die Wangen.
Chuyas Augenbrauen hoben sich. "Erfundene?", wiederholte er das Gesagte. Er hatte nie allzu viel Fantasie besessen - zumindest nicht in solch kreativem Umfang. Eher in der Küche oder an der Bar. Umso faszinierender waren Leute wie dieser Cyr, wenn sie aus dem Stehgreif ganze Geschichten erfinden konnten. "Das ist beeindruckend...", fügte er also an, doch als er den Blick hob konnte er gerade noch die Veränderung in dem jungen Mann erkennen, irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Vielleicht zu bedrücken? Nein, so weit wollte er sich nicht aus dem Fenster lehnen, immerhin hatte er keine Ahnung was in dem anderen vorging, also wollte er sich zu keiner Vermutung erdreisten, die ihn in Fettnäpfchen treten lassen könnte. Chuya wusste es besser. Und dennoch war es auffällig, wie eine Aura die Cyr umgab und sich verändert hatte. Manchmal waren Stimmungsumschläge für andere fast fühlbar, wenn sie stark genug waren ...

Chuyas Blick verfolgte das Glas, das angehoben und an fremde Lippen gesetzt wurde. Sollte er es ansprechen? Doch was für ein Recht hatte er? Andererseits ...
Gerade wollte er ansetzen, fragen ob alles in Ordnung sei, da schien sich der andere gefangen und setzte das begonnene Gespräch fort, auch wenn er ein wenig aus dem Konzept schien. Vielleicht seinen verborgenen Gedanken geschuldet oder was immer ihn kurz so sehr beschäftigt hatte.

"Damals hab ich viel zu gern Jugendmagazine gelesen, diese billigen Dinger, die voll mit Gerüchten und Geschichten über junge Talente, Schauspieler und all solchem unnützen Zeug waren. Meine Mutter hat sich immer tierisch darüber aufgeregt, dass ich mich nicht kulturell weiterbilde mit ordentlichen Romanen. So sehr, dass sie irgendwann meine komplette Sammlung an die Nachbarschaft verschenkt hatte." Irgendwie brachte ihn die Erinnerung zum Lachen, auch wenn er damals als Jugendlicher ziemlich schockiert gewesen war. Im Nachhinein jedoch konnte er sie verstehen. Im Nachhinein konnte man seine Eltern oft besser verstehen, weil man ein Alter erreicht hatte, in dem ihre Handlungen und ihre Aussagen mehr Sinn ergaben. Ruhm war vergänglich, viele der Leute aus den Magazinen waren innerhalb von Jahren irrelevant geworden. Manch ein Roman hingegen konnte einen Jahrzehnte begleiten und das eigene Leben, die eigene Denkweise bereichern.

"Hör mal ...", begann er schließlich, als er sich nach dem Lachen gefangen und einen Schluck von seinem eher wässrigen Gin Tonic genommen hatte. "... danke. Mag blöd klingen aber ... mein Abend lief nicht so gut. Dass du mich ansprachst, hat mich auf andere Gedanken gebracht!", gab er offen zu. Dafür, dass er sich vor nichtmal 10 Minuten so elend gefühlt hatte, dass er am liebsten irgendwo in eine Ecke gekrochen wäre um sich die Augen aus dem Kopf zu heulen, hatte sich sein Gemüt doch ein wenig gelichtet - einzig wegen dieser Frage nach Iron Man.
Cyr blinzelte ein wenig verwundert, aber auch verwirrt. Er öffnete die Lippen einen Spalt, schloss sie aber kurz darauf wieder. Sprachlosigkeit machte sich in ihm breit, ließ ihn verlegen werden, sodass er das Glas zwischen seinen Finger drehte, ein Versuch, Zeit zu gewinnen um die passenden Worte zu äußern. Was sollte er sagen?
„Eigentlich nicht... Wenn man zwei neugierige Brüder hat, die immer wissen wollen, wie es weiter geht, ergibt es sich.“, überlegte er leise und schmunzelte dabei leicht, als er an sie dachte. Grade Cris war dabei die treibende Kraft gewesen, Ced lauschte oft nur gespannt und fragte ab und zu nach.
Sein Blick hob sich, begegnete dem des anderen jedoch nicht. Anderen in die Augen zu sehen, schaffte er nicht, daher hatte er sich angewöhnt, immer knapp an ihnen vorbei zu sehen, grade so, das man es kaum bemerkte. Woher diese Macke kam, wusste er selbst nicht, auch nicht, woher er Angst hatte oder was er erkennen konnte, wenn er andere ansah.
Und doch flackerte Interesse in seinem Blick auf. Solche Zeitungen hatte er immer mal gesehen, aber nie einen Blick hinein geworfen. Sein Weltbild war einfach ein ganz anderes. „Sie verkaufen Zeitungen mit Gerüchten?“, fragte er verwundert, bemerkte aber im gleichen Moment, wie weltfremd und naiv es klang. Und doch... Menschen bezahlten, um Gerüchte zu erfahren? Das es auch über ihn solche Berichte gab, wusste er, dachte aber in diesem Moment nicht daran.
Bei dem 'Hör mal...?', zuckte er eicht zusammen, hob den Kopf, als hätte sein gegenüber ein Kommando gegeben, welches Cyrs Aufmerksamkeit verlangte. Intuitives verhalten, welches er nicht beeinflussen konnte. Sein Vater hatte immer sofortige Aufmerksamkeit verlangt, wenn er sprach, so reagierte er auch, als das er es als 'unwichtig' einstufte. Aber das, was folgte, ließ ihn sich wieder halbwegs entspannen und schmunzelnd nicken.
„Keine Ursache. Ich komm nicht sooft unter Menschen, daher bin ich auch froh, das es noch so nett verlaufen ist.“ Begegnungen mit Menschen verursachten eher Anspannung, auf der Hut sein, Stress, sodass er sich anschließend von den Treffen vorkam, als wäre er den ganzen Tag wandern gewesen, wo er Rechenaufgaben hatte lösen müssen; unter Zeitdruck. Jemandem zu erklären, wie er sich danach fühlte, war unmöglich. Wer ihn gut genug kannte, sah es ihm an, so aber versteckte er es hinter seiner Maske, die er sich nicht nehmen lassen wollte.
„Vielleicht erzähl ich dir ja mal irgendwann eine Geschichte von Ironman.“, bot er schmunzelnd an. „Aber es freut mich, das ich dir helfen konnte.“ Cyr stutzte. „Ich habe mich total blamiert... die Magazine, die du meinst... jetzt dämmert es mir...“ Seine Gesichtsfarbe wurde verräterisch rot. „Klatschpresse, natürlich kenne ich diese...“ Er nahm schnell einen Schluck aus seinem Glas, um die aufkeimende und mit voller macht erblühende Peinlichkeit zu ertränken.
"Ich hatte leider nie viel Fantasie, ich könnte sowas gar nicht, daher finde ich es doch ziemlich beeindruckend", bestätigte er seinen Standpunkt nochmals, auch wenn sein Gegenüber wohl nicht der Meinung war. Aber irgendwie war es ja normal, dass Personen das, was sie konnten, eher runterspielten, statt Komplimente dafür anzunehmen, daher ging Chuya auch nicht weiter drauf ein, wollte ihm diese Ansicht die er hatte, nicht aufdrängen. Er schien so schon etwas unsicher oder eingeschüchtert, seiner Körpersprache nach zu urteilen, da wollte Chuya nicht noch einen drauflegen und die Situation noch schlimmer machen. Es schien sich ja auch nochmals durch die Worte des jungen Mannes zu bestätigen, als er meinte, er käme nicht oft unter Menschen.
"Oh, wie kommts? Nicht so der Typ fürs Ausgehen oder einfach keine Zeit?", fragte Chuya neugierig, hoffend, dass es nicht zu persönlich war. Die meisten hätten einfach wahrheitsgemäß geantwortet, aber es gab ja durchaus auch jene, die sozial nicht so interessiert waren, die bereits über solche Fragen stolperten und er fürchtete immer schnell, dass er anderen versehentlich auf die Füße trat, egal ob es Gründe dafür gab oder nicht.

Der Blonde blinzelte, als Cyr stockte. Und dann begann er zu lachen. "Nein, nein, nein, denk das bloß nicht. Ich hätt mich auch einfach besser ausdrücken können. Mir fiel das Wort nicht ein, also hab ichs umständlich umschrieben. Das tut mir leid!" Wahrscheinlich war auch das Lachen ein Fehler, doch er konnte nicht anders. Größtenteils lachte er über sich selbst, darüber, dass ihm das Wort nicht eingefallen war, weniger darüber, dass der andere meinte, sich blamiert zu haben - wobei Chuya das nicht einmal dachte.
Doch das Lachen blieb ihm ziemlich schnell im Halse steckne, als er jemandem im Augenwinkel sah. Jemand, der auf ihn zukam.

Nobu schien es sich anders überlegt zu haben und kam gerade im wohl unpassendsten Moment zurück. Seine Miene war finster, doch als er erblickt wurde, lichteten sich die Züge, ein Lächeln auf den Lippen, als er an die beiden herantrat.
"Chuya, es tut mir leid. Wirklich. Lass uns den Abend verbringen. Nur du und ich", sprach er und wendete sich dann dem Fremden zu, der sich zu Chuya gesellt hatte. "Tut mir leid, dass ich dir den Gesprächspartner klauen muss, aber ich hoffe, dass du noch einen angenehmen Abend hast." Nach außen hin wirkte alles absolut harmlos. Doch das war es nicht. Chuya sah es in den Augen seines Partners.
Mit einem entschuldigenden Lächeln zog er sein Portemonnaie aus der Tasche und zahlte nicht nur sien Gin Tonic sondern beglich auch für Cyr die Rechnung mit. "Tut mir wirklich wirklich leid. Ich hoffe, dass du noch einen schönen Abend hast. Ich würde mir gern einmal eine der Iron Man Geschichten anhören!" Kurz verbeugte er sich zum Abschied, bevor er Nobu aus dem Restaurant folgte. Hinein in die wohl schlimmste Nacht seines Lebens.