Wind Beyond Shadows

Normale Version: Maybe today we're going to talk about the pain of the soul.
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Charlotta Fraser

Das Wochenende hing ihr immer noch im Kopf nach. Wer hätte gedacht, dass dieser Auftrag im Museum sich so entwickeln würde und sie wirklich mit einem Wolf auf Tuchfühlung ging? Wobei es definitiv mehr als nur Tuchfühlung war. Wie das geschehen ist, verstand Lotta selbst nicht so ganz. Es war etwas, was sich durch die Gespräche entwickelte und dann setzte der Verstand aus, sie wollte es nur fühlen und genießen. Es hatte sich so unbeschreiblich gut und richtig angefühlt und der Gedanke, ihn wieder zu sehen, ließ ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen erscheinen. Es war merkwürdig, mit einem sanften Lächeln zur Therapie zu gehen. Normalerweise war der Gang zur Therapie schwerfällig.

Mit ihrem Therapeuten kam sie ganz gut klar. Er war schon in Ordnung. Sie hatte ihn aufgesucht, weil der Tod von Phil ihr doch sehr Nahe ging und es ihr schwer gefallen ist, damit zurecht zu kommen. Es war schwer gewesen, zu verstehen das er nie wieder da sein würde und, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war ihr Aufbruch nach Japan auch dem Tod von Phil verschuldet. Neuanfang in einem Land, wo sie vor einem Jahrzehnt bereits mit Phil gelebt hat. Bis heute ging ihr der Tod ihres Bruders Nahe und es gab da noch so einige andere unausgesprochene Dinge, die unter der Oberfläche brodelten und die sie immer wieder verdrängte. Auf dem überweisungsschein, für den Therapeuten, waren unter anderem Schlafstörungen, innere Unruhe, Aggressionsprobleme und Paranoia eingetragen.

Darüber zu reden konnte sicher gut sein und bisher wirkte der Kerl professionell in seinem Gebiet. Die Wölfin trug bei ihrer Therapie immer lockere Kleidung. Jogginghose und ein Oversizepulli. Wozu sich auch aufdonnern? Er war ihr Therapeut und sie sollte sich wohlfühlen. Außerdem gab der Oversize Pulli ihr das Gefühl, sich irgendwie in einer Höhle zu befinden, wenn es doch etwas zu schmerzhaft wurde. An ihrem Hals sah man noch alle Hinweise darauf, dass sie das Wochenende nicht alleine war. Diese kleinen verräterischen Knutschflecken und kleine Bissspuren, die an einigen Stellen auf ihrer hellen Haut schimmerten. Warum diese auch verstecken? Sie schämte sich nicht dafür, es gab keinen Grund sie zu bedecken oder ähnliches. Außerdem fühlte es sich besonders an, diese kleinen Male von ihm zu tragen.

Ihre rotbraunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Jeden Montag aufs Neue. Ein Ablauf, eine Routine, an sie sie sich gewöhnte. Immerhin war ihre Chefin dem Ganzen aufgeschlossen gegenüber und trug sie für Montags erst am Nachmittag in den Dienstplan ein. Sonst könnte sie hier nicht so regelmäßig auftauchen. Diese Regelmäßigkeit sorgte dafür, dass sie immerhin Vertrauen zueinander aufbauten. Die ersten 4 Sitzungen war kaum was aus Lotta raus zu bekommen. Allgemeine Daten waren okay und dann verschloss sie sich wieder. Aber es wurde von Mal zu Mal besser, sie schaffte es sich diesem Typen anzuvertrauen und ihre Gedanken auszusprechen. Stück für Stück… Bei Yul war es was anderes. Es war eine andere Situation, lockerer und ungezwungener gewesen. Hier bei ihrem Therapeuten ging es um schmerzhafte Dinge, um Erlebnisse die einen geprägt und zerstört haben. Vor der Wohnung hielt sie an, atmete einmal durch. Kurz sah sie auf ihr Handy, suchte Yuls Nummer und überlegte kurz, ob sie ihm schreiben sollte. Noch während sie überlegte, ließ sie das Handy wieder in ihre Tasche gleiten und betätigte die Klingel, damit ihr Therapeut sie herein lassen konnte.

Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie hier richtig selbstsicher her ging. Sie war Selbstbewusst, keine Frage. Dennoch war dies ein Ort, bei dem sie sich noch ein wenig verloren fühlte. “Guten Morgen.” kam es ruhig von ihr und sie ließ sich nieder, zog sich ihren Mantel aus und nahm den Schal ab, den sie trug weil es draußen doch etwas kühl war. “Ich hoffe doch sehr, dass sie heute einen guten Montag haben werden.” ergänzte sie und verschränkte zunächst die Arme vor der Brust, während sie sich weiter in den Sitz zurück lehnte, bis sie die Lehne in ihrem Rücken spürte. “Beginnen wir wieder mit den üblichen Fragen oder lassen Sie sich was neues einfallen?” hakte sie nach. Die letzten Male waren es Fragen, wie denn die Woche war und wie es ihr ging das, womit es anfing. Ein wenig leichter Smalltalk.
Nachdenklich sass Mikail am geöffneten Fenster auf dem Fensterbrett und sah hinaus. Eben noch hatte er die Akte seiner nächsten Patientin in der Hand gehabt und war über seine Notizen mit den Augen gewandert. Eine junge Lykae, zumindest entsprechend ihres Geruchs. Selbst als er sie das erste Mal vor sich sitzen gehabt hatte, war ihm dieser Geruchs sofort aufgefallen. Das Wölfische schlug sich eben selbst bei solchen Kennenlernen durch. Ob sie ahnte, dass er es wusste? Vielleicht. Es gab bereits genügend Momente bei denen sie es hätte an seinen Reaktionen bemerken können. Dennoch liess Mik sie. Er würde warten, sich gedulden, bis sie von allein das Vertrauen zu ihm gefunden hatte, um selbst das ihm anzuvertrauen.

Unwesentlich war es für die Therapie nicht. Immerhin sagte man den Lykae so einige Besonderheiten zu. Extreme Loyalität gegenüber ihren Familien gehörte ebenso dazu, wie eine unkontrollierbare Aggressivität. Zumindest wenn man von den männlichen Angehörigen dieses Volkes ausging. Doch war es ihm bereits zu Ohren gekommen, dass ebenfalls die weiblichen Angehörigen sich mitunter sogar mit Drachen anlegten, wenn es denn sein musste und sie ihr Revier oder gar ihre Familie verteidigen mussten. Geschichten, die man sich erzählte, doch leider keine Fakten. So konnte er lediglich auf seine eigene Erfahrungen zurückgreifen.

So sollen die Lykae und Fae sich nicht unähnlich sein in ihrem Verhalten, zumindest ging Mik davon aus, wenn er vorherige Treffen mit einer Lykae betrachtete. Amüsiert schnaufte er leise und rieb sich das kantige Kinn, als er an die kurze Liaison dachte, die ihm beinahe den Kopf gekostet hatte. Eines konnte er zumindest mitnehmen aus dieser Zeit – mit hochrangigen Lykae, egal ob den männlichen oder den weiblichen, legte man sich besser nicht an.

„Schlafstörungen, innere Unruhe, Aggressionsprobleme und Paranoia…“, murmelte er sich selbst in den Bart und beobachtete die junge Frau, die nun den Gebäudekomplex von der Straße her betrat.

Aufgrund der bisher geäußerten Traumata die sie durchlebt hatte, war es ein Wunder, dass diese Liste so kurz war. In seinen Augen schlug sie sich erstaunlich gut. Gerade nach dem Tod ihres Bruder hatte er die Sorge, dass sie sich nicht mehr fangen würde. Zu seiner Überraschung nahm sie eine neue Arbeit an, kämpfte sich Stück für Stück in das normale Leben der Menschen, was ihr sicherlich nicht leicht gefallen war. Beachtliche Schritte, wie auch der Abbruch alter Brücken durch den Umzug hierher. Hoffentlich…war es nicht zu viel auf einmal. Sie jagte einem Gespenst nach, dass sich nicht so leicht einfangen liess. Glück und Frieden. Seelenfrieden.

Er liess seine Wohnungstüre angelehnt, nachdem sie unten geklingelt hatte und kehrte zu seinem vorherigen Platz langsam zurück. Dabei schnappte er eine Tasse mit schwarzen Kaffee auf und nippte daran.

„Guten Morgen.“, entgegnete er ihr freundlich und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Schreibtisch. „Komm rein.“, war er bereits beim letzten Mal beim *Du* gelandet.

Wohl schien sie das vergessen zu haben. Mit einem ruhige Handgriff schloss er das angrenzende Fenster.

„Nun. Ich habe meinen Kaffee, es ist ein kühler und trüber Tag und ich habe dich zu Besuch.“, schmunzelte er sie an, während er ihr die Tasse entgegenhob.

„Ich glaube, es ist ein guter Morgen.“ , erwiderte er ehrlich, bevor sie es noch tun würde, in seinem typischen zynischen Humor.

Bei ihrem Vorwurf, dass er stets die gleichen fragen stellen würde, schob sich eine dunkle Augenbraue hinauf.

„Nein.“, weiteten sich leicht seine Nasenflügel und er neigte ein wenig den Kopf zur Seite, während seine Augen sich leicht verengten.

Waren das etwas Bissabdrücke an ihrem Hals? Amüsiert schnaufte er, ohne das ein Lächeln folgte. „Kaffee?“, bot er ihr an, noch während sie sich in dem Ledersessel gemütlich hinfletzte. Zumindest etwas Neues.

„Ich nehme an, dass du einen richtig guten Morgen hast, zumindest, wenn man von dem kleinen Kunstwerk an Blessuren an deinem Hals ausgehen mag.“, schob sich nun seine linke Seite hinauf.

„Aber back-to-the-roots, wie war dein Wochenende. Ich glaube, du bist sicherlich schon ganz gespannt darauf etwas zu erzählen.“, der Geruch der ihr anhaftete war ihm nicht entgangen.

Ein fremder Geruch und doch ähnlich wie ihrer. Ein Lykae…hat sie etwas? Neeeeeeeeeeeeein!

Charlotta Fraser

Langsam folgten ihre Augen seinen Bewegungen, musterte das geschlossene Fenster und atmete einmal durch. Ein geschlossenes Fenster war etwas um sich ein wenig sicherer zu fühlen, dass die gesagten Wörter nicht nach draußen dringen konnten. Vielleicht erleichterte es das Reden, ein wenig zumindest. “Gut, wenn Sie meinen. Sie haben dann eine sehr komische Vorstellung von einem guten Morgen. Ich stelle mir einen guten Morgen etwas anders vor, als all diese traurigen Geschichten zu hören von Fremden.” erwiderte sie und in ihren Gedanken glitt sie zur Freitagnacht und zum Samstagmorgen. Ein schöner Morgen, neben ihm aufzuwachen und sich selbst sagen zu können, dass sie wirklich die Nacht zusammen verbracht hatten. Das dies kein irrer Traum gewesen war, sondern das er wirklich neben ihr lag und sie ihn mit ihren Fingern berühren konnte, seinen Atem fühlen konnte und sein Duft in ihre Nase stieg. Definition eines guten Morgens und vermutlich würde auch ein Montagmorgen so sehr gut starten.

“Gerne doch. Kaffee ist immer gut.” erwiderte sie freundlich und schlüpfte aus ihren Schuhen heraus, um ihre Füße auf den Ledersessel hochzuziehen und eine noch bequemere Sitzposition zu finden. Als dann der Kerl auf ihre Zeichen auf ihrer Haut zu sprechen kam, schlich sich ein beites schmunzeln auf ihre Lippen. Ein Hauch von Verlegenheit war zu sehen, während sie in Gedanken erneut zum Wochenende glitt. “Die sind von Freitagnacht.” erklärte sie knapp und aus dem schmunzeln wurde ein aufrichtiges, aufgeregtes Lächeln. Das der Kerl den Bogen direkt weiter spannte, war klar. “Mein Wochenende war gut. Ich hatte Freitag Dienst in einem Museum, weil da eine Ausstellung war und die brauchten Leute für die Vorbereitung. Nun… Da war jemand, mit dem ich mich dann doch recht lange ausgetauscht habe. Ich habe von Kunst nicht so die Ahnung, er aber schon und so hatten wir einige Gesprächsthemen. Im Verlauf des Abends ist leider eine Vase kaputt gegangen. Die Praktikantin ist dagegen gestoßen.” begann sie zu erzählen und ging den Abend einmal durch.

“Es kam zu einer kleinen Auseinandersetzung und am liebsten hätte ich dieser unverschämten Furie von Managerin die Haare ausgerissen…” warf Lotta ein und ein schnauben, mit dem Hauch eines Knurrens, war von ihr zu hören. “Der junge Mann, mit dem ich mich so gut an dem Abend verstanden habe, hat die Situation gekittet und Ruhe rein gebracht. Ich helfe ihm dabei die Vase wieder zu reparieren, heißt wir sehen uns dadurch öfter und ich freue mich drauf. Es… fühlt sich gut an, in seiner Nähe zu sein, ich liebe seinen Geruch und die Art wie er Dinge betrachtet. Da war so eine Drehscheibe, in der Werkstatt. Ich habe so ein Ding noch nie gesehen und war fasziniert davon. Er hat mir alle meine Fragen beantwortet…” sprach sie weiter und ihre Lippen verzogen sich immer wieder zu einem leicht verträumten Lächeln. “Na ja… Wir haben die Nacht zusammen verbracht und für mich haben diese Spuren am Hals eine tiefere Bedeutung. Es ist etwas Besonderes und meinem Ex hätte ich nie gewährt, mich auch nur mit den Fingern am Hals zu berühren. Ich habe in der Nacht sogar mein Handy ausgeschaltet, weil ich die Zeit mit dem jungen Mann genießen wollte.” kam es ihr über die Lippen und aus dem verträumten Lächeln wurde ein eher trauriges, als sie ihre Familie mit ins Spiel brachte.

Sie zog ihre Beine dichter heran, schien sich ein wenig kleiner zu machen auf dem Ledersessel. “Ich habe die ganze Nacht nicht darüber nachgedacht, es einfach nur genossen. Ich habe mal nur an mich gedacht, daran was ich in dem Moment möchte. Bin ich egoistisch? Ist das egoistisch? Würde Phil noch leben, würde der sicherlich so was sagen von wegen ‘Egoistisch wäre es, nicht an sich selbst zu denken’. In dem Moment hat es sich gut angefühlt, das Handy auszumachen. Ich wollte nicht gestört werden, nicht von ihnen erreicht werden können, sondern mich voll und ganz fallen lassen und es genießen. Macht mich das jetzt zu einem schlechten Wesen? Ich… hatte mein Handy noch nie aus. Seit unsere Eltern fort sind, haben sie nur noch mich. Ich bin diejenige, die auf sie aufgepasst hat, sie bei allem unterstützt und immer auffängt. Ich muss sie doch auffangen. Ich habe schon Phil verloren, weil ich es nicht geschafft habe ihn aufzufangen. Er hatte Probleme und ich konnte ihn nicht retten. Ich konnte ihn nicht auffangen, ihn nicht beschützen. Er hat entschieden zu gehen und ich habe ihn gefunden. Weißt du wie beschissen das ist? Den eigenen Bruder so aufzufinden und zu wissen, dass man daran Schuld ist?” kam es ihr über die Lippen und erst, als sie zu Ende gesprochen hat, wurde ihr bewusst was sie da überhaupt so über sich preisgab. In den vorherigen Sitzungen war sie deutlich neutraler heran gegangen, war stets gefasst und wirkte vor allem unbeugsam. Jetzt jedoch zeigte sie mehr, wie Nahe es ihr ging. Wie sehr das Ganze noch an ihr nagte und das es noch so viele andere unausgesprochene Dinge gab. Tränen waren zwar nicht zu sehen, aber die Augen glänzten traurig und sie ließ die Schultern sinken.
„Hab ich das?“, schien er sich über ihre Feststellung ein wenig zu amüsieren und dennoch trugen seine Lippen kein Schmunzeln. Seine Augen jedoch waren freundlich, als er sie nun im Vorbeigehen musterte. „Ich empfinde es eher als einen guten Morgen – denn nur dadurch kann ich ihnen helfen.“, erwähnte er schlicht zu ihrer Meinung.

In einer seligen Ruhe begab er sich hinüber zu der einfachen Küchenzeile und zog eine Tasse aus dem Schrank. „Schwarz oder verdünnt?“, war seine lapidare Frage. Für ihn gab es nichts anderes als als schwarzen Kaffee an Morgen. In einer fließenden Bewegung goss er ihr bereits dampfenden Kaffee aus einer Frensh-Press in die Tasse, er musste sie kurz zuvor erst aufgesetzt haben. Der warme, heimelige Geruch des Gebräus verteilte sich in dem kleinen Raum, der mehr spärlich wie gemütlich eingerichtete war. Praktikabel, so würde es Mik betiteln.

Der Riese trat mit der weiteren Tasse erneut zu ihr hinüber und zog doch ein wenig kritisch eine Augenbraue hinauf, als sie erst jetzt aus ihren Straßenschuhen schlüpfte. Warum sie das nicht bereits im Eingangsbereich des Genkan getan hatte, war ihm ein Rätsel, hatte er diese Gepflogenheit der Japaner doch eigentlich als sehr positiv betrachtet und zu schätzen gelernt. Sagen würde er allerdings nichts, immerhin sollte sie sich hier wohlfühlen und sich öffnen und nicht mit Regeln überhäuft werden, die sie einschränken. Leise stellte er die Tasse neben ihr auf dem kleinen Beistelltisch ab. „Vom Freitag?“, schob er nun selbst den Ledersessel von hinter seinem Schreibtisch hervor um sich es in dem gemütlich zu machen. Bei ihrem Lächeln und dem Hauch verlegener Röte, schlich sich bei ihm ein erstes Lächeln auf die Lippen. Was auch immer geschehen war – es tat ihr gut.

So liess er sie erzählen von dem Typen, der ihr ein aufrichtiges und zugleich aufgeregtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Etwas, was er selbst noch nie bei ihr beobachtet hatte. Sie wirkte glücklich und das freute ihn. Wohl beeindruckt, dass es dieser junge Mann es sogar offensichtlich geschaffte hatte eine sehr wütende Lotta zu hendeln, wie es ihr immer noch vorhandenes Knurren verriet, schob sich erneut die Augenbraue hinauf. „Er hat dir also Ruhe vermittelt. Dich geerdet?“, hinterfragte er ruhig und nippte das erste Mal an dem Kaffee. Als er seine Tasse senkte, lag ein tiefes Lächeln auf seinen Zügen, als die Worte nur so aus Lotta sprudelten. „Und Geborgenheit.“, versicherte er ihr und sich selbst, in dem er leicht nickte. Das war gut, sehr gut sogar und doch schien er eine Befürchtung zurückzuhalten. Was war, wenn dieser Typ diese Situation nur ausgenutzt hatte?

„Weiß er, dass diese Spuren eine tiefere Bedeutung für dich haben.“, fragte er standardmäßig, dabei war es ihm wohlbekannt, dass Lykae sich untereinander zeichneten. Sie folgten dabei einem inneren Drang, dem sie nicht widerstehen konnten. Dem Drang denjenigen, als seinen Seelengefährten zu zeichnen. Es war üblich, dass wenn sich ein Paar fand, diese zunächst Anspruch aufeinander erhoben. Ein zarter Biss, der dies markierte und sicherstelle das niemand anderer den Partner auch nur ansah, so wie sie nun einen am Hals trug. Doch nicht mehr als das – ein tiefer, blauer Fleck der Wochen brauchte um zu verschwinden. Eine sanfte Vorstufe, ein Herantesten, zu dem was folgen würde oder könnte wenn diese Male vollends verblasst waren. Dem durchdringenden und letztlich Seelenbindenden Biss eines Gefährten. Zumindest, soweit Mik dies alles damals verstanden hatte. „Noch mehr, als Anspruch auf dich zu erheben? Weiß er, dass du es bei deinem Ex nicht zugelassen hattest das dieser dich dort auch nur berührt und das es mehr für dich bedeutet?“, rückte er nun weiter vor und seine Augen sahen von de, schwarzen Spiegel in der Tasse fort, hin zu ihr. Dem jungen Mann schien es ernst zu sein und dennoch nutzten sie offenbar diese Testphase des Kennenlernens. War da noch mehr? War es ein Hinhalten des jungen Mannes? Ein Ausnutzen ihrer Hoffnungen? „Hat er zuerst Anspruch auf dich erhoben?“, fragte Mik lediglich ruhig, ehe sie auf die lange Leine ihrer Familie zu sprechen kam. Dem Handy.

Leicht neigte Mik seinen Kopf, als sie nun weitersprach. Und er liess sie, ohne die Unterbrechung von Fragen, ohne ein weiteres Kommentar dem zuzufügen. Er war froh, dass sie sich weiter öffnete und offenkundig war der junge Mann dafür den Anstoß gewesen. Vielleicht war es ein neuer Abschnitt in dem Leben der jungen Wölfin, den er nun beobachtete und dennoch zeigte sie erneut die typischen Symptome des Unwohlseins. So zog sie ihre Beine dichter an sich heran, machte sich kleiner in dem Sessel, als suchte sie Schutz. Einen Schutz, den er ihr nicht gewähren konnte. Doch eines konnte er ihr geben, Zuversicht. So liess er sie ausreden, wartete ab, Stück für Stück und leerte ruhig seine Tasse dabei.

Ihre Augen glänzten verdächtig, als sie ihn nun ansah und sie mit dem Aussprechen ihrer Gedanken geendet hatte. Mik hob leicht sachte sein Kinn an, wie eine Reaktion, als würde er sie nun verstehen und tatsächlich tat er dies, zumindest in Teilen. Die Kaffeetasse wurde auf dem Schreibtisch neben ihm abgestellt, als er tief Luft sog und sich nach vorne beugte, um sich mit seinen Armen auf seinen Knien abzustützen. Es war ein Entgegenkommen, als wollte er dadurch Trost spenden.

„Macht es dich zu einem schlechten Wesen, dass du auf dich achtest?“, er schüttelte sanft den Kopf und lächelte. „Nein.“ Eindringlich und doch beruhigend sah er sie an. „Du gibst dir deine Antworten bereits selbst, Lotta.“, war er sich sicher.

„Du sagst es selbst. Phil hatte entschieden zu gehen. Er selbst hat dies getan. Er hat damit allein eine Entscheidung getroffen. Er ist selbst dafür verantwortlich, doch auch mit den Konsequenzen die es für ihn, aber auch für dich bedeuteten. Er wollte dies sicherlich nicht und doch hat er mit dieser Entscheidung dein Leben beeinflusst und dich unter Druck gesetzt. Geht jemand auf diesem Wege, dann ist es immer eine kühle vorwurfsvolle Erpressung derjenigen die zurückbleiben. Ein stetiger Vorwurf dessen Last du einfach nicht verdient hast, Lotta. Du hättest nicht mehr tun können!, versicherte er ihr in aller Ruhe und achtete dabei auf jegliche Reaktion von ihr.

„Und zu deiner Auszeit.“, wanderte nun sein Kopf von der einen Seite zu der anderen. „Warum sollte es egoistisch sein in einer solch wertvollen Zeit Energie, Kraft und Stärke zu schöpfen? Du kannst nicht stetig 100% für deine Geschwister da sein, selbst wenn du das willst. Und es ist mir sehr wohl bewusst, dass du das möchtest und wie wichtig dir das ist.“, lächelte er freundlich. „Doch nur wenn es dir 100% gut geht, du selbst stark und unbeugsam bist, wirst du deiner Familie helfen können. Nur wenn es dir gut geht, kannst du auf Dauer für sie da sein. Also…wäre es dann nicht egoistisch sich nicht diese Zeit zu nehmen? Ja, es wäre es, wenn du dir nicht diese Zeit nehmen würdest. Denn dann brichst du irgendwann unter dieser Last, dieser Selbstaufgabe, zusammen. Und du weisst das.“, mahnte er sanft.

„Es ist also nicht egoistisch solche Pausen einzulegen um Kraft und Energie zu schöpfen, dass es einem selbst gut geht. Du solltest so etwas sogar häufiger tun.“, schmunzelte er. „Oder hat es irgendjemanden in deiner Familie geschadet?“, eine rhetorische Frage, kannte er die Antwort doch bereits. „Die Welt geht ohne dich für deine Geschwister nicht unter. Sie sind alt genug, dass sie mal wenige Stunden ohne dich sein können. Immerhin haben sie auch eigene, kleine Familien, um die sie sich selbst kümmern.“ Seine Augen stachen nun in ihren Blick. „Lotta, wo wären deine Geschwister ohne dich? Selbst heute? Sie haben dir alles zu verdanken. Doch es wird nun Zeit, dass du anfängst dein eigenes Leben zu leben. Vielleicht…ist dieser junge Mann der Anfang? Er scheint dir gutzutun.“ Leise atmete er nun aus. „Warum soll dir nicht das gleiche Glück vergönnt sein, wie deinen Geschwistern?“

Charlotta Fraser

Jeder hatte seine Definition von einem guten Morgen und es war nun mal auch seine Aufgabe, anderen zu helfen. Zumindest laut seinem Berufsbild. Sie selbst nahm einen schwarzen Kaffee. Milch oder ähnliches brauchte es nun nicht unbedingt. Bei seiner Rückversicherung, bezüglich des Freitags nickte sie und war dankbar darum, dass er sie nicht unterbrach und sprechen ließ. Ebenso auch, dass er ihr hier nicht mit Regeln oder ähnlichem kam. Natürlich, in japanischen Haushalten zog man die Schuhe schon vorm betreten aus. Etwas, woran Lotta zwar häufig dachte aber nicht immer. Dann kamen die Fragen vom Therapeuten dazu, nach dem sie ein wenig gesprochen hat, der das alles zu verstehen versuchte und Lotta dazu brachte, den Freitagabend noch mal Stück für Stück durchzugehen.

“Ja… Er hat mich nicht angeschrien, mich nicht beleidigt, mir keine geknallt.” begann sie darauf einzugehen und räusperte sich. “Er hat sich nicht davon aus der Ruhe bringen lassen, dass ich mich rein gesteigert habe. Ich stand völlig neben mir, war so unfassbar wütend in dem Moment.” fuhr sie fort und betrachtete den Kaffee. “Er hat mir in den Nacken gegriffen, aber nicht das es weh tat. Es war einfach nur eine Berührung, etwas was mich da raus holen sollte aus diesen ganzen Emotionen. Ich habe dann Panik bekommen. Für einen Moment kam alles wieder hoch, die ganze Gewalt die ich bei Josh erlebt habe, war plötzlich wieder da und ich konnte da nicht raus. Ich wollte weg, abhauen, konnte es aber nicht. Ich weiß nicht…” kam es ihr über die Lippen und sie atmete tief durch, ehe sie weiter sprach. “Ich hab dann den jungen Mann angesehen und mich langsam wieder gefangen. Er hat nichts dazu gesagt, war nicht wütend oder so. Ich durfte mich sogar an ihn lehnen, als ich mich wieder soweit im Griff hatte.” erklärte sie weiter und zog immer mal wieder die Augenbrauen etwas zusammen, sah kurz zu Mikail hoch und zuckte dann mit den Schultern.

“Die Bedeutung dessen ist ihm bewusst. Jeder von uns weiß, dass dies eine tiefe Bedeutung hat. Das es viel bedeutet, wenn man jemandem seine Kehle anbietet oder angeboten bekommt.” antwortete sie ihm wahrheitsgemäß ohne groß darüber nachzudenken. Allein schon, weil der junge Mann ohnehin nicht nach Mensch roch. Die nächsten beiden Fragen, ließen sie kurz innehalten und nach Worten suchen. “Ich habe eingeworfen, dass ich häusliche Gewalt erlebt habe. Im Vorfeld schon. Nur kurz kam es zur Sprache, als wir uns unterhalten haben.” begann sie und ordnete einmal ihre Gedanken, ehe sie weitersprach. “Es steht außer Frage, dies explizit noch erwähnen zu müssen, dass mein Ex dies nicht durfte. Jedem unserer Art ist bewusst, dass niemand leichtfertig seine Kehle präsentiert, das dem Ganzen eine tiefgehende Bedeutung innewohnt und das Gewalt jegliches Vertrauen zerschlägt und damit diese sanften Bisse unmöglich werden lässt. Dieses darbieten der Kehle, dieses zu lassen dort sanft gebissen zu werden, ist eine instinktive Handlung. Ein Impuls, gegen den man sich nicht wehren kann.” erklärte sie weiter.

Bei der nächsten Frage schüttelte sie mit einem leichten Grinsen den Kopf. “Es gibt da kein ‘zuerst Anspruch’ erhoben. Es war ein… Geben und nehmen. Er war derjenige, der zuerst geküsst hat, ich war diejenige die sich so setzte das wir uns richtig nahe sein konnten. Wenn man so möchte, hab ich zuerst Anspruch erhoben, gezeigt das ich ihn für mich will. Ihm gezeigt, dass ich all das will, ihn komplett möchte und ich mich dem auch hingebe. Ich habe ihm meine Kehle angeboten, ihn aufgefordert mich zu beanspruchen. Es ist ein Prozess, der ohne Worte funktioniert. Etwas, was man tief in sich spürt, ein Impuls, eine instinktive Handlung und deren Bedeutung jedem bewusst ist.” kam es Lotta über die Lippen. Sie wollte Yul für sich, das stand fest. Genauso, wie sich ihr Herz danach sehnte, ihm komplett zu gehören. An seiner Seite zu sein. Sie würde keine andere bei ihm dulden, nicht jetzt, nicht mit den Zeichen von ihm am ihrem Hals. Allein diese Zeichen zeigten schon, dass jemand Anspruch erhoben hat und dies auf Gegenseitigkeit beruhte.

Über Yul zu sprechen, war leicht gewesen. Über ihre Familie zu reden war da deutlich schwieriger, vor allem weil jetzt die ersten tieferen Emotionen sich einmischen. Sie ließ Mikail einen Moment lang reden und schluckte bei seinen Worten, während sie jedes davon im Kopf wiederholte. “Ich weiß nicht mal, wie es ist, nur auf sich selbst zu achten. Wie funktioniert das?” kam es ihr leise über die Lippen, eine gemurmelte Frage die sie laut an sich selbst stellte und die gleichzeitig eine Erkenntnis wieder spiegelte. Sie wusste genau, wer sie war und wo sie hin wollte. Sie wusste, wie sie tickte und dennoch war der Aspekt, auf sich selbst zu achten, etwas anderes. Etwas, was ihr so noch nicht durch den Kopf gegangen war. Sie führte ein eigenständiges und selbst bestimmtes Leben und dennoch achtete sie meist eher darauf, das es allen anderen gut ging und vergaß sich selbst dabei. Stellte sich immer hinten an. “Doch, ich hätte mehr tun können. Ich… Ich hätte all das Zeug, was er konsumiert hat, wegwerfen müssen! Ich hätte seine Sachen durchsuchen müssen, ihn nie wieder alleine irgendwo hin gehen lassen sollen.” begann sie und blinzelte die Tränen mutig weg.

“Es gäbe so viel, was ich hätte anders machen können, damit er noch hier wäre! Er ist gegangen und hat mich alleine zurück gelassen, mit diesem Bild im Kopf, wie er da liegt!” sagte sie weiter und nun schlug ihre Stimme von Traurigkeit um zu Wut. Sie war wütend, verletzt, enttäuscht, eine Kombination aus allem wo aber vor allem die Wut im Vordergrund stand. “Er hat mir versprochen, dass wir immer zusammen bleiben. Er hat versprochen, dass er eine Therapie macht. Er hat versprochen, mich nie alleine zu lassen und was ist? Nun ist er weg und das einzige, was mir von ihm geblieben ist, ist seine Asche.” sprach sie ihre Gedanken schnaubend aus und senkte dann Schuldbewusst den Blick.

Sie zuckte mit den Schultern und machte sich noch ein wenig kleiner auf dem Sessel. Zunächst wusste sie gar nicht, was sie genau sagen sollte und kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum. “Ich bin stark und unbeugsam, immer! Ich habe seit dem Verlust unserer Eltern alles alleine gestemmt, auf jeden einzelnen aufgepasst, häusliche Gewalt überstanden und stehe immer noch aufrecht. Ich sitze hier und heule nicht.” erwiderte sie und dennoch war klar, dass Mikail Recht hatte. Früher oder später würde man darunter zusammen brechen und sich selbst kaputt machen. “Meiner Familie hat es nicht geschadet, dass ich nicht erreichbar war. Ich hatte zwar ein paar Nachrichten aber keiner ist gestorben. Es… kam einfach noch nie in Frage, mich selbst als Priorität zu sehen und mal nicht erreichbar zu sein.” fuhr die junge Wölfin fort und schluckte kurz, seufzte und horchte bei den nächsten Worten etwas auf, drehte den Kopf fragend zur rechten Seite und sah dann wieder nach unten. “Mein eigenes Leben… Darf ich das überhaupt haben? Also, so wirklich ein eigenes Leben? Ein Leben, ohne 24/7 erreichbar zu sein? Ich… als Hüterin der Familie ist es doch meine Pflicht auf sie aufzupassen. Ich möchte nicht, dass sie sich von mir im Stich gelassen fühlen oder ähnliches.” sagte sie vorsichtig und unsicher.

Bei ihren nächsten Worten schlich sich zumindest ein Lächeln wieder auf ihre Lippen und erhellte ihr Gesicht. “Die Zeit mit ihm war wirklich schön, seine Nähe war toll und ich habe mich mehr als gut gefühlt. Zu wissen, dass ich ihn wiedersehen werde ist schön und ich weiß, dass mein Handy dann auch zur Seite gelegt werden wird. Beim letzten Mal war es wirklich nervig, ständig angerufen zu werden und dieses vibrierende Handy zu hören. Von daher wird es beim nächsten Treffen direkt aus gemacht. Einfach, weil es schön war ungestört zu sein. Es ist nur sehr ungewohnt, das auszusprechen und zu sagen, nicht erreichbar zu sein.” ging sie auf seine Worte ein und fuhr unbewusst mit ihren Fingerspitzen über die einzelnen Stellen an ihrem Hals, strich darüber und rief sie sich so das Gefühl wieder ins Gedächtnis, wie Yul sanft in ihre Haut biss. “Woher weiß man, wann das eigene Leben anfängt? Ich… gehe arbeiten, hab eine eigene Wohnung, verdiene eigenes Geld, kaufe selbstständig ein und so weiter…” hakte sie dann doch nach.
In Bezug mit ihrem Kaffee liess sie sich offenbar nichts weiss machen, dass Mik mit einem Schmunzeln abtat. Sie war eine willensstarke, junge Frau, die die riesige Last de Schicksal auf ihren Schultern lasten hatte. Eine Schwere, die sie ich erst noch bewusst werden musste, um sich von dieser zu lösen und frei Atmen zu können. Ruhig schob er die Frensh-Press zurück auf der kleinen Arbeitsplatte, die ihm zwischen dem kleinen Gas-Herd und dem Waschbecken blieb. Platz wurde hier eben nicht verschenkt, dafür war dieser viel zu wertvoll. Erst recht in einer solch kleinen Wohnung wie dieser.

Als sie weiter in ihrer Erzählung fortfuhr und sie an dem Punkt angelangt war, dass dieser neue Typ den sie kennengelernt hatte ihr keine gelangt hatte, zuckten nur trocken Miks dunkle Augenbrauen hinauf. Ruhig überkreuzte er seine Beine und nahm die Tasse an seine Lippen, um einen Schluck des wohlriechenden Kaffee zu sich zu nehmen. „Warum sollte er dich anschreien? Welchen Grund hätte er gehabt?“, hinterfragte er weiter, ohne sie zu unterbrechen. Noch während er die Tasse auf sein Bein sinken ließ, fuhr sie bereits weiter fort. Musternd beobachtete er sie dabei, seine dunklen Augen zu leichten kritischen Schlitzen verengt. „Du wunderst dich selbst, dass es so geschehen ist, wie du beschreibst. Nicht?“, setzte er an und drehte die Tasse ein wenig, lediglich um einen Tropfen der sich vom Rand löste und drohte nun auf seine Hose zu gelangen, mit seinem Daumen abzuwischen. „Nicht jeder Mann ist wie Josh.“, dachte der Fae an den Mann zurück, der ausbeuterisch über sie und ihre Familie hinweggezogen war und mit dessen ausgeprägter Eifersucht und Neid, sowie der dazugehörigen Arroganz mit Allmachtsfantasien über sein Tun, zusätzlich ein höchst gefährliches Aggressionspotential besaß. „Josh ist ein gewaltbereiter, sadistischer Narzisst.“, sprach er das aus, was er über den Mann dachte. „Deine Beziehung zu ihm war toxisch. Sowohl körperlich, als auch psychisch, Lotta. Und du hättest niemals selbst etwas daran ändern können.“, rief er ihr ins Bewusstsein. „Es ist eine psychologische Störung, was es nicht entschuldigt, doch es erklärt. Er besass einen Mangel an Empathie und gedrängt durch seine Störung traten Hass, Wut und Rachebedürfnisse gegen über dir auf, die sich in seiner Aggression äußerten.“, erklärte er weiter ruhig. „Nichts davon hättest du verhindern können. Das gehört in professionelle Hände.“, versuchte er ihr erneut zu versichern.

Die Mundwinkel des Fae hoben sich, als er all dies hörte. „Der junge Mann hat sich vollkommen normal, nach seinem Instinkt verhalten und scheinbar die Situation durch sein ruhiges und doch dominantes Verhalten gelöst. Dominanz muss nicht bedeutet, dass jemand aggressiv ist, auch wenn du dies so kennengelernt haben solltest.“, Mik wirte durchaus zufrieden, als er nun die Tasse erneut an seine Lippen hob. „Soll es nicht so sein? Ist dies keine normale Reaktion?“, fragte er rhetorisch. „Ich glaube, es ist gut, dass du diese Erfahrung so gemacht hast. Denn das bedeutet Normalität. Sicherheit. Ruhe und Stabilität. Dies alles wurde dir genommen und durch solche Eindrücke kannst du sie zurückgewinnen. Für dich!“

Erstaunlich ruhig und mit wahren Worten erläuterte sie weiter den Biss den sie am Hals trug, auch, dass sie offenbar vorab mit dem jungen Mann gesprochen hatte. Mik würde ihr mit einem verständigen Nicken zustimmen. Es war dann außer Frage, dies explizit noch einmal zu erwähnen. „Also bist du dir sicher mit deiner Entscheidung?“, versuchte er sie anzuregen darüber zumindest nachzudenken, als sie ihm den Vorgang des Beanspruchens näher erläuterte. „Oder kannst du dich gegen diesen Instinkt erwehren?“ Die Fae konnten eben dies nicht. Er wusste es nur zu gut aus eigener Erfahrung, wie es war diesem brennenden Verlangen zu unterliegen und seinen Seelengefährten bei sich zu haben, wenn man ihn den gefunden hatte. Anders wie bei den Fae, war, dass eine Beanspruchung noch nicht bedeutete, dass es eben dieser Seelengefährte war. So zumindest hatte es Mi verstanden. Das würde sich zeigen, wenn letztlich später zeigen. Der Fae lächelte. „Ich gönne es dir.“, sah er noch einmal auf den Biss an ihrem Hals. „Vertrau deinem Instinkt. Es gibt nichts wichtigeres.“, erwähnte er. „Erinnere dich an Josh. Du hattest mir beschrieben, dass es sich bei ihm stets anders angefühlt hatte. Vertrau auf das, was du weisst und was dein Instinkt dir vermittelt, er lag bereits bei Josh richtig, dann wird er es nun auch sein.“

Leise und zögerlich stellte sie ihre Frage, als er ihr erläuterte, dass sie beginnen musste auf sich selbst zu achten. Zögerlich, als habe sie Angst, dass man die laut vernahm. Das es falsch war überhaupt dies auszusprechen. „Auch diese Frage hast du dir bereits selbst beantwortet, Lotta.“, schmunzelte der Fae nun und nahm einen weiteren tiefen Schluck Kaffee. „Du hast in diesen Stunden, als du bei ihm warst für dich gelebt und Kraft geschöpft. Das hast du getan. Du hast auf dich selbst geachtet in diesem Moment.“

Ihre Verletzlichkeit, als sie nun an ihren verstorbenen Bruder dachte, machte Mik betroffen. Ein Punkt, den er sich nicht anmerken lassen durfte und dennoch sog er leicht die Luft tief ein. Sie geißelte sich selbst mit diesen Gedanken. Schuldzuweisungen und Vorwürfen, die ihr das Leben schwer bis beinahe unmöglich machten. „Nein, Lotta!“, kam es ruhig und dennoch sehr entschieden von dem Fae. „Du hättest nichts tun können.“, trafen nun seine Augen direkt in ihre. „Hättest du ihm das Zeug weggenommen, hätte er sich neue besorgt. Junkies wissen woher sie ihren Stoff bekommen und Dealer findet man so leicht. Du hättest ihn in eine Gummizelle sperren müssen, um ihn von der Welt zu separieren, und selbst das hätte ihn nicht gerettet. Denn sein schlimmster Feind waren nicht die Drogen, sondern er selbst, seine eigenen Gedanken. ER hat den Entschluss gefasst. ER allein.“, betonte er abermals und liess sie weiter sprechen.

Nach ihrem Schnauben begegneten sich erneut ihre Blicke. „Du bist wütend das er dich allein gelassen hat.“, stellte Mik fest und leerte seine Tasse um sie fortzustellen. „Du hast allen Grund zornig zu sein. Er hat dich mit seiner Entscheidung verletzt, ohne, dass er dies wollte. Er war gefangen in seinen düsteren Gedanken, die die Drogen ihm mehr und mehr eingeflößt haben.“ Der Fae neigte leicht seinen Kopf zur Seite, als sie ihren Blick senkte. „Lotta – du darfst wütend auf ihn sein und das muss dich nicht beschämen. Du darfst das! Du darfst deinen Schmerz rausschreien und loswerden!“, eben das war es, ein langer Prozess des Loslassens. Sie hatte ihren Bruder immer noch nicht verziehen und trug diese Kette mit seiner Asche, wie eine Mahnung ihres Versagens stetig mit sich herum. „Du hast nicht versagt. Es war nicht deine Entscheidung.“

Sie sackte ein wenig mehr in dem Sessel zusammen und die nächsten Worte, liessen ihn erneut tief einatmen. „Du hast gelernt stark und unbeugsam zu sein. Immer.“, wiederholter er ihre Worte. „Doch woher willst du diese Stärke nehmen, die jeder von dir verlangt, wenn du nicht die Möglichkeit hast neue hinzuzugewinnen?“, irgendwann, dass war Mikail bewusst, würde diese junge Frau darunter brechen, wenn sie denn so weiter fortfuhr. Irgendwann würden sich die Schleusen ihrer Trauer weiter öffnen und all dies sich über ihre ergießen. All der Schmerz über die scheinbar überwundenen Verluste, all die Verletzungen, all die Wut. Sie musste lernen, dies zuzulassen. Entgegen dem, was ihre Eltern und ihre Geschwister ihr im Laufe der Zeit eingeimpft hatten.

Erneut erhob er sich, ging hinüber zu der kleinen Küchenzeile und nahm einen Apfel hervor. „Fang.“ Rief er ihr zu und warf ihn ihr zu. „Du bist wie dieser Apfel.“ Bei ihr angelangt lehnte er sich erneut gegen die Kante des Schreibtisches. „Deine Stärke ist dein äußerliches Bild. Unverwundbar, unbeugsam. So perfekt, wie dieser Apfel. Gesund, nicht wahr? Sicherlich, wenn man dessen Samen herausschneidet, wird aus diesen ein starker Baum erwachsen. Ähnlich wie bei einer Familie, oder?“, betrachtete er sie nun eindringlich und tatsächlich, wenn sie den Apfel betrachten würde, wäre es eben ein perfekter Apfel. Mit einer eleganten Bewegung reichte er ihr ein Messer. „Schau mal nach den Samen.“, forderte er sie auf den Apfel aufzuschneiden. Würde sie dies tun, dann würde sie erkennen, dass das Fruchtfleisch bereits sich braun verfärbt hatte, obwohl der Apfel äußerlich keine Verwundungen aufzeigte. Schimmel war über den unteren Strunk eingedrungen und bedeckte die Samen mit feinen Flaum. Ruhig legte er nun seine Hand über den Apfel, unterbrach damit ihren Blick darauf. „Nur wenn der Ursprung gesund und stark ist, wird daraus ein starker Baum.“ Versuchte er ihr zu erklären. „Nur wenn du stark bist und es dir gut geht, wird daraus etwas Starkes erwachsen für deine Familie.“

„Das darfst du und sollst du!“, betonte er bei ihren aufkommenden Fragen. „Du sollst ein eigenes Leben haben, denn nur so wirst du für deine Familie eine Stütze sein können.“ Sanft drückte seine große Hand nun zu, ehe er ihr den Apfel und das Messer nahm. „Hast du mal erlebt, dass eine Wache oder ein Hüter stetig um eine Herde kreist?“, fragte er erneut. „Selbst der beste Hüter ist einmal müde und eben dann geschehen die Fehler.“, mahnte er erneut. „Lotta! Niemanden ist etwas geschehen. Niemand ist gestorben, niemand wurde krank. Selbst wenn, hättest du zunächst nichts tun können. Sie leben in anderen Ländern. Du bist mehrere Stunden und Tage von ihnen entfernt. Sie leben auf eigenen Füßen. Lerne, zumindest in Teilen, loszulassen und zu Vertrauen. Sie sind keine kleinen Welpen mehr.“

Zufrieden nickte nun den Fae und liess die Reste des Apfels in seine leere Tasse gleiten. „Dann vertrau diesem Gefühl. Deinem Instinkt.“, zwinkerte er ihr zu, als er bemerkte, dass sie erneut wieder den Biss berührte. „Woher?“, nun schmunzelte der Dunkelhaarige und schüttelte bei ihren Argumenten leicht den Kopf. „Nicht daran.“, meinte er ruhig. „Nein. Man merkt, dass man lebt, indem man es lebt.“, verriet er ihr. „Indem du eine tiefe Zufriedenheit und Frieden spürst, bei dem was du betrachtest, oder eben tiefes Glück, bei dem was du berührst. Das ist Leben.“

Charlotta Fraser

Kurz zog sie die Schultern hoch und ließ sie langsam wieder sinken. Für einen Moment fixierte sie die Tasse vor sich und driftete etwas ab. “Weil ich laut geworden bin… Weil, ich nicht den Mund halten kann?” kam es ihr über die Lippen und ihr Herz raste ein wenig in der Brust, während sie die Erinnerungen an Josh zu ließ. Leichte Panik ergriff sie und sie zwang sich, langsam ein und wieder auszuatmen. “Ich bin es nicht gewohnt, in so einer Situation, nicht von einem Mann geschlagen zu werden. Es war immer dasselbe. Egal, was ich gemacht habe, es war falsch. Ich war zu vorlaut, zu wild, zu dumm, zu unfähig, zu ungehorsam. Irgendwann schlug er selbst beim leisesten Ton zu. Ich…” einen Augenblick lang rang sie mit sich selbst und räusperte sich mehrfach, als würde ihr das helfen. “Es gab Tage und Nächte, in denen ich mich in einem Schrank eingeschlossen habe. Ich hab da Löcher rein gebohrt und dann ein Schloss rum gemacht, welches ich von innen schließen und öffnen konnte. Da… hab ich gewartet, bis er entweder geschlafen hat oder sich wieder soweit gefangen hat, dass ich mir nicht mehr einfing als eine saftige Ohrfeige.” fuhr sie zögerlich fort, mit leiser brüchiger Stimme. Es waren Worte, Schilderungen, die selten ihren Mund verließen. Zu selten. Bei den nächsten Worten senkte sie den Blick, musterte den Boden und ihre Schultern sanken noch weiter nach unten. “Aber ich bin doch bei ihm eingezogen. Ich… bin doch 3 Jahre geblieben. Ich… habe das Gefühl, dass es meine Schuld ist, das mir das passiert ist. Das ich früher hätte gehen sollen aber das ging nicht. Ich… konnte nicht gehen. Nicht sofort. Das ist so, als wenn ein Reh Nachts vor ein Auto rennt und im Licht der Autostrahlen stehen bleibt und nicht weiter gehen kann. Man weiß, man sollte gehen aber der Körper streikt.” kam es ihr über die Lippen.

Die nächsten Worte ließen sie nochmal durch atmen und sie nickte zustimmend. “Ruhig und dominant, mit einem klaren Ziel vor Augen ohne sich von der aufgeheizten Situation anstecken zu lassen. So soll es sein. Dominanz und Aggression, dazwischen liegen Unterschiede. Dominanz ist etwas, was sich auf das Verhalten des ganzen Rudels legen kann. Es gibt eine klare Führung. Eine klare Führung bedeutet Sicherheit. Sicherheit erdet einen. Hat jemand ein ruhiges dominantes Auftreten, sorgt diese Ruhe dafür, dass die Situation abkühlt. Es sorgt dafür, dass man selbst ruhiger wird und die Gedanken ordnen kann. Bei einer Aggression würde man sich von den aufgeheizten Gefühlen anstecken lassen und dann knallt es. Ich weiß, wie ein normales dominantes Verhalten aussieht und auch, wie eine Aggression aussieht. Ich habe einen Moment gebraucht um zu kapieren, dass er mir nichts tut. Danach kehrte aber Stück für Stück Ruhe ein.” erklärte sie das ganze und ihr tat es gut, da so ein wenig die Theorie mit rein zu bringen. Lotta selbst besaß ein dominantes Auftreten, war stark und selbstbewusst. Sie lenkte das Rudel und trat dort immer sehr souverän auf. Dennoch war sie ein Hitzkopf und es gab Momente, da ließ sie sich zu sehr provozieren. So, als würde man ein Schalter umlegen und sie explodierte. “Ich bin froh darüber, dass der Abend gut verlaufen ist. Ich habe mich sehr wohl bei ihm gefühlt und vor allem sicher.” fügte sie vorsichtig hinzu und ein Lächeln huschte über ihre Mundwinkel.

“Das ist ja der Knackpunkt… Es war eine instinktive Handlung und, man kann sich dem nicht entziehen. Es ist wie atmen oder das man trinkt, wenn man durstig ist. Durchaus wäre es möglich, das ganze etwas hinaus zu zögern doch am Ende gewinnt der Instinkt. Man kann sich dem nicht entziehen, da nicht gegen ankämpfen. Dieses Verlangen, das zu machen, ist da und man wird sich dem beugen. Ich habe nicht mal daran gedacht dagegen anzugehen. Das kam mir falsch vor, zu versuchen, mich meinem Instinkt zu entziehen. Es ist eine Symbolik. Menschen versprechen sich treu zu sein, bis man weiß, wohin das ganze geht und wohin das alles führt. Wir setzen klare Zeichen.” meinte die Wölfin und nickte, als er meinte, sie solle auf ihren Instinkt vertrauen. Ihr Instinkt war das, was angeboren ist, das was sie 400 Jahre mit sich trug, so wie ihr schlagendes Herz in ihrer Brust. Bisher lag ihr Instinkt immer recht, selbst bei Josh hat ihr Instinkt ihr geraten abzuhauen. Nur blöd, dass sie damals in einem Laufrad gefangen war und nicht ausbrechen konnte in all den Jahren. “Vertrau auf deinen Instinkt, hat meine Mum immer geraten. Auf den Instinkt und auf das Herz, die wissen alle Antworten auch jene, deren Fragen wir nicht formulieren können.”

Die Worte von Mikail ließ sie sich durch den Kopf gehen und verzog den Mund zu einer dünnen Linie. In dem Moment hat sie für sich gelebt, das stimmte. Sie hat Kraft geschöpft, fühlte sich besser als jemals zu vor und das obwohl sie kaum geschlafen hat. Es hat ihr gut getan und selbst jetzt, wenn sie daran dachte, fühlte sie sich einfach nur verdammt wohl in ihrer Haut. Die Sache mit Yul fühlte sich richtig an. All das war wunderbar gewesen und sie hat nicht einmal an ihre Familie gedacht oder das Gefühl gehabt, unbedingt nach dem Handy zu greifen. Bei Phil veränderte sich wieder ihre Miene. Auch, wenn Mikail meinte, sie hätte nichts tun können, dachte Lotta anders darüber. Sie hatte ihm helfen wollen, hätte gewollt das er heute hier bei ihr war und ihr den Rücken stärkte. Sie hatte ihren kleinen Bruder verloren und das war ein Schlag mitten ins Gesicht gewesen. “Aber er ist doch mein kleiner Bruder. Ich muss auf meine Geschwister aufpassen und ich habe es nicht geschafft. Er ist Tod und niemand kann ihn wieder bringen. Er wird mich nie wieder zum Lachen bringen. Er wird nie wieder mit einem bunten Rock durch die Straßen laufen und dabei ‘Jolene’ singen. Wir werden nie wieder zusammen im Gras liegen, zu den Sternen schauen und dabei darüber reden, was wir machen würden, wenn wir im Lotto gewinnen. Er ist Tod und ich habe das Gefühl, dass ich ihn hätte retten müssen.” nun sickerten doch die ersten Tränen über ihre Wange, die sie einfach laufen ließ.

Ob sie wirklich wütend sein durfte? Während sie ihrem Therapeuten zuhörte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und schnaubte erneut. Ihre Nasenflügel blähten sich etwas auf und sie blinzelte die Tränen weg. “Okay, ich bin wütend. Ein wenig zumindest.” kam es ihr über die Lippen. “Er ist gegangen und hat mich hier allein gelassen. Er ist gegangen und ich bin diejenige, die dieses Bild nie wieder los werden wird. Er ist gegangen und ich hasse ihn dafür, dass er so gegangen ist! Ich hasse es, dass ich ihn manchmal dafür den Hals umdrehen könnte. Wir hatten Pläne für die Zukunft. Sein Tod hat mir den Boden unter den Füßen weg gezogen und ich musste stark für meine Familie sein. Ich habe jeden einzelnen getröstet, mir all den Kummer angehört und ich habe in all der Zeit nicht geheult. Nicht mal bei der Beerdigung. Erst als ich alleine war. Ich war so wütend und traurig, dass ich meine Wohnung demoliert habe. Ich habe alles zerschlagen, Seiten aus Büchern raus gerissen und hab wütend gegend die Wände geschlagen, bis mir alles weh tat. Aber tja, man muss weiter machen. Also aufgeräumt und so getan, als wäre nichts gewesen am nächsten Morgen.” erzählte sie und schluckte nun alle Tränen wieder runter, bemühte sich darum wieder ihre Fassung zu gewinnen und es gelang ihr dann doch wieder recht gut. Sie war geübt darin, kein Zweifel.

Was sie mit dem Apfel dann jedoch sollte, den ihr Mikail zu warf, verstand sie nicht direkt. Sie hörte ihm zu und versuchte zu verstehen, warum man sie mit einem Apfel verglich. Aber je mehr er sprach, desto besser verstand sie und folgte seinen Anweisungen. Von außen sah der Apfel unversehrt aus. So, wie ein gesunder Apfel auszusehen hat. Doch innen drin waren einige Stellen bereits braun. Sie betrachtete den aufgeschnitten Apfel etwas und sah dann zu Mikail, als dieser seine Hand ruhig über den Apfel legte. “Achte ich nicht darauf, bin ich wie ein verschimmelter Apfel, dessen Samen auch keine gesunde Frucht hervorbringen können?” fragte sie und runzelte etwas die Stirn, während sie dieses Gleichnis versuchte einzuordnen und zu verstehen begann, was er ihr sagen wollte. “Eine Wache wird oft von einer anderen abgelöst, ein Hüter macht auch Pause. Bei unserer Art, wenn wir draußen im Rudel leben, lösen sich die Wachposten auch immer ab, damit man genug Schlaf bekommt.” erwiderte sie und nickte dabei langsam, weil sie bereits anfing zu verstehen. “Es ist einfach schwer… Ich habe immer diesen einen Satz im Kopf ‘Pass auf die Familie auf’. Das tue ich. Jeden einzelnen Tag. Natürlich, sie sind keine Welpen mehr und habe bereits eigene Familien aber dennoch… Es ist schwer. Als Oberhaupt der Familie ist es meine Aufgabe, sie zu beschützen und für sie da zu sein. Ich… mache seit Jahrhunderten nichts anderes.” kam es ihr über die Lippen. Das war das, was sie mehr oder weniger tat, seit sie selbst ein Welpe gewesen ist. Sie wurde mit dieser Verantwortung bewusst, zwischen all dem bunten treiben im Rudel.

“Heißt, ich merke das ich Lebe, weil mein Herz schlägt?” fragte sie seufzend und senkte den Blick um Luft zu holen und die Gedanken wieder zu ordnen. “Ich habe am Freitagabend für mich gelebt. Ich war mehr als glücklich, habe mich… vollkommen wohl und verstanden gefühlt. Nachdem ich mein Handy ausgeschaltet habe, habe ich nicht einen Gedanken mehr daran verschwendet. Ich habe einfach das gemacht, worauf ich gerade Lust hatte und habe die Nähe mit ihm genossen. Jedes Gespräch zwischen uns und allem, was da so passiert ist. Geht es darum? Das, man sich das Recht raus nimmt, mal an sich zu denken?” fragte sie. Mitunter bräuchte sie noch mehr solcher Momente, in denen sie einfach alles andere von sich weg schob und sich im Moment fallen lassen konnte. Augenblicke, Abende, Ausflüge, wo sie sich selbst in den Fokus stellte und die Priorität bei sich suchte und anfing sich weniger Gedanken darum zu machen, ob sie immer erreichbar sein musste. Es war eine Routine, die man durchbrechen musste. Jahrhundertelange Routinen, die sich irgendwann ändern mussten.
Mik schwenkte die warme Keramik zwischen seinen Fingern, die das schwarz des Kaffees einfingen, leicht. Die Hitze schien ihm nichts auszumachen, die sich in feinen sanften Dunstfäden von dem Schwarz lösten und nun im Gegenlicht des Fensters aufstiegen. Der Fae hörte zu. Nicht nur den Lauten und Silben aus denen sie ihre Wörter formte, sondern schien er zwischen ihnen ebenfalls zu lesen. Wie die Geschichte in einem Buch fügte sich nach und nach ihre qualvolle Chronik zusammen, je mehr sie sprach. Und er liess sie reden, liess sie die Sachen aussprechen. Hier hatte sie den Raum und die Zeit dafür.

So war es nicht verwunderlich, dass der Klang ihrer eigenen Worte Erinnerungen weckte. Erinnerungen an Schmerz, an qualvollen Emotionen, die immer noch Panik und Angst in ihr auslösten. Erst recht bei den nun folgenden Erläuterungen zu Josh. Einem Sadist von Alpha, der sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wollte. Etwas, was nie gut ging. „Nein.“, ein Wort, dass zwischen die ihren Schlug wie das scharfe Schneidblatt einer Axt, die das Holz mit sanfter und doch entschlossener Gewalt teilte. „Du hättest dich nicht von ihm früher lösen können. Nicht davon war deine Schuld. Er war clever genug dich in Lügen einzuwickeln, dich emotional von ihm abhängig zu machen, dass du schlicht in einem Strudel gefangen warst aus dem es kein Entkommen gab.“ Entschlossen sah der Fae ihr dabei in die Augen.

Ruhig liess er sie weiter sprechen, als sie für sich die Situation am Freitag noch einmal analysierte und zu Recht feststellte, dass mit einer Dominanz nicht automatisch eine Aggression einhergehen musste. „Eben darauf wollte ich eingehen. Dominanz kann etwas positives sein, wenn diese ohne Aggression auf einen einwirkt. Du hattest den Moment benötigt, da deine Erfahrungen dich etwas anderes gelehrt haben. Und auch das ist vollkommen natürlich.“, warf er ruhig ein und nickte zu ihren vorhergehenden Worten und schmunzelte bei den folgenden. „Vielleicht solltest du dieses Gefühl das er bei dir hervorruft bewahren.“, schlug er ohne jeglichen Hintergedanken vor. „Denn soll es nicht genau so sein?“, wagte er es dennoch mit einem zustimmenden Lächeln zu hinterfragen.

Was sie kaum bemerkte, als sie nun über den jungen Mann sprach den sie am Abend des Freitages näher kennengelernt hatte, war, dass sie tatsächlich von innen strahlte. Man spürte, wie sich ihre Haltung veränderte, wie sich hier und da ein Lächeln auf ihre Lippen schlich, während sie versuchte ihm zu erläutern warum sie diesen jungen Mann für sich beansprucht hatte. Eine Erläuterung, eine Rechtfertigung, die er nicht benötigte und dennoch hinnahm. Für ihn als Therapeuten war es mehr wie ersichtlich, dass es womöglich dieser junge Mann war, dem es möglich werden könnte diese junge Wölfin zu erden, sie dorthin zurückzuführen, wo ihr Geist, ihre Seele, hingehörten. Vielleicht war diese sich anbahnende Verbindung sogar das Pflaster, dass ihre Seele benötigte, damit sie heilen konnte. Zumindest klang all dies danach und er hoffte, dass sie sich nicht in etwas verlief.

Doch wusste Mik, dass es nicht mächtigeres gab als den Instinkt eines Wolfes, der mit dem seines Volkes so ähnlich war. Er war machtvoll, überwand selbst die größte Kritik des Verstandes und nahm einen ein. „Vertrau darauf.“, bekräftigte er erneut und nickte, als sie meinte, dass die Wölfe eben klare Zeichen setzten. „Eine weise Frau mit einem weisen Rat.“, stimmte er ihr zu und nahm erneut einen Schluck Kaffee, der voll, rund und bitter seinen Mund füllte. „Beachte ihn.“

Ihre ganze Haltung änderte sich, als sie nun auf ihren Bruder und ihre Familie zu sprechen kam. Ein weiteres düsteres Kapitel in ihrem Leben, dem sie sich niemals zu entziehen vermochte. Ein Punkt, zu dem er ihr auch nicht raten würde. Sie musste sich den Gegebenheiten stellen, diese finsteren Abschnitten ihres Schmerzes stellen, wie eben bei Josh. Schwierig. Da dieses Thema immer noch emotionsgeladen war. Etwas, was es sicherlich auch in zwanzig Jahren noch wäre. Doch war mehr wie ersichtlich, dass die junge Wölfin immer noch trauerte. Sowohl über ihren geliebten Bruder, als auch über ihre Eltern, wie sich in dem weiteren Gespräch noch zeigen würde.

Geplagt von Selbstvorwürfen und augenscheinliche Wut auf sich selbst, sprach sie, zerlegte ihr erfolgtes Handeln in offenbare Fehler. Es war schwer sie so leiden zu sehen, sie dabei zu beobachten, wie die ersten Tränen über ihre Wangen liefen und doch war dies ein wertvoller Prozess, ein wichtiger Abschnitt in der Bewältigung der Trauer. Sie musste akzeptieren. Erkennen, dass sie nicht hätte anders handeln können. Anerkennen, dass ihr diese Verantwortung, die ihre Eltern durch deren Verschwinden ihr zu früh in ihrem Leben auf gebürgt haben auch zu groß für sie hatte werden können. Letzteres würde er nun noch nicht erwähnen. Ersteres sehr wohl. „Es stimmt.“, fügten sich seine Worte in die Stille, die ihre schweren Worte nun hinterließen. „All dies wird nicht mehr sein. Es sind Erinnerung und Erfahrungen, die du dir bewahren solltest. Aber…“, der Fae setzte sich nun erneut ein wenig auf. „…es bedeutet nicht, dass du daran Schuld hast. Und es bedeutet nicht, dass du seine Entscheidung hättest ändern können. Diese ist unumkehrbar und das war ihm bewusst. Dir, Lotta. Sollte bewusst sein, dass es deine Entscheidung sein sollte weiterzuleben. Erlaube es dir!“, sah er sie nun eindringlich an.

Endlich schien sie ihre Wut über das Zerschlagen ihrer Hoffnungen und dem unabwendbaren Verlust ihres Bruders zuzulassen. Er sah es deutlich, roch es gar in ihrem Geruch, der ihm nun entgegenströmte. Bitterkeit lag darin, wie auch in ihren Worten. Eine Agonie der Trauer, die sie noch nicht bewältigen konnte. „Das muss man nicht.“, neigte er sich nun weiter zu ihr, als er ihr widersprach. „Akzeptanz und Wut. Die ersten Phasen der Trauer.“, folgten seine Worte ruhig. „Du selbst musst lernen zu Trauern, Lotta. Sonst wirst du nie damit leben können, dir selbst nicht erlauben zu leben. Du musst akzeptieren was geschehen ist und das du keinen Einfluss auf seine Entscheidung hattest. Du solltest es annehmen. Nicht die Schuld, sondern die Akzeptanz seiner Entscheidung. Die Wut, die du empfindest ist natürlich und du darfst es sein. Du darfst alles zerlegen, zerbrechen und zerschlagen, Hauptsache du lässt sie zu. Denn nur wenn du sie zulässt, bist du stark.“, versuchte er ihr zu erläutern, dass sie sich, selbst nach all den Jahren, immer noch in den ersten Phasen der Trauer befand.

„Achtest du nicht darauf, bist du wie dieser Apfel.“, stimmte er ihr zu und nickte sanft, als ihre Augen nun fragend zu seinen hochsahen. Ruhig liess er sie weiter sprechen und nahm ihr dabei zaghaft das Gleichnis aus ihren Händen.

„Du warst zu jung.“, schloss er ruhig, als sie endete. „Du hast diese Aufgaben übermittelt bekommen, als deine Eltern verschwanden. Eine Aufgabe, die vorher auf zwei Personen lag für das gesamte Rudel, dass du nun großziehen musstest. Du hast diese Aufgabe bewältigt und diese war sicherlich nicht leicht. Dennoch hinterliess sie in dir Spuren, an denen du immer noch nagst. Der Verlust deines Bruders brachte all die Emotionen erneut hoch, die du damals bereits empfunden hattest und diese nicht hattest verarbeiten können. Warum auch, dir war es nicht bewusst. Du warst mit wichtigerem beschäftigt.“, sog er tief Luft und betrachtete sie ruhig. „Was du damals nicht konntest, kannst du aber nun. Lerne auf dich zu hören, auf deinen Instinkt, auf dein Herz. Lerne zu leben…“, hob er leicht seinen Kopf und schmunzelte. „…und dies bedeutet nicht, dass lediglich das Herz schlägt. Es bedeutet sich treu zu sein und sein Glück zu finden.“, berichtigte er sie. „Denn nur so wirst du an Stärke gewinnen.“

Zustimmend nickte er bei ihren weiteren Worten. „Eben darum geht es.“

Charlotta Fraser

Worte, die sie niemals aussprechen wollte. Worte, die sie nicht nochmal Macht geben wollte sie einzufangen und sie zurück zu holen. Sie musste im Frauenhaus darüber berichten, was vorgefallen war und selbst da hatte sie kaum Kraft dazu. Auszusprechen, was genau vorgefallen war, war hart. Es war als würde man in einen wiederkehrenden Albtraum abdriften, als müsste man alles wieder und wieder erleben. Mikails Nein durchschnitt förmlich die Luft und ließ sie dann doch zusammen zucken. “Aber ich fühle mich so… als wäre es meine Schuld. Ich habe gefühlt, dass es nicht richtig war und bin geblieben. Ich… wollte doch nur geliebt werden.” kam es ihr heiser über die Lippen. “Stattdessen wurde ich verprügelt. Ich habe meine Familie jedes Mal angelogen. Es war ein Eisenmangel, ich bin blöd gestürzt… so was eben. Sie sollten sich keine Sorgen um mich machen müssen.” meinte sie und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

“Theoretisch soll es genau so sein, wie es da abgelaufen ist. Ruhige Dominanz, die einen dazu bringt herunter zu fahren. Es soll dafür sorgen, dass sich keine Situationen hoch schaukeln im Rudel.” ergriff sie leise und zögerlich das Wort. “Dieses Verhalten kenne ich so, bisher, nur in meinem Rudel. Es war merkwürdig, dass er so ruhig reagiert hat und genau wusste, was zu tun war. Es hat geholfen. Es hat mir wirklich sehr geholfen, dass ich den Moment bekommen habe um zu realisieren, dass man mir nicht weh tun wird. Das es keinen Grund gibt um sich in einem Schrank einzuschließen.” sprach sie ruhig weiter und erinnerte sich daran, ruhig zu atmen. “Es fällt mir leicht, in seiner Nähe zu sein und ich habe keine Angst dabei. Keine Angst vor seinen Berührungen, keine Angst vor seinen Worten oder seinem Knurren. Es ist schön, wie frei ich mich fühle, weil ich die Gelegenheit habe, mich frei zu äußern. Ich glaub, ich habe noch nie einfach so los geplappert und jemandem Dinge von mir erzählt ohne vorher alles bis ins kleinste Detail abzuwägen und zu schauen, was ich sagen darf und was nicht.” fügte sie hinzu und das Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

Yul tat ihr gut, verdammt gut. Es war wie mit der Vase, die man Stück für Stück zusammen setzte, damit sie irgendwann wieder ganz waren. Er hatte ihr in wenigen Stunden ein Gefühl gegeben, was sie nie für möglich gehalten hätte. Er hat angefangen kleine Teile ihrer Seele zusammen zu setzen und ein wenig Gold darüber zu verteilen. Natürlich, es war ein Prozess und sie war von dem Ganzen noch sehr beflügelt. Dennoch tat der Wolf ihr gut und gab ihr die Möglichkeit positive und wertvolle Erfahrungen zu sammeln. In seiner Gegenwart war es leicht sie selbst zu sein. Sie war niemand, der sich großartig verstellte, dennoch war sie stets sehr vorsichtig, wie viel sie von sich preisgab. Einfach aus Angst, das ihr Ex sie sonst finden könnte. Doch bei Yul war es anders. Ihr Herz beschloss sich ihm anzuvertrauen und das Mal an ihrem Hals, die Zeichen die sie von ihm trug, zeigten das dieses Vertrauen auf beiden Seiten ruhte. Sie hatten einander gezeichnet und sich beansprucht, gezeigt das sie einander wollten. Es war etwas Besonderes, etwas was man nicht leichtfertig tat und das schaffte Sicherheit. Hinzu kam, dass ihr Instinkt sich auch mit einmischte und die Führung übernahm. Es fühlt sich richtig an, mit ihm offen über dies und jenes zu reden, ein wenig von ihrem Leben zu erzählen.

Den Rat ihrer Mutter würde sie immer beachten. Es war eins der wenigen Dinge, die ihr von ihrer Mutter geblieben war. Eins der wenigen Dinge, an die sie sich klammern konnte, wenn sie doch mal der Mut verließ und sie darum kämpfte weiter zu machen und die Zähne zusammen zu beißen. Als es um Phil ging, hätte sie sich die Hand ihrer Mutter gewünscht, die ihr halfen den Rücken gerade zu halten. Aber das ging nicht. Hier war sie alleine und musste sich dem Ganzen stellen. “Ich lebe doch weiter. Mein Herz schlägt in der Brust und die Erinnerungen machen es nicht leichter, es tut nur noch mehr weh. Jedes Mal, wenn ich an den Tag denke, habe ich das Gefühl irgendwas stirbt tief in mir drin. Ich habe versprochen meine Familie zu beschützen und ihn konnte ich nicht halten. Ich konnte ihn nicht davor beschützen.” sie rang ein wenig mit sich und den Worten. “Es war seine Entscheidung und die hat er alleine getroffen. Die erste Entscheidung, in die er mich nicht mit einbezogen hat, war die wie er sein Leben beendet.” sprach sie ihren Gedanken laut aus.

Wie sollte man lernen zu trauern? Trauern macht verwundbar. Trauer sorgte dafür, dass man unvorsichtig wurde. Sie konnte es sich nicht erlauben zu trauern und selbst wenn, wie trauerte man überhaupt? Sie hat ihre Geschwister durch diesen Prozess begleitet. Zuerst beim Verlust ihrer Eltern und dem Rudel, danach bei Phil. Sie hielt trauernde Leute in ihren Armen, strich ihnen behutsam über den Rücken und versprach da zu sein und aufzupassen. Sie nicht alleine zu lassen, während sie es verarbeiteten. Doch sie wirklich hat niemanden gehabt, der ihre Hand dabei hielt. Sie machte es sich mit sich selbst aus. Alle anderen kehrten zu ihren Familien zurück, gingen ihrem Alltag nach und Lotta stürzte sich in die Arbeit und zog nach Japan. “Wie trauert man denn? Ich habe verdammt nochmal keine Ahnung, was ich eigentlich machen soll.” kam es ihr geladen mit einem leisen Knurren über die Lippen. “Das Problem ist, dass ich gar nicht weiß, was ich überhaupt fühle. Ich möchte weinen und schreien. Dinge kaputt machen und mich gleichzeitig lieber unter die Decke verstecken und warten, bis all das aufhört. Ich will das alles einfach nicht fühlen. Ich will damit nicht alleine sein, wenn diese ganzen Erinnerungen hochkommen. Es ist wie ein Monster, was mich zerfrisst und dabei hab ich versprochen, mich davon nicht fressen zu lassen.” gab Lotta leise zu. Es war schwer. All das machte ihr zu schaffen.

Wie der Apfel wollte sie nicht werden. Das stand fest. Dennoch wusste sie gerade nicht wirklich, was sie überhaupt tun oder fühlen sollte. Die ganze Sache war hart für sie und sie musste da alleine durch. Vor ihren Geschwistern musste sie als sicheres Schild agieren. “Es ist eine Aufgabe, die ehrenvoll ist. Ich musste sie übernehmen. Sonst wären wir alle gebrochen. Da gibt es nichts zu verarbeiten. Sie sind fort und damit muss man leben.” meinte sie und wusste dabei direkt, dass ihr Therapeut recht hatte. “Wir mussten voran kommen, uns was aufbauen, schauen das wir überleben. Ich musste sicherstellen, dass ihnen nichts geschah. Es hätte nichts gebracht, um unsere Eltern zu trauern. Lange Zeit haben wir gehofft, dass sie wieder kommen, wir sie wiederfinden würden. Aber es war klar, dass wir uns nie wiedersehen würden. Dabei hätte ich sie gebraucht. Ich wusste, dass sie irgendwann nicht mehr sein werden und ich an ihrer Stelle stehen werde aber mir war nicht bewusst, wie verdammt hart es sein würde.” ergänzte die junge Wölfin mit aufgewühlter Stimme. Sich selbst Dinge einzugestehen war hart. Verdammt hart. “Ich soll lernen, auf meinen Instinkt, mein Herz zu hören und zu leben, weil ich das darf? Weil das mein Recht ist, für mich zu leben?” fragte sie zögerlich.

Vermutlich wäre dies etwas, was sie sich tätowieren lassen müsste, um es immer wieder durchzugehen. Etwas, was sie sich immer wieder sagen müsste, bis sie es richtig verinnerlicht hatte. Aber irgendwann würde es so sein, dass sie dies automatischer tat, das sie dies in sich aufsog und ihr Leben selbst gestaltete und wirklich für sich lebte. Ihre Geschwister hatten alle Familie, ein ganz eigenes Leben innerhalb des Rudels. Vielleicht durfte Lotta so was wirklich auch haben, es sich erlauben, danach zu streben? Sich danach sehnen, glücklich zu sein?
Es war der Fae der nun bei ihren weiteren Erklärungen über das damalige Geschehen mit ihrem brutalen Ex den Kopf leicht zur Seite neigte. Verständnis, für ihre damalige Situation. Ein entschlossenen und dennoch ruhige Nein folgte von ihm. Und als wartete er ihre Reaktion über diese Antwort ab, wartete er, bis sie erneut den Blickkontakt zu ihm suchte. „Josh hat dich so in sein Netz eingewickelt, dass du nicht anders konnte. Es war seine Art, dich zu manipulieren und dafür zu sorgen, dass du stetig glaubst, die Schuld für seine Taten zu tragen. Bürde dir das nicht noch weiter auf , Lotta.“, riet er ihr vollkommen ruhig.

Natürlich belastete es die junge Wölfin. Er sah es, wie sich ihre Körperhaltung veränderte, wie sie auf ihrer Lippe herumkaute. Etwas, was sich vollkommen änderte, als sie nun von diesem jungen Mann erzählte. Zum ersten Mal seid langem sah Mikail bei ihr wieder Lebensfreude. Er nickte zufrieden, als sie nun selbst zu dieser Erkenntnis kam. So hoffte er, dass sie auch tatsächlich den Rat ihrer Mutter befolgen würde. Den gleichen, den er ihr nun mit auf dem Weg gab.

Mikail atmete leise, doch hörbar aus und setzte die Tasse ab, die er eben an seine Lippen geführt hatte, als sie erneut nun eine weitere Erkenntnis fand. Nämlich die, dass ihr Bruder die Wahl getroffen hatte. Endlich. Ein kleiner Fortschritt. Doch wie hiess es so schon. Selbst die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Diese Reise würde noch lange andauern. Die Wunden der jungen Wölfin lagen tief. „Eine Entscheidung , die du akzeptieren musst. Auch wenn sie ohne dich getroffen wurde.“ Eindringlich sah er sie nun an. „Die Erinnerungen an ihn sind wertvoll, Lotta. Ich möchte sie dir nicht nehmen. Sie sollen in dir weiterleben, denn so wirst du ihn bei dir behalten können. Halt die schönen Momente fest und damit ihn selbst.“, riet er ihr.

„Du tust es doch gerade.“, schob sich leicht sein Kinn hinauf, ohne, dass dies provokant wirken konnte. „Du knurrst, bist zornig und wütend. Wenn du schreien willst, dann schrei. Wenn du toben willst, dann tobe. Wenn zu zuschlagen willst dann tu das.“ Machte er sich bereits in seinem Kopf Notizen, dass er sich einen Schrottwagen besorgte. „Ich werde dir den Raum dafür geben, wenn du es annimmst.“, sicherte er ihr zu und lehnte sich vor. „Du bist nicht allein. Ich werde hier sein. Oder, wenn du dem Einen vertraust…“, deutete er mit den Augen auf ihr Mal. „...dann sprich mit ihm. Erzähl es ihm. Wichtig ist, dass du es rauslässt, Lotta. Da ist es mir egal bei wem und wie, Hauptsache du lässt das Monster, dass dich droht aufzufressen, aus dir raus!“ Eindringlich sah er sie nun an. „Dann halte dich an dein Versprechen. Dieses Monster steckt in dir, dass dich langsam von innen verfrisst. Schick es verflucht noch einmal zur Hölle!“

Es waren warme, dunkle Augen, die sie betrachteten bei diesen doch eindringlichen Worten. Er wusste, dass sie darunter litt und er wusste, dass sie bereits zu lange darunter litt. All diese aufgestaute Emotion musste raus!

„Eine ehrenvolle Aufgabe und dennoch warst du zu jung.“, kam es sehr ruhig und dennoch kritisch von ihm. „Du hast sehr früh Last auf deine Schultern gelegt bekommen, die eigentlich für zwei Personen gedacht war.“, besah er sie noch einmal genau. „Lotta. Es war gut, dass du diese Last angenommen hast. Für deine Familie, deine Geschwister. Du bist daran gewachsen, während die Last weniger wurde im Laufe der Jahre. Deine Geschwister wurden älter, haben eigene Familien gegründet. Es ist nun an der Zeit dieses geringer werdende Gewicht auf deinen Schultern auszunutzen. Es wird Zeit, dass du anfängst zu leben.“ Und nickte zustimmend bei ihren Worten, als sie eingestand, wie hart diese Zeit war.

Er schmunzelte nun unter ihren Fragen. „Hör auf zu fragen, Lotta.“, warf er knapp an und lehnte sich zurück und nickte erneut. „Du darfst nicht nur – du sollst!“ , sicherte er ihr zu. „Du sollst und du musst! Denn du bist die Alpha. Hör auf deinen Instinkt und auf dein Herz!“
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