Wind Beyond Shadows

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Akiharu Sasaki

Ganz egal, wie gut man etwas auch plante, wie penibel man alle Eventualitäten berücksichtigte: Am Ende spielte das Leben nach seinen eigenen Regeln und ließ auch einen noch so gut durchdachten Plan in die Hose gehen. Akiharu wusste nicht, wie lange Nazar schon die Idee hatte, ihn vom Anwesen und damit auch von Xaldin und seinen dortigen Verpflichtungen wegzubringen, doch er ging fest davon aus, dass er alles ganz genau durchgegangen war, damit im besten Fall nichts schief ging, denn bisher war ihm der ältere immer wie jemand vorgekommen, der es nicht mochte, wenn etwas nicht nach Plan lief und somit versuchte, an alles zu denken. Dass ihnen mitten im Wald ein Reifen platzte gehörte wohl allerdings nicht zu den Dingen, die er im Kopf zuvor durchgespielt hatte.
Akiharu wartete gespannt darauf, ob ihm der andere seine Fragen beantworten würde, ob er seine Hoffnung darauf, in einem gewissen Rahmen wirklich frei sein zu können, bestätigte, als er mit einem Mal einen derben Fluch aus der Richtung des Fahrers hörte, bevor ein lauter Knall ihn zusammenzucken ließ. Anschließend ging alles viel zu schnell, um zu realisieren, was genau geschehen war. Mühsam versuchte er sich am Sitz neben sich festzukrallen, als das Fahrzeug ins schlingern geriet, was ihm jedoch mehr schlecht als recht gelang. Schnell verlor er den Halt. Sein Instinkt sagte ihm, dass er vor allem seinen Kopf schützen musste, weshalb er die Arme darüber legte und sich klein machte, während er die Augen zusammenkniff. Die wenigen Sekunden, in denen das Auto außer Kontrolle geriet, zogen sich zu Minuten und zu einer gefühlten Ewigkeit, in der sich erneut Angst in sein Herz schlich. Plötzlich knallte es ein weiteres Mal und sie blieben abrupt stehen. Durch den unerwarteten Stopp knallte er mit dem Rücken und dem Kopf unsanft gegen die Tür, wodurch er kurzzeitig das Bewusstsein verlor.

"...-haru…"
"Spr- … mir…"

Nur leise und langsam sickerten die Worte durch den Nebel in seinem Bewusstsein. Akiharus Kopf fühlte sich an, als wäre er in dicke Watte gepackt, die alle Geräusche um ihn herum filterte und den größten Teil von ihnen schluckte, sodass nur wenige Fetzen zu ihm durchdringen, die keinen Sinn ergaben. Sein Verstand versuchte sie zusammenzusetzen, versuchte ihnen eine Bedeutung zu geben, um zu wissen, was man von ihm wollte, doch er scheiterte auf ganz Linie. Stattdessen legte sich eine bleierne Müdigkeit über ihn, kroch in seine Knochen und ließ seine Glieder schwer werden. Es war so verlockend, sich ihr hinzugeben, die Augen geschlossen zu halten und erneut wegzudriften - weit weg in eine Welt, in der ihm niemand schaden konnte und in der sich seine Probleme in Luft auflösten. Akiharu war bereit, sich der Schwere hinzugeben, als er plötzlich etwas an seinem Arm spürte, gefolgt von einem sanften Zupfen an seinem Ärmel.
Sofort schaltete sein Körper in den Alarmmodus. Sein Puls beschleunigte sich und seine Hände begannen leicht zu schwitzen. Seine Nerven waren überreizt. Schneller als gedacht und unsanfter als gewollt, fand er aus der Bewusstlosigkeit heraus und zuckte automatisch zurück. Stoff riss, doch es dauerte einen entsetzlich langen Moment, bis er realisiert hatte, wo er sich befand und noch einen weiteren, um sich daran zu erinnern, was passiert war. Dabei bemerkte er die drei Augenpaare, die besorgt zu ihm sahen. Sayuri war ihm am nächsten, hatte noch immer ein Stück des Stoffs seines Pullis zwischen den Zähnen, was ihn erleichtert ausatmen ließ.
Noch etwas schwerfällig hob er die Hand und strich ihr über den Kopf, mit dem sie der Berührung freudig entgegenkam.
"Danke, Sayu", murmelte er, denn auch wenn ihre Berührung unbewusst beinahe die nächste Panikattacke ausgelöst hätte, hatte sie ihm doch geholfen, wieder zurückzufinden. Wieder einmal zeigte sich, dass er ohne sie vollkommen verloren wäre und auch wenn er Xaldin für alles, was dieser ihm angetan und wozu er ihn gezwungen hatte, aus tiefstem Herzen verabscheute, so musste er sich eingestehen, dass er mit dem Geschenk von Sayuri etwas Gutes getan hatte.
Unwillkürlich zuckte Akiharu bei diesem Gedanken zusammen, der sich so falsch anfühlte. Daher war er froh, als Nazar und ihr Fahrer sich einen Weg aus dem Fahrzeug bahnten. Auf noch etwas wackeligen Beinen folgte er ihnen und bemerkte, dass sie sich mitten im Wald befanden. Die Bäume standen dicht beisammen. Das Mondlicht hatte kaum eine Chance, durch die Baumwipfel bis zum Boden zu gelangen und wo es diese Hürde schaffte, warfen die Zweige und Blätter sich immer wieder wechselnde Schatten auf die Umgebung. In den Gebüschen und im Unterholz raschelte und knackte es, sodass er leicht zusammenzuckte und immer wieder in die Richtung blickte, aus der die Geräusche kamen.
Akiharu war bei weitem kein Angsthase. Wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, jeden Tag mit Sayuri im Wald spazieren zu gehen, hätte er es getan, anstatt mit ihr in den nahegelegenen Park zu gehen, wo er sie trotz allem angeleint lassen musste. Die Situation gerade war allerdings etwas ganz anderes. Er ahnte, dass Xaldins Männer bereits nach ihnen suchten. Es war mehr als genug Zeit vergangen, damit der Vampir bemerkte, dass sowohl Nazar als auch er fehlten, weshalb er bei jedem erneuten Rascheln Panik bekam, dass sie gefunden wurden. Zudem war die Atmosphäre sehr viel düsterer und drückender, als man es erwartete. Wie von selbst schoben sich die vielen alten Geschichten und Legenden über den Aokigahara in seinen Kopf, die ihm seine Mutter damals erzählt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Geschichten über Geister, die einen dort dazu brachten, Selbstmord zu begehen, als Märchen abgetan. Seit er durch Milou wusste, dass es Vampire und andere Wesen gab, würde er seine Meinung darüber wohl noch einmal überdenken.
Gerade war jedoch keine Zeit dafür und er war froh, als Nazar ihn fragte, ob er für einen weiteren Marsch bereit war, denn sowohl der Gedanke an Milou als auch der an seine Mutter versetzten ihm einen Stich - ganz besonders bei seiner Mutter, da er nie die Zeit hatte, ihren Tod wirklich zu verarbeiten.
Nur am Rande hatte er mitbekommen, wie ihr Fahrer erzählte, dass es ein paar Kilometer weiter ein Motel gab und Akiharu fröstelte bei dem Gedanken, dorthin zu laufen und dort die Nacht zu verbringen. Dennoch nickte er, denn etwas anderes blieb ihm kaum übrig. Sein Blick ging suchend zu Sayuri, die inzwischen direkt neben ihm stand und nur darauf zu warten schien, dass es los ging. Die Gewissheit, dass ihr durch den Unfall ebenfalls nichts passiert war, erleichterte ihn und so folgte er den beiden Männern quer durch den Wald - immer dem Licht der Taschenlampe hinterher, die ihr Fahrer in der Hand hielt und ihnen damit den Weg wies.
"Sind wir dort in dem Motel denn auch sicher?", sprach er nach einigen Minuten seine Bedenken aus. "Was, wenn… wenn Xaldin uns dort findet?"
Alleine bei der Vorstellung wurde ihm flau im Magen. Immerhin saßen sie nun für mehrere Stunden dort fest, bevor das Fahrzeug repariert werden konnte. Das Auto, das seine Fluchtmöglichkeit war. Sein Ausweg aus der Gefangenschaft und hinein in ein weit freieres Leben, als er es die letzten Jahre hatte führen dürfen. Bei der Erinnerung daran, fiel ihm auch wieder ein, dass er Nazar nach dem Ort gefragt hatte, zu dem dieser ihn bringen wollte. Der sichere Hafen, an dem selbst Xaldin ihn nicht finden können sollte.
Akiharu wandte sich zu ihm, wollte die Frage gerade erneut stellen und ihn somit daran erinnern, als er mit dem Fuß an einer Wurzel hängen blieb. Er strauchelte, fand aber zum Glück sein Gleichgewicht wieder, bevor er stürzen konnte. Vielleicht sollte er die Frage doch auf später verschieben, denn der Weg quer durch den Wald verlangte einfach zu viel von seiner Aufmerksamkeit...

Nazar

Es dauerte lange, bis sich Nazar sicher war, dass Akiharu nichts passiert war. Zumindest nichts, was in den nächsten zehn Minuten zu seinem Tod führen würde. Er hatte alles bis ins kleinste Detail geplant, hatte sich um die Ruhepunkte gekümmert, hatte die Fahrzeuge weise gewählt und hatte sich auch einen Notfallplan ausgedacht. Doch mit der Tatsache, dass dieser Reifen platzte und der Van gegen einen Baum knallte, hatte er nicht gerechnet. Ein stummer Fluch verließ seine Lippen, ehe er sich endgültig außerhalb des Wagens wiederfand.
Er sah sich um. Der Wald war dunkel, ließ kaum den Mondschein durch die dichten Baumwipfel und er war froh, dass der Fahrer schnell eine Taschenlampe irgendwo hervorkramte. Dann sah er zu Akiharu, fragte ihn, ob er bereit war, den Marsch anzutreten. Doch er bekam nur ein Nicken, etwas, womit er schon gerechnet hatte. Wenn er es sich richtig überlegte, hatte Akiharu keine andere Wahl als mit ihnen zu gehen.
Motel… Bei dem Gedanken daran, dort auf unbestimmte Zeit festzusitzen, schob sich ein ungutes Gefühl in seinem Inneren hervor, machte sich in seinem Kopf breit und schnürte ihm die Kehle zu. In verschiedenen Filmen wurden solche Absteigen als miese Unterkunft gezeigt, Kakerlaken und Ungeziefer, welches über den Boden kroch, Betten, Decken und Kissen, welche die beste Zeit schon hinter sich hatten und überall Löcher hatten. Bei einigen konnte man sogar noch Zeuge von gewissen Aktivitäten werden…
Nazar zwang sich dazu, die Gedanken zur Seite zu schieben. Er folgte dem Lichtstrahl, den die Taschenlampe warf und blickte immer wieder zurück, um zu sehen, ob Akiharu mit ihnen mithalten konnte. Vielleicht sollte er sich zurückfallen lassen, das Schlusslicht bilden… Doch der Fahrer sagte etwas, wobei er nicht die Worte verstand, sondern einfach nickte, einen Laut von sich gab, um zu bestätigen, was er sagte. Auch wenn er nicht wusste, was er gesagt hatte.
Aber die Worte, die Akiharu aussprach, hörte Nazar dafür umso deutlicher.
"Sind wir dort in dem Motel denn auch sicher? Was, wenn… Wenn Xaldin uns dort findet?"
Nazar blieb augenblicklich stehen, sah zu Akiharu und versuchte dessen Gesichtsausdruck in der Dunkelheit wahrzunehmen. Doch er erkannte lediglich die Umrisse, konnte nicht sagen, wohin er blickte und was ihm durch den Kopf ging.
„Ich werde alles tun, was ich kann, um diesen Ort sicher werden zu lassen“, sagte Nazar und atmete tief durch. „Ich werde nicht zulassen, dass er dich noch einmal in seine Finger bekommt.“
Unauffällig ballte er die Hände zu Fäusten, versuchte den Drang zu unterdrücken, die Hände nach Akiharu auszustrecken und ihn berühren zu wollen, um zu zeigen, dass er in Sicherheit war. Doch mittlerweile wusste er, dass die Berührung bei ihm Panikattacken auslösten. Und das wollte er nicht riskieren. Nicht nachdem, was er herausgefunden hatte und wie es sich auf Akiharu auswirkte. Auf keinen Fall wollte er, dass Akiharu noch einmal in diesen Zustand verfiel. Nicht seinetwegen. Nicht wegen irgendjemand anderes.
„Komm, lass uns weitergehen“, sagte er in die Dunkelheit hinein, um nicht nur Akiharu aufzufordern, weiterzugehen, sondern auch sich selbst.
Allerdings gehorchten seine Gliedmaßen nicht, sondern regten sich nicht einen Millimeter. Er forderte seine Muskeln auf, sich in Bewegung zu setzen, schrie sie gedanklich an. Aber es führte nichts dazu, dass er endlich loslief. Stattdessen blieb er stehen und sah weiter zu Akiharu, während das Licht der Taschenlampe immer mehr abnahm und fast schon verschwunden war. Doch er konnte auch nicht nach dem Fahrer rufen, der gar nicht mitzubekommen schien, dass sie nicht länger hinter ihm waren.
Als Akiharu den ersten Schritt tat, schien er über etwas zu stolpern. Eine Wurzel, die eigenen Füße oder etwas anderes? Nazar wusste es nicht. Es schien, als würde er straucheln. Dieses Mal reagierte sein Körper, handelte, bevor sein Kopf etwas dagegen unternehmen konnte. Er streckte die Hände aus, versuchte Akiharu aufzufangen. Doch dieser fing sich schnell selbst wieder und erst da realisierte Nazar, was er gerade tun wollte. Er wollte die Finger um Akiharus zierlichen Körper legen, ihn auffangen und vor dem Sturz bewahren, wollte ihn berühren. Berühren. Er hätte dafür gesorgt, dass Akiharu eine weitere Panikattacke erlitt und sich sein Körper wieder verkrampfte, er hyperventilierte und der Realität entschwand.
„Ich…“, begann Nazar und wandte den Blick ab, drehte sich in die Richtung des Fahrers und bemerkte, dass dieser endlich stehen geblieben war.
„Kommt ihr?“, rief dieser durch den Wald, gerade so laut, dass die Worte zu ihnen drangen.
„Los…“, sagte Nazar und wies Akiharu an, endlich weiterzugehen.
Dieses Mal nutzte Nazar die Chance, sich ans Ende des kleinen Trupps zu setzen. Er musste Akiharu im Auge behalten, ebenso die Umgebung. Die Männer, die Xaldin aussandte, um sie zu finden, waren eine Sache. Die Tiere hier im Wald waren ein weiteres Problem. Soweit er wusste, gab es hier nichts als Hirsche und Wildschweine, keine Wölfe oder andere gefährliche Tiere. Dennoch konnten auch die harmlosen Lebewesen gefährlich werden, wenn sie um ihr Leben fürchteten.
Langsam setzten sie sich wieder in Bewegung, schlossen zum Fahrer auf und durchquerten mehr schlecht als recht den dichten Wald. Irgendwann kamen sie wieder an einem Highway heraus. Kurz darauf passierten sie ein Hinweisschild und irgendwann, Nazar wusste nicht mehr, wie lange sie durch die Nacht gelaufen waren, kamen sie vor dem Motel zum Stehen.
Der Fahrer wies sie kurz an, zu warten und ging zu einer schmalen Tür, auf der etwas wie »Rezeption« zu stehen schien. Nur wenige Minuten später kam er mit zwei Schlüsseln wieder und warf Nazar einen von diesen entgegen. Mit schnellen Reflexen fing er diesen auf, sah auf die Nummer und nickte dem Fahrer entgegen. Dann ging dieser in eine andere Richtung, als Nazar Akiharu anwies, zum Zimmer mit der Nummer des Schlüssels zu gehen.
Als sie vor der Tür zum Stehen kamen, schloss Nazar das Zimmer auf und ging hinein, um das Licht anzuschalten. Er sah sich rasch um und überprüfte, ob der Raum genügend Sicherheit für Akiharu bieten würde. Dann eilte er zurück zu Akiharu.
„Du kannst hereinkommen. Geh duschen und dann geh schlafen. Ich werde aufpassen, ob sich irgendetwas tut“, wies er ihn weiter an.
Es gab ein großes Doppelbett, eine Zweisitzer-Couch und einen Sessel, der schon seine besten Zeiten hinter sich hatte. Doch um Wache zu halten, sollte er ausreichen. Während er die Tür sorgfältig verriegelte, spähte er noch einmal durch das Fenster und verschloss die Vorhänge. Dann verschob er den Sessel und überprüfte, ob er durch dessen neue Position alles im Blick hatte.
Er konnte sich dennoch nicht zur Ruhe begeben, denn er ging zur kleinen Minibar und öffnete die Tür. Daraus holte er eine Schachtel mit Nüssen, Kekse und etwas zu trinken. Er stellte alles auf einen Tisch und betrachtete die spärliche Auswahl. Doch was hatte er erwartet? Steak, Burger und teuren Champagner? Damit hätte er hier nicht rechnen dürfen, dennoch hatte er sich mehr erhofft. Dennoch würde es den größten Hunger vertreiben und wenn man wusste, wie es war, tagelang nichts zu essen zu bekommen, gab man sich auch mit kleinen Dingen zufrieden.
Es erinnerte ihn an die Zeit, als er kurzzeitig auf der Straße gelebt hatte, sich um sein Essen prügeln musste und häufig verloren hatte. Irgendwann hatte sein Magen aufgehört, sich lautstark zu beschweren. Und das Wasser, was er aus den Pfützen und Flüssen getrunken hatte, hatte nur notdürftig für ein paar Stunden angehalten. Auch die Verdauung hatte ihm lange Zeit zu schaffen gemacht.
Als er seinen Blick anhob, bemerkte er, dass Akiharu noch immer am gleichen Platz stand, wie bereits nach dem Eintreten in dieses Motelzimmers.
„Akiharu?“, fragte Nazar und hoffte ihn somit aus der Starre zu reißen. „Ist alles okay? Du solltest duschen und dann schlafen… Es war anstrengend und du brauchst deine Kraft…“
Etwas in seinem Inneren rief danach, dass er zu ihm gehen sollte, ihm die Hand auf die Schulter legen sollte und diese sanft drücken sollte. Doch er rief sich ebenfalls ins Gedächtnis, dass er dies nicht tun durfte. Akiharu hasste Berührung und würde nur die nächste Panikattacke bekommen.
„Du bist in Sicherheit. Du kannst dir im Bad so viel Zeit lassen, wie du brauchst. Aber… Wenn ich denke, dass du zu lange brauchst, werde ich nicht zögern, hereinzukommen…“
Nazar sprach diese Worte leise aus und er hoffte, dass Akiharu die Worte nicht falsch aufnahm. Er hatte ihn im Badezimmer vorgefunden, das Wasser bereits eiskalt und sein Körper darin. Die Fingernägel in seine Haut gedrückt und kleine, rote Rinnsalen liefen von den Wunden hinab. Das Bild vor seinem inneren Auge rief Dinge in ihm wach, von denen er gedacht hatte, er hätte sie schon lange Zeit abgelegt. Gefühle regten sich und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte…
„Wirklich, du bist hier sicher. Ich werde dafür sorgen. Und Sayuri ebenfalls. Sie wird auf dich aufpassen. Immer. Du weißt, dass sie dir ein treuer Begleiter ist.“


Akiharu Sasaki

Man konnte nicht behaupten, dass Akiharu Angst davor hätte, draußen zu sein, wenn es dunkel war. Eine Zeit lang mochte er es sogar, nachts durch die Straßen zu laufen. Gerade damals als er dort noch lebte, waren die Wochenenden, wenn die Menschen betrunken von einer Party kamen, die beste Zeit, um sich ein kleines Taschengeld zu verdienen. Geld mit dem er es anschließend zumindest bis zur nächsten Woche schaffte. Immerhin hatten die Geschäfte zum Sonntag geschlossen und er musste sich bereits einen Tag zuvor mit allem bevorraten, was er brauchte und tragen konnte. Er tat es nicht gerne. Diebstahl und auch Einbruch waren etwas, das er zutiefst verabscheute. Gleichzeitig waren es Dinge, die ihn am Leben hielten, denn es gab zu viele Obdachlose, die Flaschen sammelten oder bettelten, sodass es bei weitem nicht genug für jeden von ihnen gab. Sich strafbar zu machen war somit der einzige Weg, um nicht zu verhungern.
In dieser Zeit hatte er die dunklen Stunden des Tages für sich entdeckt. Heute lag die Sache ein wenig anders. Die Finsternis um ihn herum war drückend und alles andere als angenehm. Die Geräusche, das Knacken und Rascheln im Unterholz, verängstigten ihn, da er nicht wusste, ob es sich dabei lediglich um ein paar aufgeschreckte oder nachtaktive Tiere handelte oder doch um Xaldins Männer, die auf der Suche nach ihnen waren und sich durch den Wald schlichen. Bei der Vorstellung, dass sie ihnen bereits so nah waren, bildete sich ein Knoten in seinem Bauch. Instinktiv fuhr er mit einer Hand darüber und schluckte, als sich Übelkeit hinzugesellte. Zusätzlich sah er über die Schulter zurück und zu der Stelle, von wo erneut ein Knacken zu hören war. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit. Das Licht des Mondes drang gerade so durch die Baumwipfel und zeichnete abstrakte Figuren an die Stelle, zu der er sah. Fasziniert aber auch mit einem flauen Gefühl im Magen sah er dennoch weiterhin in die Richtung, sodass er nicht merkte, wie Nazar vor ihm plötzlich stehen blieb. Unsanft stieß er mit ihm zusammen, wodurch seine Aufmerksamkeit direkt wieder bei diesem und ihrem Weg lag. Sobald er sich gefangen hatte, trat er einen Schritt zurück und - den eingebläuten Verhaltensregeln folgend - senkte er den Blick zu Boden. Automatisch deutete er eine Verbeugung an.
"Verzeihung… Ich wollte nicht-", begann er, kam jedoch nicht dazu, seinen Satz zu beenden, da ihm Sayuri in dem Moment bereits am Ärmel zupfte, als wollte sie ihm sagen, dass dies nicht nötig war. Zudem sorgten auch Nazars Worte dafür, dass er ganz vergaß, was er überhaupt sagen wollte. Stattdessen blickte er überrascht zu ihm und presste die Lippen aufeinander. Wieder kam die Frage in ihm auf, warum Nazar all dies für ihn tat, denn bislang hatte er keine Antwort erhalten, die ihn wirklich zufriedenstellte und es seiner Meinung nach wirklich erklärte. Immerhin wusste der ältere, was ihm blühte, sollte Xaldin ihn jemals zwischen die Finger bekommen. Akiharu selbst wollte es sich nicht einmal ausmalen. Es gab schon genug Bilder und Alpträume, die ihn Nacht für Nacht quälten.
Da er nicht wusste, was er dazu sagen sollte, nickte er nur, fügte aber ein leises "Okay" an, als ihm bewusst wurde, dass der andere es im immer weniger werdenden Licht der Taschenlampe womöglich gar nicht sah. Diese Tatsache sorgte auch dafür, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief, als in der Ferne ein Kuckuck seinen Ruf hören ließ und kurz darauf erneutes Geraschel zu hören war. Instinktiv sah er erneut in die Richtung, obwohl er nun noch weit weniger erkannte als zuvor. Somit bemerkte er auch nichts von Nazars Problem, sich in Bewegung zu setzen, als er es kurz nach dessen Worten selbst tat. Da sein Blick noch immer auf seine Umgebung gerichtet war, achtete er jedoch auch nicht auf die Bodenverhältnisse, die alles andere als einfach waren. So kam es, dass er sich in einer Wurzel oder etwas ähnlichem verfing und beinahe stürzte. Zum Glück konnte er sich schnell wieder fangen und das Gleichgewicht halten - nur um kurz darauf direkt wieder zu stocken, als er sah, dass Nazar die Hände nach ihm ausgestreckt hielt.
Akiharu konnte sich denken, dass er es nur gut meinte und ihn abfangen wollte. Schließlich war er bisher immer für sein Wohlergehen zuständig und tat alles, damit ihm nichts geschah, was nicht geschehen sollte. Dennoch wurde ihm die Brust eng und er war erleichtert, als der Fahrer des Wagens die Situation auflöste, indem er nach ihnen fragte. Nach einem kurzen Kopfschütteln setzte er sich wieder in Bewegung und folgte dem für ihn noch immer fremden Mann. Dass Nazar sich nun anders als zuvor hinter ihn fallen ließ, blieb von ihm nicht unbemerkt und auch wenn es ihn in jeder anderen Situation beunruhigt hätte, einen von Xaldins Männern im Dunkeln hinter sich zu wissen, war es nun doch anders. Er fühlte sich sicher, konnte die Geräusche um sich herum besser ausblenden und sich auf den Weg vor ihm konzentrieren, sodass er schnell zu dem anderen aufschloss, ohne ein weiteres Mal zu stolpern.
Eine gefühlte Ewigkeit später kamen sie an dem Motel an, von dem ihr Fahrer gesprochen hatte. Akiharu wusste nicht, wie lange sie durch die Nacht gelaufen waren, doch der Himmel wirkte nicht so, als würde die Dämmerung kurz bevor stehen. Doch ganz egal, wie lange es auch gedauert hatte, er war froh endlich da zu sein. Seine Füße schmerzten durch den unwegsamen Pfad des Waldes und dem harten Asphalt des Highways, dem sie zuletzt gefolgt waren. Er sehnte sich nach ein wenig Ruhe und Schlaf, auch wenn er nicht wusste, ob er diesen an einem solchen Ort und mit der Gefahr im Rücken wirklich finden würde. Dennoch wartete er beinahe ungeduldig vor der Tür mit der Aufschrift "Rezeption" und konnte sogar einen Blick ins Innere riskieren, als ihr Fahrer wieder herauskam. Der Mann hinter dem Tresen direkt gegenüber sah zu ihm und Akiharu meinte zu sehen, wie sich dessen Augen weiteten. Jedoch war er sich nicht sicher, ob aus Überraschung oder aus einem anderen Grund. Genauso gut konnte er es sich eingebildet haben, da der Moment kurz andauerte, bevor die Tür ins Schloss fiel.
Die Gedanken an den Augenblick begleiteten ihn hingegen sehr viel länger. Wieso hatte der Mann so reagiert? War es, weil er noch so jung war und sich in Begleitung zweier erwachsener Männer befand? Oder hatte er ihn erkannt? Wobei er sich sicher war, ihn noch nie in seinem Leben gesehen zu haben. Vielleicht verwechselte er ihn also auch nur?
Bei dieser Überlegung wurde ihm ganz anders und er hatte das Gefühl, hier doch nicht so sicher zu sein, wie Nazar ihm auf dem Weg hierher versuchte zu versichern. Ein Gefühl, das nicht besser wurde, als er das Innere des Motelzimmers sah. Die Einrichtung bestand lediglich aus einem Bett, einem kleinen Sofa für zwei Personen, einem Sessel, einem Kleiderschrank und - zu aller Überraschung - einer kleinen Minibar. Das alles hatte seine besten Tage bereits hinter sich, doch das interessierte Akiharu nicht. Sein Blick blieb ganz allein an dem Doppelbett hängen, welches das ungute Gefühl nur noch verstärkte. Seine Finger krampften sich um den Türrahmen, neben dem er noch immer stand, während eine Erinnerung versuchte ihren Weg von seinem Unterbewusstsein in seinen Kopf zu finden. Immerhin war er nicht das erste Mal in einem solch schäbigen Motel und das Erlebnis, welches er damit Verband, war kein Schönes.
Er erinnerte sich gut an einen der Geschäftspartner, der das Privileg hatte, ihn mit in seine Privatwohnung zu nehmen. Nur hatte er bereits während des Essens kaum verstecken können, was er am liebsten an Ort und Stelle mit ihm getan hätte. So war es kaum verwunderlich, dass er nicht abwartete, bis sie bei ihm waren. Stattdessen hatte er seinen Fahrer angewiesen, das nächstbeste Motel anzusteuern…
Akiharu?
Die Nennung seines Namens zog ihn aus der Erinnerung und er zuckte zusammen. Für einen Moment noch orientierungslos blickte er sich um, bis seine Augen an Nazar hängen blieben, der ihn besorgt ansah. Er hörte dessen Worte und begriff auch den Sinn dahinter, was ihn unweigerlich daran denken ließ, dass ihn der andere an diesem Abend bereits schon einmal aus dem Badezimmer holen musste. Und auch daran, wie dieser ihn gesehen hatte. Eine Gänsehaut breitete sich über seinen Körper aus und ließ ihn leicht zittern. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, nickte und wandte sich anschließend in Richtung des Bades. Dort angekommen blieb er erneut im Türrahmen stehen.
Wirklich, du bist hier sicher. Ich werde dafür sorgen.
Sollte er ihm also etwas von seinem unguten Gefühl bezüglich des Mannes an der Rezeption etwas sagen? Oder hatte er es gar selbst gesehen? Doch wäre er dann noch hier und hätte nur das Zimmer abgesucht, ob dieses sicher war?
Akiharu presste die Lippen zusammen in zögerte, bis er über die Schulter zu Nazar zurückschaute.
"Der Mann an der Rezeption… Er… Er hat so seltsam geschaut, als er mich gesehen hat. Er wirkte… überrascht. Meinst du, er hat mich erkannt?"
Unmöglich war es nicht, denn er war sich sicher, dass Xaldin seine Spitzel und Spione überall hatte. Ganz besonders nach seinem ersten Fluchtversuch. Dennoch hoffte er, dass er falsch lag, denn der Gedanke daran, dass seine Flucht bereits an diesem Ort enden könnte und er zurück musste, bereitete ihm Übelkeit. Er wollte sich nicht vorstellen, wieder vor Xaldin zu stehen, denn die Strafe, die dann auf ihn wartete, wäre wohl die schlimmste, die er je bekommen würde. Wenn er sie überhaupt überlebte… Ein Gedanke, der ihn erneut zittern ließ.
"Ich… gehe erstmal duschen…", murmelte er und war kurz darauf im Bad verschwunden. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, drehte er den Schlüssel herum und ließ sich an dem Holz im Rücken auf den Boden gleiten. Auch wenn er sicher war, dass diese Maßnahme niemanden von Xaldins Gefolgsleuten aufhalten würde, sollten sich seine Vermutung und seine Angst bestätigen, fühlte er sich so doch ein klein wenig sicherer...

Nazar

Seit vielen Jahren – oder zumindest fühlte es sich so an – war er nun für den Schutz von Akiharu zuständig. Er kümmerte sich darum, ihn von der Schule abzuholen, ihn dorthin zu begleiten und dafür zu sorgen, dass er immer pünktlich war. Gleichzeitig hielt er ein Auge auf dessen Gesundheit, wann immer es nötig war. Dass er schon immer etwas mager war, hatte ihn nie gestört. Stattdessen hatte er sich gefragt, was dem Jungen widerfahren und aus welchen Verhältnissen er gekommen war. Nie hatte er nachgefragt oder es auch nur gewagt, in den Akten, die Xaldin zu jedem von ihnen angelegt hatte, nachzusehen. Stattdessen hatte er gehofft, genug Distanz zu bewahren, sich von dem Jungen fernzuhalten und ihn nicht nahe genug an sich heranzulassen. Doch jetzt, wo er mit ihm durch das Dickicht lief, war ihm alles andere egal. Er musste Akiharu beschützen, ihn durch die dunkle Nacht führen und das, ohne ihn zu berühren oder zu führen. Alles, was ihn interessierte, war die Tatsache, dass er heile aus diesem Wald herauskam. Immer wieder drangen Geräusche an sein Ohr und er hoffte, dass es lediglich Tiere waren, die in der Nacht umherstrichen. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn es einige von Xaldins Männer waren. Dabei wusste er, was für Strafen auf ihn zukommen würden, wenn sie ihn erwischten. Ausmalen, was sie mit Akiharu tun würden, wollte er sich erst gar nicht. Gerade als sein Bekannter und der Fahrer des Vans etwas sagte, bemerkte er, dass er die Hände nach Akiharu ausgestreckt hatte, als er ins Stolpern kam. Doch die Stimme des anderen Mannes riss ihn aus seiner Tat und er ließ die Hände sinken. Als sie weitergingen, ließ er sich hinter Akiharu fallen und sorgte so zum Schutz von ihm. Es war schwachsinnig, vor ihm zu laufen, wenn die Fieslinge von hinten kamen. So konnte er Akiharu beschützen, auch wenn es womöglich sein Ende bedeuten würde.
Als sie endlich das Motel erreichten, war Nazar sichtlich froh, den finsteren Wald hinter sich zu lassen und endlich etwas Zivilisation erreicht zu haben. Auch wenn er nicht wusste, inwieweit Xaldin seine Fühler ausgestreckt hatte, war er sich sicher, dass sie nicht allzu lange an einem Ort bleiben sollten. Wenn die Sonne aufging, sollten sie schleunigst weiter und so gut vorankommen, dass sie die Stadtgrenze hinter sich ließen. Vielleicht könnten sie bis zum Mittag die Grenze des Landes passieren, um den anderen Bundesstaat erreicht zu haben.
Nazar hatte ebenso vor der Tür zur Rezeption gestanden, bis der Fahrer wieder herauskam und ihnen einen Schlüssel überreichte. Schnellen Schrittes war er zum besagten Zimmer gegangen, hatte nach dem Rechten gesehen. Auch wenn es ihn gestört hatte, Akiharu vor dem Zimmer stehenzulassen, musste er sich vergewissern, dass im Inneren alles in Ordnung war. Es war zumindest für den Moment sicher, sodass sie ohne Problem bis zum Morgengrauen hierbleiben konnten. Er sah den Jungen an, als dieser noch immer im Türrahmen stehenblieb und der Einrichtung einen abwertenden Blick zuwarf. Er wusste, die Möbel hatten ihre besten Zeiten hinter sich gebracht und es war nichts mehr einen Penny wert. Doch für den Moment würde es gehen. Er musste nur dafür sorgen, dass Akiharu etwas aß und sich hinlegte, um wieder zu Kräften zu kommen. Es würde in den nächsten Tagen bestimmt noch viel Aufregung auf sie zukommen, so wie er den weiteren Weg vor geistigem Auge betrachtete. Sie hatten nicht einmal ein Drittel des Weges geschafft, weil der Reifen des Autos geplatzt war. Das hatte sie um Welten zurückgeworfen und es ärgerte Nazar immer noch, dass der Fahrer nicht besser auf die Fahrtüchtigkeit geachtet hatte. Verdammt!
Er wies den Jungen an, etwas zu essen und sich dann schlafen zu legen. Doch ihm entging nicht, was sich im Gesicht von Akiharu abzeichnete. Der Gesichtsausdruck veränderte sich, verdunkelte sich erneut und sein Körper bebte kaum merklich. Doch, nach all der Zeit, kannte er den Jungen etwas. Auch wenn er nie zugeben würde, dass ihm solche Veränderungen auffielen, bemerkte er sie dennoch. Immerhin hatte Xaldin ihn damals aufgetragen, auf das Wohl des Jungen zu achten.
Als er ihn darauf ansprach, dass er duschen gehen sollte und er trotzdem nicht zu lange brauchen sollte, presste er die Zähne zusammen und ohrfeigte sich gedanklich. Er hätte das Ganze feinfühliger angehen lassen sollen. Doch stattdessen war er wie eine Abrissbirne in das alte Gemäuer eingefallen. Er hatte auch mit einem Fernrohr an dem Maschinengewehr direkt auf Akiharus Herz zielen und abdrücken können. Dabei wäre es auf das Gleiche hinausgelaufen. Er hatte ihn verletzt, hatte Erinnerungen hervorgerufen und dafür gesorgt, dass er um Stunden zurückgeschleudert wurde.
Nazar beobachtete, wie Akiharu wie ferngesteuert auf das Badezimmer zulief und dann erneut im Türrahmen stehenblieb. Er wollte schon fragen, ob er etwas brauchte, aber da sprach Akiharu von allein. Dann warf er ihm über die Schulter einen Blick zu, den Nazar nicht richtig deuten konnte. Doch die Worte, die er aussprach, brannten sich tief in seinem Kopf ein.
»Er hat so seltsam geschaut, als er mich gesehen hat. Er wirkte… überrascht. Meinst du, er hat mich erkannt?«
Als er sich an diesen Moment erinnerte, hatte er wirklich eine Veränderung in dessen Gesicht bemerkt. Aber er hatte es eher darauf geschoben, dass es schon ziemlich spät war und womöglich nur wenige Gäste zu solch vorangeschrittener Stunde ankamen. Doch wenn er darüber genau nachdachte, musste er sich noch einmal mit dem Mann unterhalten. Es war nicht abzustreiten, dass er ihn zumindest einmal gesehen hatte. Schnell ging er im Inneren alle Gesichter durch, die er all die Jahre in Diensten von Xaldin gesehen hatte. Doch diesen Mann hatte er noch nie gesehen, weder als Spielzeug von irgendeinem Kunden von Xaldin, noch als Begleitung oder als Gast, während Xaldin in irgendeinem Restaurant diniert hatte. Trotzdem konnte er sich nicht sicher sein, wieso dieser Mann so überrascht geschaut hatte.
„Gehe duschen, ich werde hier auf dich warten…“, versicherte Nazar und versuchte, so wenig wie möglich die Lüge heraushören zu lassen.
Er hatte sich innerhalb von wenigen Momenten dazu entschlossen, dieser Sache nachzugehen und den Mann zu konfrontieren. Aber dazu musste er sicher sein, dass Akiharu unter der Dusche stand und das Wasser lief. Dann würde er sich beeilen müssen, um zurück zu sein, noch ehe er wieder zurückkehrte.
„Mach dir keine Sorgen, ich werde auf dich aufpassen“, sprach Nazar ruhig weiter und schluckte die restlichen Worte, die in seiner Kehle brannten, herunter.
Er konnte nicht sagen, dass er für Akiharus Sicherheit sorgen würde, selbst dann, wenn es sein Leben kosten würde. Doch er wollte ihn wenigstens bis zu dieser Schule bringen, wo er definitiv vor Xaldin sicher sein sollte. Dann würde er sich daran machen, eine Spur zu legen, die von Akiharu wegführte und dafür sorgen, dass er wirklich sicher war. Auch dann, wenn er ihn eine ganze Zeit lang nicht mehr sehen würde.
»Ich… gehe erstmal duschen…«
Akiharu riss ihn mit diesen Worten aus den Gedanken und dann war er auch schon verschwunden, sodass Nazar allein in dem Wohnbereich zurückblieb. Er betrachtete die Auslage an Essen und seufzte. Das Wasser aus dieser Leitung konnte man kaum noch trinken und die Wasserflaschen, die er aus der Minibar geholt hatte, waren auch nicht mehr gerade genießbar. Er musste also wirklich noch einmal aus dem Motelzimmer, um etwas Trinkbares zu finden.
Er wusste nicht, wie lange er einfach nur da stand und wartete, bis das Wasser lief. Doch als es endlich soweit war, trat er aus dem Zimmer und ging zurück zur Tür, hinter der sich die Rezeption befand. Als er diese aufdrückte, entdeckte er den Mann, der ihn mit großen Augen ansah.
„Na, haben wir etwas vergessen?“, fragte er und ließ den überheblichen Ton in seiner Stimme deutlich heraushören.
„Ich will nur neues Wasser holen“, erwiderte Nazar und griff unter das dunkle Jackett, welches er trug.
Doch statt nach seinem Geldbeutel zu greifen, dass in der Innentasche steckte, griff er nach der Neun-Millimeter, die er im Halfter trug. Er sprang mit einem gekonnten Sprung über den Tresen, sodass er den Mann mit sich zu Boden riss. Er hielt ihm den Lauf an die Schläfe und betrachtete erst den Schalldämpfer und dann die weit aufgerissenen Augen des Mannes.
„Was hast du weitergegeben?“, fragte Nazar trocken. „Ich weiß, dass du Xaldin irgendetwas gesteckt hast…“
Nazar entsicherte die Waffe, um seinen Wunsch auf Antworten, noch mehr Nachdruck zu verleihen.
„Sprich!“, presste er hervor, bekam stammelnde Worte als Erwiderung und als er einen üblen Duft vernahm, sah er an dem alten Mann hinab.
Seine Hose bekam einen dunklen Fleck und Nazar lachte finster auf. Ein Mann, der für Xaldin arbeitete und sich beim kleinsten Problem in die Hose machte? Irgendwie empfand Nazar es als amüsant. Doch dann konzentrierte er sich wieder auf das eigentliche Problem und beugte sich noch tiefer zu dem alten Mann hinab.
„Du wirst noch einmal anrufen und sagen, wir wären weitergefahren. Wir hätten uns einen Wagen geschnappt und wären in den Süden gefahren“, befahl er dem Alten und reichte ihm das Handy, welches auf dem Tresen lag. „Haben wir uns verstanden?“
Erneut kamen stammelnd etwas vom Mann, ehe er nickte und das Handy umständlich entsperrte. Dann brabbelte er irgendetwas in den Hörer und legte nach wenigen Momenten auch wieder auf.
„Vielen Dank“, erwiderte Nazar, als er das Telefon wieder an sich nahm und in der Jacketttasche verschwinden ließ.
Als er den Mann in die Augen sah, konnte er es sich nicht verkneifen, daran zu denken, dass Akiharu durch diesen Mann in Gefahr geraten war und Xaldin ihnen auf der Spur war. Vermutlich waren auch andere Hotels, Pensionen und Motels informiert worden. Er musste in sich gehen, um herauszufinden, wo sie sicher waren und sich für die Nacht verstecken konnten. Doch er wusste nicht, wie weit sich Xaldins Netz ausgebreitet hatte, seitdem er nur noch für den Dienst zu Akiharus Sicherheit abgestellt war. Zwar hatte er auch Aufgaben für Xaldin erledigt, aber aus einem unerfindlichen Grund war er in seinem Aufgabenfeld degradiert worden. Aber als er sich wieder auf den alten Mann konzentrierte, drückte er ihm den Lauf noch fester gegen die Schläfe.
„B-Bitte…“, flehte er und Tränen traten in dessen Augen. „N-Ni-Nicht…“
„Du hast es nicht verdient, weiterzuleben… Wenn Xaldin herausfindet, dass du ihn angelogen hast, wirst du sowieso sterben. Also sei mir dankbar, dass ich dich jetzt schon umbringe.“
Als sich die Augen noch weiter aufrissen und er panisch versuchte, dem Griff von Nazar zu entkommen, packte er ihn stattdessen noch fester, drückte ihn noch mehr auf den Boden und kniete sich auf ihn. Drückte das Knie auf dessen Brustkorb, drückte die Lungen zusammen und hielt ihn an Ort und Stelle.
„Du hast mit deinem Anruf dafür gesorgt, dass Akiharu zum Tode verurteilt wurde“, presste Nazar wütend hervor und legte den Zeigefinger an den Abzug der Waffe.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, drückte er ab. Der leise Schuss durchdrang den Schädel, drang auf der anderen Seite wieder aus und sorgte dafür, dass Blut aus den Einschusslöchern trat. Die winzigen Spritzer, die durch den Eintritt nach oben flogen, trafen Nazar am Gesicht und an der Kleidung. Doch es kümmerte ihn nicht weiter. Er ließ den Kerl los, stand auf und atmete tief durch. Er musste sich wirklich etwas anderes überlegen, wenn er weiterhin dafür sorgen wollte, dass Akiharu in Sicherheit war. Als er die Tür hinter sich sorgsam verschloss, versicherte er sich, dass die Tür mit dem Schlüssel ordentlich verriegelt war. Niemand würde vor dem Morgengrauen oder dem Mittag mitbekommen, was sich hinter dieser Tür verbarg, denn niemand würde hereinkommen. Niemand würde ins Innere dieses kleinen Raumes gelangen. Dafür sorgte Nazar, indem er den Schlüssel im Abwasserkanal versenkte. Auf dem Weg zurück zum Motelzimmer, indem sich Akiharu befand, warf er einen Schlüssel in die Luft und fing ihn mit einer gekonnten Geste wieder auf. Er hatte dem Mann sowohl die Kreditkarte, als auch die Autoschlüssel abgenommen. Nach seinem Ableben brauchte er diese beiden Dinge wohl nicht mehr. Wer wusste, ob jemals nachgeforscht wurde, wohin beide Sachen verschwunden waren.
Als er wieder ins Zimmer kam, hörte er noch immer das Rauschen des Wassers. Im selben Moment, als er die Tür schloss, verstummte das Wasser und er sah in den alten Monitor des Fernsehers und entdeckte die roten Spritzer in seinem Gesicht. Mit dem Ärmel seines Jacketts wischte er sich über die Haut und versuchte die Spuren so gut es ging, zu beseitigen. Doch er hatte keine Ahnung, ob es ihm gelang. Er würde mit Akiharu reden und ihn davon überzeugen, dass er etwas essen musste, sodass sie innerhalb der nächsten Stunde mit dem Auto des alten Mannes weiterfahren konnten.

Akiharu Sasaki

Akiharu wusste nicht, wie lange er schon hier in diesem Bad auf dem Boden saß. Ob es sich nur um wenige Minuten oder bereits um eine ganze Stunde handelte. Er verlor völlig das Zeitgefühl, während er gegen die Panik ankämpfte und um Fassung rang. Die Angst davor, dass Xaldins Männer bereits wissen könnten, wo er sich aufhielt, lähmte ihn. Genauso wie der Gedanke, dass Nazar nicht ganz unschuldig daran sein könnte. Noch immer konnte er die Zweifel, ob dieser es wirklich ernst meinte oder ihm nur falsche Hoffnungen machte, um diese wieder zu zerstören und ihn damit ganz zu brechen, nicht ganz vertreiben.
Gehe duschen, ich werde hier auf dich warten…
Immer und immer wieder gingen ihm Nazars Worte durch den Kopf, die ihn beruhigen sollten. Doch das taten sie nicht. Irgendetwas störte ihn daran, auch wenn er nicht genau benennen konnte, was es war. Immerhin hatte er ihm im Anschluss versichert, dass er sich keine Sorgen machen musste und er auf ihn aufpassen würde. Er sollte beruhigt sein, duschen gehen und nicht den Teufel an die Wand malen und doch konnte er das nicht.
Weitere Sekunden verstrichen, die sich zur nächsten Minute zogen, und je länger darüber nachdachte, was ihn störte, umso klarer wurde es ihm: Nazar hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er seinem Verdacht nachgehen würde, um diesen entweder auszuräumen oder um ihn zu bestätigen und sich womöglich darum zu kümmern. Akiharu begann stärker zu zittern und krallte seine Fingernägel durch den Stoff seines Pullis in seine Oberarme. Hieß das also, dass seine Zweifel stimmten? Dass auch Nazar es nicht ernst meinte mit der Flucht? War dieser Xaldin womöglich noch immer treu ergeben? Und was war mit dem Fahrer? Steckte er ebenfalls mit drin und hatte dem Mann an der Rezeption nicht nur die Schlüssel für die Zimmer abgenommen sondern ihm umgekehrt noch die Anweisung zu geben, Xaldin zu benachrichtigen? War somit auch ihr Unfall alles andere als ein Zufall, sondern von vornherein geplant?
All diese Fragen gingen ihm durch den Kopf und mit jeder weiteren stieg die Panik in seinem Inneren, bis sich ein Gedanke formte, der alles andere in den Hintergrund rückte: Er musste hier raus. Er musste weg von Nazar.
Sofort sah sich Akiharu in dem kleinen Bad nach einer Fluchtmöglichkeit um und entdeckte ein kleines Fenster. Für einen normal großen Menschen wäre es ein Problem, sich dort durchzuquetschen, doch bei seiner Größe und Statur könnte er das durchaus schaffen. So sehr er den Anblick im Spiegel auch verabscheute, da man ihm deutlich die Spuren ansah, die das Leben bei Xaldin auf seinem Körper hinterlassen hatte, kam es ihm nun doch zugute, da er diese Idee andernfalls gleichermaßen hätte verwerfen müssen.
Um diese umsetzen und auch ein wenig Abstand gewinnen zu können, bevor seine Flucht entdeckt wurde, musste er jedoch dafür sorgen, dass Nazar keinen Verdacht schöpfte. Ungelenk und schwerfällig, da ihm der Fußmarsch noch immer in den Knochen steckte, schob er sich an der Badezimmertür nach oben und lief auf wackeligen Beinen zur Dusche. Immerhin hatte er Nazar gesagt, dass er duschen gehen würde, und somit musste er den Eindruck erwecken, dass er genau dies auch tat. Ohne darauf zu achten, ob das Wasser warm oder kalt eingestellt war, drehte er die Brause auf und ließ sie laufen. Beim zurückziehen des Arms kam er an den Duschstrahl und bemerkte, dass das Wasser nicht nur warm sondern heiß war.
"Autsch", zischte er und hoffte, dass er dabei leise genug war, während er den Arm ruckartig weiter zurückzog und seine Hand über die Stelle legte. Sie brannte, doch er hatte keine Zeit, um es sich genauer anzusehen und es zu kühlen.
Wenn ich denke, dass du zu lange brauchst, werde ich nicht zögern, hereinzukommen…
Nazars Worte kamen ihm wieder in den Sinn. In dem Moment, in dem er sie aussprach, klangen sie gut gemeint. Als wollte er nur verhindern, dass wieder etwas ähnliches passierte wie bei seinem Bad vor einigen Stunden. Nun jedoch wirkte es auf ihn wie eine Drohung, um zu vermeiden, dass er etwas anstellte, das nicht zum Plan gehörte. Umso mehr musste er sich beeilen und durfte keine Zeit verschwenden.
Mit der Hand auf seinem Arm wandte er sich dem Badfenster zu und steuerte dieses an. Er musste hier weg und das so schnell wie möglich. So leise wie möglich, schob er das Fenster nach oben, um dieses zu öffnen. Ein Knarzen war dabei zu hören, das jedoch hoffentlich vom Geräusch des Wassers geschluckt wurde. Anschließend stützte er sich auf dem Fensterbrett ab und stemmte sich nach oben. Mitten in der Bewegung hielt er inne, als ihm bewusst wurde, dass er etwas entscheidendes vergessen hatte: Sayuri. Akiharu war drauf und dran, noch einmal zur Tür zu laufen und sie ins Bad zu holen, doch er ermahnte sich - auch wenn es ihm schwer fiel. Würde er jetzt die Tür öffnen, käme heraus, dass er nicht unter der Dusche stand und wie sollte er das Nazar erklären? Lügen waren noch nie sein Talent. Er konnte die Wahrheit ein wenig verdrehen, doch dazu musste er sich die Worte gut zurechtlegen, was Zeit kostete. Zeit, die er nicht hatte.
Hin und her gerissen biss er sich auf die Unterlippe, bis diese anfing zu bluten, doch er ignorierte es. Er wollte Sayuri nicht hier zurücklassen. Sie war alles, was er noch hatte. Neben Milou war sie die einzige, der er vertrauen konnte. Sie hier zu lassen, würde ihm das Herz brechen. Doch andererseits, welche Wahl hatte er? Wenn er hier blieb oder Nazar auch nur den Hauch einer Unstimmigkeit wahrnahm, wäre er geliefert, sollte er wirklich noch immer in Xaldins Diensten stehen. Die ganze Flucht wäre umsonst gewesen. All die Strapazen und den Mut, die er auf sich genommen hatte, um bis hierher zu kommen. All das wäre vergebens, wenn er Xaldin ihn jetzt wieder zwischen die Finger bekam und sein Alptraum womöglich noch schlimmer als bisher weiterging.
"Verzeih mir, Sayu…", murmelte er und riss sich damit selbst das Herz aus der Brust. Ein Schleier aus Tränen legte sich über seine Augen. Er blinzelte sie weg, nur damit sie im nächsten Moment zurückkamen. Er konnte nur hoffen, dass sie seine Flucht bemerkte und ihm folgte...
Mit durch die Tränen verschlechterter Sicht zog er sich erneut nach oben und zwängte sich durch das schmale Badfenster. Auf der anderen Seite landete er in einem Busch, der direkt unter dem Fenster wuchs und den er zuvor nicht bemerkt hatte. Sein Sturz, der alles andere als koordiniert war, wurde dadurch jedoch abgebremst und der Pullover schützte ihn vor den Dornen, die an den Zweigen hingen. Gleichzeitig hoffte er, dass sein Sturz dadurch auf leise genug ablief, um keinen Verdacht zu erzeugen. Einige Sekunden lang wartete er, horchte, ob er etwas hörte, doch als bis auf die Geräusche der Nacht kein Laut an seine Ohren drang, rappelte er sich auf und lief los. Ohne eine bestimmte Richtung. Ohne ein Ziel. Einfach nur weg.

Nicht einmal einen Kilometer später lehnte er sich völlig erschöpft gegen einen Baum. Akiharu atmete schwer und ärgerte sich über seine schlechte Kondition. Er wusste nicht, wieviel Zeit seit seiner Flucht vergangen war, doch er wünschte, er wäre sehr viel weiter gekommen, als es in Wirklichkeit wohl der Fall war. Sein Instinkt sagte ihm auch, dass er weiterlaufen musste, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Schwer atmend ließ er den Kopf nach hinten sinken und schloss für einige Momente die Augen. Er versuchte, Kraft für den weiteren Fußmarsch zu sammeln, was alles andere als einfach war. Sein Körper war derartige Anstrengungen nicht gewohnt und es fehlte ihm an Energie. Seine letzte Mahlzeit lag mehr als zwölf Stunden zurück und unter normalen Umständen, würde er vermutlich schon lange schlafen - auch wenn der Schlaf durch die Alpträume wenig Erholung brachte. Ein wenig Kraft tankte er dennoch, die ihm nun fehlte.
Während er weiter versuchte, sich ein wenig zu erholen, hörte er plötzlich ein Rascheln im Unterholz. Sofort war sein Körper in Alarmbereitschaft und er erstarrte.
Hatte Nazar ihn etwa schon gefunden? War es so schnell möglich, ihn aufzuspüren? War er zu unvorsichtig gewesen? Sollte er leise weiterlaufen oder sich irgendwo verstecken? Nur war bei letzterem die Frage: wo? Wo sollte er hingehen?
Darüber hatte er sich keine Sekunde Gedanken gemacht, als er geflohen war, denn wo dieser Ort lag, von dem Nazar gesprochen hatte, wusste er nicht. Wenn es diesen überhaupt gab. Während er darüber nachdachte, was er tun sollte, erklang das Rascheln erneut, gefolgt von einem Hecheln und Schnüffeln, das ihm nur zu vertraut war. Akiharu lehnte sich ein Stück zur Seite und sah über die Schulter in die Richtung aus der er gekommen war und augenblicklich löste sich die Anspannung aus seinem Körper, als er sah, um wen es sich handelte. Sayuri hatte die Nase auf dem Boden und folgte seiner Spur, bis sie ihn ebenfalls entdeckte. Schwanzwedelnd kam sie zu ihm und Akiharu konnte nicht sagen, wie glücklich er war, sie zu sehen. Es hatte ihn zerrissen, sie im Motel zulassen und auch die Gewissheit, dass es nicht anders ging, hatte keinen Trost gespendet. Auch wenn er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte, ging er in die Knie und schlang seine Arme um sie, als sie bei ihm war. Sofort stiegen ihm erneut die Tränen in die Augen und er drückte sein Gesicht in ihr Fell.
"Es tut mir so leid. Ich wollte nicht… ich wollte dich nicht dort lassen… Bitte verzeih mir…"
Sayuri gab ein leises Geräusch von sich und einen Moment lang blieben sie noch in dieser Position, bis sie begann unruhig zu zappeln. Verwirrt ließ Akiharu sie los, was sie sofort nutzte, um nach seinem Ärmel zu schnappen und daran zu ziehen. Jedoch nicht in die Richtung, in die er gelaufen war, sondern in die, aus der er kam.
Akiharu erstarrte. Wollte sie etwa, dass er zurückging? Spürte sie denn nicht, dass etwas faul war? Bislang konnte er sich immer auf ihre Menschenkenntnis und bisher war sie auch Nazar gegenüber misstrauisch. Sollte das plötzlich vorbei sein? War sie mit einem Mal der Meinung, dass er ihm trauen konnte, nur weil er diese Flucht in die Wege geleitet hatte?
Er konnte das nicht glauben und schüttelte den Kopf.
"Nein, Sayu. Ich kann nicht zurück. Nazar… Er…"
Mitten im Satz brach er ab, da er nicht wusste, wie er seine Zweifel in Worte fassen sollte. Zumal sie ihn ohnehin nicht verstand. Immerhin war sie nur ein Hund, auch wenn er mitunter das Gefühl hatte, dass sie ihn besser verstand, als es normal war. Ob sie jedoch auch seine Bedenken so gut verstand, wenn er nicht einmal wusste, wie er sie äußern sollte, wusste er nicht.
Anstatt weiter zu ziehen, hielt Sayuri nun selbst inne, ließ ihn los und sah ihn eine gefühlte Ewigkeit einfach nur an. Ganz so als wüsste, sie nicht, was sie tun sollte. Als wenn sie innerlich einen Kampf ausfocht, von dem er keine Ahnung hatte. Wie nah dieser Gedanke der Wahrheit kam, sah er wenige Augenblicke später. Sayuri drehte auf dem Absatz um und verschwand zwischen einigen Bäumen im Gebüsch.
"Warte, Sayu-"
Zu mehr kam er nicht, als die Stelle, an der sie verschwunden war, plötzlich zu leuchten begann. Fasziniert und gleichzeitig mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah er dem Schauspiel zu, das nur wenige Sekunden andauerte. Anschließend wurde alles wieder dunkel, doch dort, wo eben noch seine Hündin und nur Dunkelheit zwischen den Bäumen war, stand plötzlich eine junge Frau. Nackt. Das Nötigste wurde durch die Büsche verdeckt, doch selbst bei diesen Lichtverhältnissen sah man ihr an, dass es ihr unangenehm war, so vor ihm zu stehen. Akiharu realisierte dies jedoch noch nicht gar nicht richtig. Sein Verstand war noch zu sehr mit dem beschäftigt, was eben geschehen war, denn er konnte sich keinen Reim darauf machen. Und so starrte er sie einfach nur an, während ihm die Zeit und sein Vorsprung wie Sand zwischen den Finger davon rieselte.

Nazar

Das Zeitgefühl, was sonst sein stetiger Begleiter war, war in dem Moment verschwunden, als er diesen kleinen Raum, der die Rezeption darstellte, verschwunden. Es hatte sich in die hinterste Ecke seines Kopfes verzogen, hatte sich versteckt und sich erst wieder gezeigt, als er das Motelzimmer betreten hatte. Dennoch wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. Waren es Sekunden gewesen? Minuten? Oder war er sogar Stunden weg gewesen?
Das Rauschen des Wassers war noch immer zu hören, als er ins Zimmer zurückkehrte. Leise verschloss er die Tür und hoffte, dass Akiharu nichts von seinem Wegbleiben mitbekommen hatte. Es sah alles immer noch genauso aus wie bisher. Die Möbel standen weiterhin an ihrem vorherbestimmten Platz. Sein Blick fiel dabei auf den alten des Fernsehers, dabei entdeckte die roten Spritzer in seinem Gesicht. Es musste vom Blut sein, welches weggespritzt war, als er den Mann erschossen hatte. Mit dem Ärmel seines Jacketts wischte er sich über die Haut und versuchte die Spuren zu beseitigen. Als er ein weiteres Mal in die matte Spiegelung blickte, konnte er nur sehen, dass es eher verwischt als beseitigt war.
Das Wasser verstummte und er lauschte, ob sich im Badezimmer etwas regte. Doch kein Geräusch drang durch die Tür. Er vermutete, dass Akiharu das Wasser entweder abgestellt hatte, um sich zu waschen oder er noch einige Zeit brauchte, um sich von den Strapazen zu erholen. Als nach einiger Zeit nicht einmal das Geräusch ertönte, dass jemand aus der Dusche stieg, wurde er hellhörig. Seine Neugier wurde geweckt, die Angst stieg in ihm nach oben, die Alarmglocken klingelten.
„Verdammt!“, brummte er leise und griff an die Seite seiner Hose, um die Pistole zu zücken, sofern er sie brauchte.
Er ging zum Badezimmer, klopfte mit der Faust gegen das alte Holz und wartete auf eine Reaktion, die aus dem Inneren kam.
„Akiharu?“, fragte er gegen die Tür.
Doch es folgte immer noch keine Reaktion, keine Antwort, nicht einmal ein Geräusch war aus dem Inneren zu vernehmen. Das Blut wallte sofort durch seine Adern, das Adrenalin rauschte durch die rote Flüssigkeit, ließ seinen Körper sich anspannen und er umfasste die Pistole mit zwei Fingern.
„Akiharu, öffne die Tür“, verlangte er mit rauer Stimme, hämmerte noch einmal gegen die Tür.
Aber auch jetzt erklang keine Antwort aus dem Badezimmer. Das Herz hämmerte immer mehr gegen seinen Brustkorb, ließ das Blut immer schneller durch die Adern rauschen und sorgte dafür, dass seine Atmung sich ebenfalls veränderte. Sein Brustkorb fühlte sich an, als würde er Unmengen an Situps machen, obwohl er eine hohe Ausdauer hatte.
„Akiharu?! Öffne diese Tür oder ich sehe mich gezwungen, die Tür einzutreten!“, rief er ein weiteres Mal und versuchte den Jungen zu erreichen, der sich dahinter befand.
Allerdings folgte auch jetzt keine Antwort, kein Geräusch war dahinter zu vernehmen und alles, was ihn umgab, war die Stille des Raumes. Viel zu lange hatte er sich verarschen lassen, herumkommandieren lassen oder hatte getan, was ihm gesagt wurde. Damit war jetzt Schluss. Er ging von der Tür zurück, atmete tief durch, beruhigte sich und verschloss für wenige Sekunden die Lider. Dann öffnete er sie wieder, fixierte die Tür und überlegte, mit welcher Kraft er sich dagegen stemmen musste, um die Verankerung zu lösen und dafür zu sorgen, dass das Holz nachgab und er ins Innere kam. Er sprintete die wenigen Meter nach vorne, drehte sich zur Seite und rammte gegen das Holz. Es gab ein fürchterliches Knacken, ob es vom Holz oder von seiner Schulter kam, wusste er nicht. Er betrachtete die Scharniere, die leicht nachgegeben hatten und wiederholte die ganze Aktion noch einmal. Auch beim zweiten Mal hörte er ein Knacken. Er vermutete, da seine Schulter zwar schmerzte, aber noch immer beweglich war, dass es von der Tür kam. Er sah die Scharniere ein weiteres Mal an, sah, wie sich die Schrauben aus dem Holz herausgezogen hatten und war sich bewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. Akiharu hätte doch sicher gesagt, dass alles in Ordnung wäre, wenn er bemerken würde, dass er versuchte, die Tür einzurammen. Es gab nur zwei Möglichkeiten und an keine der beiden Varianten wollte er denken. Die Erste war, dass Akiharu in der Dusche kauerte und sich wieder die Nägel der Finger in die Haut grub. Die Zweite war, dass irgendjemand gekommen war, um ihn mit sich zu nehmen und das laufende Wasser und die verschlossene Tür war ein Trick, ihn zu verwirren und Zeit zu schinden. Angst breitete sich in seinem Inneren aus und er wusste nicht, woher diese kam. Wobei… Er hatte eine Vermutung, denn… Akiharu sah ihm unglaublich ähnlich. Und er hatte Angst, den Jungen zu verlieren und ein weiteres Mal zu versagen.
Nazar rammte noch ein Mal gegen die Tür und endlich gab sie nach. Die Scharniere brachen aus dem Holz heraus, sodass die Tür den Weg ins Badezimmer freigab und zeigte, dass dort niemand war. Nicht einmal Sayuri war hier. Wobei… Sie war auch nicht im Motelzimmer gewesen, als er zurückgekehrt war. Dies zeigte deutlich, dass er am Rande seiner Kraft angekommen war und er etwas Erholung brauchte. Aber er würde sich nicht beschweren, keine Schwäche zeigen und dafür sorgen, dass Akiharu in Sicherheit war.
Es waren keine nassen Fußspuren zu sehen, die zeigten, dass jemand duschen war. Das Wasser war zwar gelaufen, aber er wusste nicht, wie lange das Wasser gelaufen war. Er streckte die Hand aus, berührte den Wasserzulauf und zog die Finger mit einem Seufzen zurück. Es war lauwarm. Und nach dem Regler zu urteilen war das Wasser heiß gewesen, als es aus der Brause geflossen war.
„Verdammt“, brummte er erneut und strich sich durch das schwarzbraune Haar.
Sein Blick fiel auf das offenstehende Fenster und sah einen einzelnen, wenn auch schwachen Fußabdruck, der darauf deutete, dass jemand durch das Fenster geflüchtet war. Anhand der Größe konnte er sich denken, dass es Akiharu war und bei der Größe des Fensters war er sich sicher, dass er hindurchgehuscht war. Er griff nach dem minimalen Fensterbrett, zog sich daran nach oben und blickte nach draußen. Dornenbüsche, die zwar den Aufprall gedämpft haben sollten, aber nicht gerade angenehm waren.
„Ich bringe ihn um!“, murmelte Akiharu zu sich selbst und verdrehte die Augen.
Mit schnellen Schritten rannte er um das Motel herum, suchte das offenstehende Fenster und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe um das Gestrüpp herum den Boden ab. Er entdeckte einige Fußspuren, die nicht zu seinen eigenen gehörten, im feuchten Boden. Zum Glück hatte es am Vormittag geregnet. Damit konnte er ihm folgen und wenn er Akiharu richtig einschätzte, dann kam er nicht sonderlich weit. Sein Körper war für solche Laufsessions nicht gemacht. Er hatte nicht die Kondition, um sich lange mit hoher Geschwindigkeit fortzubewegen. Nazar blickte in den dunklen Himmel, hoffte, er würde die Spuren noch lange verfolgen können und sie würden nicht im Nichts verlaufen. Er hoffte, sie würden zu Akiharu führen und nicht von einem anderen menschlichen Wesen stammen. Nach einiger Zeit hatte er Schwierigkeiten, den Fußabdrücken zu folgen, weil das Dickicht vom Wald darüber ragte und den Boden bedeckte. Doch je aufmerksamer er suchte, desto mehr fand er Hinweise, dass jemand hier entlang gekommen war.
Nach einiger Zeit gab die Taschenlampe den Geist auf und er blieb für kurze Zeit im pechschwarzen Wald stehen. Er versuchte etwas zu erkennen. Natürlich musste die Taschenlampe ausgehen. Wieso hatte er auch erwartet, dass irgendetwas glattlief und er ohne Probleme leben konnte? Dass es keine Zwischenfälle geben würde, wenn er Akiharu wegbringen würde… Er hätte es besser wissen müssen. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass Akiharu weglaufen würde. War etwas vorgefallen und er hatte Angst bekommen, weswegen er geflohen war?
Ein Licht erhellte die Dunkelheit und der Schein, der so plötzlich aufgeflammt war, verschwand so rasch wieder, dass er dachte, es hätte seinen Ursprung in seinem Kopf. Doch er lief langsam darauf zu und je näher er dem Ursprung kam, desto weniger konnte er glauben, was er sah. Eine Frau, die nackt hinter einigen Büschen stand. Es wurde mehr verdeckt, als er erwartet hatte. Dennoch war es nicht genug und die Frau sah zur Seite. Dann erkannte er Akiharu und sein Kopf setzte aus, hörte auf, das Gesehene zu verarbeiten. Ohne großartig nachzudenken, stürzte er zu Akiharu, packte ihn an den Oberarmen und schüttelte ihn. Dabei war es ihm im ersten Moment egal, dass er damit womöglich eine weitere Panikattacke bei ihm auslöste.
„Spinnst du?!“, platzte es als Erstes aus ihm heraus. „Was fällt dir ein, einfach so wegzulaufen? Dir hätte sonst etwas passieren können! Wieso…?“
Er hörte auf, Akiharu vor und zurück zu schütteln und ließ die Hände sinken. Sein Gesicht veränderte sich, der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich, all die Gedanken und Gefühle kamen nach oben und er trat einen Schritt zurück.
„Dir hätte sonst etwas passieren können… Nicht ich… Sondern… Xaldins Männer hätten dich finden können…“, brachte er leiser hervor, als die erste Welle der Wut verebbt war. „Ich habe geschworen, dich zu beschützen und wenn… Wenn du wegläufst, kann ich mein Wort nicht halten… Ich will dir nichts tun und bin auf deiner Seite… Ich weiß nicht, was du hören willst, damit du endlich weißt, dass du mir vertrauen kannst…“
Die Wolke am Himmel verschwand und gab endlich etwas Licht vom Mondschein frei. Sie befanden sich auf einer Lichtung, Akiharu mitten auf der Wiese und Nazar genau bei ihm. Die fremde Frau, die sich splitterfasernackt am Waldrand aufhielt, sah zu ihnen. Erst jetzt begann Nazar zu überlegen, wer diese Frau war. Er sah Sayuri nirgendwo, dafür aber diese Frau… Konnte es sein, dass…?
Er sah dennoch wieder zu Akiharu und seufzte leise, ehe er das Wort wieder an ihn richtete.
„Akiharu?“, fragte er leise und hoffte, er verfiel nicht direkt in die nächste Panikattacke und er musste ihn zurücktragen. „Ich habe dafür gesorgt, dass wir für die Nacht in Sicherheit sind und du dich ausruhen kannst… Ich habe Xaldin auf eine falsche Fährte gelockt und… Und als ich ins Motelzimmer kam, warst du nicht mehr dort… Bitte… Lass uns zurückkehren… Oder hier bleiben, wenn dir das lieber ist… Ich weiß nicht, wie ich dir beweisen soll, dass ich auf deiner Seite bin…“
Hoffnungslos fuhr er sich mit den Fingern erneut durch das Haar, welches mit Sicherheit mittlerweile wirr von seinem Kopf weg stand.

Akiharu Sasaki

Mehr und mehr Sekunden verstrichen, zogen sich zu Minuten, in denen Akiharu versuchte, zu begreifen, was er soeben mit eigenen Augen gesehen hatte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen und sein Verstand hinkte gewaltig hinterher. Immer wieder ging er den Moment durch, ließ die Bilder wie einen Film vor seinen Augen ablaufen, in der Hoffnung auf diese Weise zu verstehen, was gerade geschehen war.
Er sah, wie Sayuri an seinem Ärmel zog und ihn dazu bringen wollte, zurückzugehen.
Er sah, wie sie ihn nachdenklich anblickte und scheinbar überlegte, was sie tun sollte. Ihr Gesichtsausdruck dabei wirkte beinahe menschlich, obwohl er immer der festen Überzeugung war, dass dies nicht sein konnte.
Er sah, wie sie mit sich haderte und sich herumdrehte, nur um kurz darauf zwischen den Büschen zu verschwinden.
Er sah das grelle Licht, das ihn für einen Wimpernschlag geblendet hatte.
Und er sah die Frau, die daraufhin an der Stelle auftauchte, an der seine Hündin verschwunden war.
Mehrfach ging er diese wenigen Sekunden im Kopf durch, doch egal wie oft er die Szenen auch sah, sein Verstand wollte es nicht wahrhaben, was dies alles bedeutete. Was es bedeuten musste. Dabei war er durch Milou längst nicht mehr unwissend, was das Übernatürliche anging. Jahrelang hatte er mit einem Vampir unter einem Dach gelebt und wenn er an seinen letzten Schultag dachte, der noch keine vierundzwanzig Stunden her war und sich bereits weit in der Vergangenheit anfühlte, erinnerte er sich daran, dass sich auch dort nicht nur Menschen tummelten. Und doch wollte er nicht glauben, was er gesehen hatte. Dass seine Hündin…
Weiter kamen seine Gedanken nicht, als er plötzlich ein Rascheln hörte. Es kam aus der Richtung, aus der er selbst bis hierher gelaufen war. Sofort spannte er sich an und auch ohne hinzusehen, schrie alles in ihm, dass er aufstehen und wegrennen sollte. So weit kam er allerdings nicht, denn er wurde an den Oberarmen gepackt, in die Höhe gezogen und grob geschüttelt. Akiharu versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, zappelte und zog, doch er merkte schnell, dass er keine Chance gegen seinen Angreifer hatte. Diese Machtlosigkeit und der Gedanke, dass er gefunden wurde, gebündelt mit der Angst, dass er zurück zu Xaldin gebracht werden könnte, bildeten einen Knoten in seinem Magen, der wie ein schwerer Stein darin lag und ihn beinahe benommen machte. Er spürte die Panik, die sich einen Weg nach oben suchte und sich seiner ein weiteres Mal innerhalb kürzesteter Zeit bemächtigen wollte. Doch er durfte es nicht so weit kommen lassen. Er wollte seinem Angreifer diese Schwäche nicht zeigen, denn sie würde ihn nur noch hilfloser machen. Dagegen anzukämpfen war jedoch alles andere als einfach. Anders als an den Abenden, an denen er Xaldins Geschäftspartnern als spezielle Gesellschaft überlassen wurde und er seine Panikattacken nur unterdrücken konnte, weil die Furcht vor dem Vampir und vor den Konsequenzen größer war, als seine Angst vor Berührungen, fehlte diese konkrete Bedrohung in seinem Rücken in dieser Situation.
Dennoch versuchte er sich aus dem Griff zu befreien, denn er wollte nicht zurück. Nach einem gefühlt endlos langen Albtraum war er endlich ein Stück weiter auf dem Weg in seine Freiheit und diese wollte er sich nicht nehmen lassen. Bevor er sich allerdings überlegen konnte, was er gegen den Griff an seinen Oberarmen ausrichten könnte, sah er aus dem Augenwinkel einen Schatten auf sie zu huschen. Er zuckte zusammen, schloss instinktiv die Lider und im selben Moment wurde er bereits losgelassen. Dafür streifte ihn etwas anderes am Arm und im Gesicht. Erschrocken riss Akiharu die Augen wieder auf und als er sah, wer sich zwischen seinen Angreifer und ihn geschoben hatte, stockte ihm der Atem. Das einzige, was er von Sayuri erkennen konnte, waren ihre pechschwarzen Haare, die im Wind wehten, da sie ihm so nah war. Das Mondlicht, das die kleine Lichtung erhellte, ließ ihre Haut wie Porzellan erscheinen. Sie wirkte unwirklich und während er sie betrachtete, vergaß er vollkommen, in welcher Situation er steckte, was eben geschehen war und dass sie ihm im Grunde viel zu nah war. Doch er spürte nichts von der üblichen Panik, die ihn ergriff, sobald sich ihm jemand zu sehr näherte. Stattdessen überkam ihm das Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit, das er immer bei ihr hatte. Es war wie ein Nachhause kommen, welches er auch spürte, wenn er von der Schule oder einem seiner Aufträge zurück aufs Anwesen kam. Dieses Gelände mit dem großen Haus war nie wirklich sein Zuhause, doch sobald ihn seine Hündin begrüßte, empfand er ihre Nähe als genau das.
"Hör' auf, so mit ihm umzugehen! Was glaubst du, wer du bist?! Du weißt doch inzwischen, was passiert, wenn ihm jemand zu nahe kommt oder ihn sogar berührt. Willst du etwa die nächste Panikattacke auslösen?"
Akiharu wusste nicht, auf was sie sich bezog - ob nur auf das anfassen und schütteln, oder ob auch etwas gesagt wurde, von dem er in seiner aufsteigenden Panik nichts mitbekam. Ihre Worte ließen sie jedoch hellhörig werden und eine Ahnung, mit wem sie sprach, stieg in ihm auf. Er lehnte sich leicht zur Seite, um an ihr vorbei sehen zu können und sein Herz rutschte ihm beinahe in die Hose, als er Nazar knapp vor ihr stehen sah. Erneut stieg die Angst, dass er es nicht ernst mit ihm und seinen Plänen meinte, in ihm auf. Die Angst, dass das alles nur ein Spiel war, um ihn und seinen Willen endgültig zu brechen. Langsam wich er zurück, kam jedoch nicht weit, da er noch immer den Baum im Rücken hatte, an den er zuvor noch lehnte. Fieberhaft überlegte er, wie er aus dieser Situation heraus und von Nazar wieder wegkommen könnte, als dieser mit einem Mal selbst das Wort ergriff und an ihn richtete. Jedes einzelne traf ihn und ließ in ihm etwas entstehen, von dem er selbst nicht gewusst hatte, dass er dazu noch fähig war und was Nazar damit sicher auch nicht bezweckte. Statt Angst spürte er nun eine leichte Welle der Wut in sich aufsteigen, zusammen mit dem Mut der Verzweiflung und dem Gefühl, dass ihm alles zu viel wurde.
Ich weiß nicht, was du hören willst, damit du endlich weißt, dass du mir vertrauen kannst…
Dieser Satz hallte besonders in ihm nach und gab ihm den letzten Schubs in eine Richtung, die er nie für möglich gehalten hätte. Ohne lange darüber nachzudenken, schob sich Akiharu an Sayuri vorbei. Er spürte ihre Finger, die sich dabei in den Ärmel seines Pullis krallen wollten, um ihn aufzuhalten, doch er entzog ihr seinen Arm, schüttelte den Kopf, ohne sie weiter anzusehen, denn er hatte noch keine Ahnung, wie er mit dem, was sie ihm offenbart hatte, umgehen sollte und darüber wollte er sich jetzt auch keine Gedanken machen. Sein Blick war auf Nazar gerichtet und er grub für einen kurzen Augenblick seine Zähne in seine Unterlippe. Es war ein letztes Hadern, bevor er das umsetzte, was sich durch die Aussage des anderen in seinen Kopf gesetzt hatte.
"Du willst wirklich wissen, was ich hören will? Wie wäre es mit einer Erklärung, warum du all das machst? Jahrelang hast du für Xaldin gearbeitet, warst seine rechte Hand und damit derjenige, dem er wohl am meisten vertraut hat. Die ganze Zeit hast du zugesehen, was er mit mir macht und hast lediglich darauf aufgepasst, dass ich nicht kaputt gehe oder weglaufe. Warum hilfst du mir jetzt also? Du weißt genau, was passiert, wenn er das herausfindet. Wieso riskierst du dein Leben, um mich dort rauszuholen? Warum ich? Warum jetzt?", platzte es aus ihm heraus und seine Stimme klang fester, als er es seit seiner Zeit bei Xaldin von sich selbst kannte. Er setzte hiermit alles auf eine Karte, doch er hatte keine Alternativen und er hatte es satt, als Spielball benutzt zu werden. Gerade jetzt, wo die Freiheit zum Greifen nah war.
"Das alles ergibt absolut keinen logischen Sinn. Wenn ich darauf vertrauen soll, dass das hier alles kein weiteres Spiel von Xaldin ist, um mich gefügig zu machen, gib mit mir nur einen Grund, um dir zu glauben! Vorher gehe ich nirgendwo mit dir hin."

Nazar

Die Zeit schien nicht zu vergehen, als wäre sie angehalten worden und die Momente dehnten sich in eine Ewigkeit aus. Er beobachtete alles ganz genau, sah dabei zu, wie dieser helle Schein verschwand und … eine Frau vor sie trat. Ohne Kleidung. Nackt. Doch das war nicht das, was ihm zusetzte. Sondern das, was er als Nächstes tat. Er schüttelte Akiharu an den Schultern, rüttelte ihn und sprach dabei. Wut und Verzweiflung drang aus seiner Stimme hervor. Aber als er bemerkte, was er gerade tat, hörte er sofort auf und ließ die Hände sinken. Vielleicht auch deswegen, weil die Frau ihm ins Gewissen redete.
Die Sorge um Akiharu hatte ihn blind für alles andere werden lassen. Nur noch die Wut, dass der Junge weggelaufen und blindlings durch das Dickicht des Waldes gerannt war, wo jeden Moment irgendjemand auftauchen konnte, um ihn zurück zu Xaldin zu bringen, floss noch durch seine Adern. Er musste sich dazu zwingen, ruhiger zu werden, fasste sich langsam wieder und atmete ruhig durch.
Einst hatte er die Aufgabe erhalten, auf den Jungen aufzupassen und als er einige Minuten weg war, war Akiharu einfach verschwunden. Entführt worden. Oder wie in dem Fall, weggelaufen. Seine Aufgabe war es, Akiharu stets zu beschützen, damit ihm nichts geschah, und dafür zu sorgen, dass er in Sicherheit war, wo auch immer sie sich befanden. Dieser Tätigkeit war er allerdings nicht nachgekommen.
»Ich weiß nicht, wie ich dir beweisen soll, dass ich auf deiner Seite bin…«
Seine eigenen Worte hallten in seinem Kopf nach, während er darüber nachdachte, was Akiharu wohl darauf antworten konnte. Angst, vor der Zurückweisung und vor der kommenden Antwort, ließ ihn schlagartig einige Schritte zurückweichen. Er senkte den Blick, schluckte kurz und war versucht, seine Finger durch das schwarze Haar gleiten zu lassen. Doch er wollte sich die Blöße nicht geben, einzugestehen, dass er die Fassung verloren hatte.
„Ich…“, begann Nazar leise, als Sayuri zu sprechen begann. Er wusste, dass er einen riesigen Fehler gemacht hatte, als er den Jungen durchgeschüttelt hatte. Doch in dem Moment, als er es getan hatte, hatte er nicht darüber nachgedacht und jetzt bereute er es. Dennoch konnte er es nicht ungeschehen machen und hoffte, dass Akiharu nicht erneut eine dieser Panikattacken bekam. Das würde ihnen jetzt nicht helfen.
»Ich weiß nicht, was du hören willst, damit du endlich weißt, dass du mir vertrauen kannst…«
Auch diese Worte hallten durch seinen Kopf, ohne einen direkten Anschluss in den Synapsen seines Gehirns zu finden. Doch er wusste nicht, wie er Akiharu überzeugen sollte, dass er auf dessen Seite stand und nicht auf der von Xaldin.
Nazar heftete seinen Blick auf Sayuri, da sie ihm den Weg und die Sicht auf Akiharu versperrte. Nur wenige Sekunden später trat der Junge an ihr vorbei, wurde kurz von ihr aufgehalten, aber er ging einfach weiter. Vor ihm blieb Akiharu stehen und sah ihn mit einem Blick an, den er in diesem Zusammenhang noch nie gesehen hatte. Immer hatte er Akiharu mit einem scheuen oder ängstlichen Blick gesehen, beobachtet, wie er nicht tun wollte, was Xaldin von ihm verlangte und wenn er gekonnt hätte, hätte er ihm so viel Leid erspart. Doch ihm waren die Hände gebunden gewesen, durch verschiedene Dinge…
Als Akiharu zu sprechen begann, verstummte alles um ihn herum, kein Geräusch des Waldes drang mehr an seine Ohren, kein Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume, kein Fließen des Wassers des nahen Baches oder die Laute der Tiere, die in der Nacht aktiv waren. Nichts davon drang zu ihm durch. Nur noch die Stimme von Akiharu war für ihn zu hören. Diese feste Stimme, die ein Ventil für Wut wurde. Er konnte es genau aus der Stimme des Jungen heraushören.
Er hatte recht. Mit jedem einzelnen Satz, den Akiharu aussprach, hatte er recht.
Er wollte eine Erklärung, die er ihm nicht geben konnte. Weil er keine Antwort darauf hatte. Doch er würde versuchen, etwas, was er nicht offenbaren wollte, in Worte zu fassen. Um zu beweisen, wieso er all das tat.
„Akiharu…“, begann Nazar, atmete tief durch und sah auf den dunklen Boden, der sich zwischen ihm und Akiharu befand. „Ich würde es dir gerne erklären, aber…“
Sein Blick glitt zu Sayuri, weil er nicht wusste, ob er vor ihr ebenso offen sprechen konnte, wie vor Akiharu. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt vor ihm offen sprechen konnte. Doch er würde es versuchen, um ihn zu überzeugen, dass … er nicht auf der falschen Seite stand.
„Einst hatte ich in Orlando gelebt, half meiner Familie dabei, ihr Restaurant zu führen und habe die Menschen, die immer dort aßen, mit bedient. Vor allem im Sommer, als die Ferien anstanden“, begann er und merkte, wie sich der Schmerz, den die Erinnerungen hervorriefen, in seinem Inneren ausbreitete. Er rieb sich über die Brust und schluckte. Aber zum Abbrechen war jetzt keine Zeit mehr. „Unser Leben war gut, bis zu diesem einen Tag… Ein Sturm hat uns alles genommen, was wir hatten und … als wir in einer Art Notunterkunft waren, wurden wir angegriffen. Meine Eltern wurden umgebracht, aber laut den Behörden, hatte es noch immer mit dem Sturm zu tun.“
Er wurde stumm, unterbrach seine Worte und schluckte ein weiteres Mal. Er merkte, wie seine Sicht verschwamm und sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten. Schnell blinzelte er diese weg, um Akiharu nicht zu zeigen, wie nahe ihm diese ganze Sache ging. Doch verbergen konnte er es nicht. Wahrscheinlich hörte man es auch noch aus seiner Stimme heraus.
„Als… Als ich später in einem Krankenhaus erwachte, erfuhr ich, dass meine Familie nicht überlebt hatte und ich … alles verloren hatte. Nur ich hatte überlebt. Durch einen Zufall, ein Glück oder … weil es eine Bestimmung war, weiß ich bis heute nicht. Ich kam bei meiner Tante unter, konnte mich aber nur schwer an das Leben in New York, wo sie wohnte, gewöhnen. Mir saß dieses Ereignis tief in den Knochen.“
Er sah direkt zu Akiharu, suchte seinen Blick und hoffte in dessen Gesicht etwas erkennen zu können, was ihm zeigte, dass er ihm irgendetwas glaubte.
„Irgendwann hatte ich es bei ihr nicht mehr ausgehalten, bin abgehauen und … lebte auf der Straße. Ich hatte keine rosige Zeit dort. Es war alles andere als leicht und … einmal hätte ich die aufgehende Sonne nicht noch einmal gesehen.“
Er erinnerte sich daran, wie er in dieser kalten, nassen Straße gesessen hatte, unter Schmerzen leidend und darauf wartend, was als Nächstes passierte. Er erinnerte sich daran, wie der Schatten neben ihm aufgetaucht war, wie die Umgebung noch kälter wurde und als er aufsah, erkannte er Xaldin. Sofort hatte er damals gewusst, dass er kein Mensch war. Um seine Rache zu bekommen, hatte er sich ihm angeschlossen, auch wenn alles in ihm gerufen hatte, dass er die Beine in die Hand nehmen und weglaufen sollte. Bis heute wusste er nicht, wieso Xaldin ausgerechnet ihn bei sich aufgenommen hatte und wieso er ihm half, stärker zu werden - sowohl körperlich als auch geistig. Doch er erfuhr erst später, was wirklich geschehen war, nachdem er Xaldin angegriffen und kläglich versagt hatte. Nachdem er vor dem Moment des Todes stand und seine letzte Entscheidung treffen musste.
„Xaldin hat mich aufgenommen, dafür gesorgt, dass ich … wieder in die Schule gehen konnte, hatte mich trainieren lassen und dafür gesorgt, dass ich … meine Rache an denen bekomme, die dafür gesorgt hatten, dass meine Familie sterben musste. Dass… Dass ich meinen Bruder verlor…“
Diese letzten Worte sorgten dafür, dass seine Beine nachgaben, seine Kraft verschwand und er auf den Boden knallte. Seine Knie gruben sich in den lehmigen, feuchten Boden und seine Handflächen lagen ebenfalls auf der dünnen Grasdecke.
„Du erinnerst mich an ihn. Ich… Ich hatte nicht die Möglichkeit, ihn zu beschützen… Also… Also hatte ich die Chance ergriffen, um dich zu schützen. Daraus bestand, seit ich diese Aufgabe angenommen hatte, mein Leben. Ich hatte Xaldin meine Treue geschworen, hatte mein Leben an dieses Gelübde gebunden und … als ich dich von dort weggeholt habe, dir geholfen hatte, von dort wegzugehen, habe ich damit auch mein Leben auf die Abschussliste gesetzt.“
Nur langsam hob Nazar den Kopf, wischte sich mit dem Handrücken der rechten Hand über seine Augen und atmete tief durch.
„Ich glaube… Ich glaube, ich mache das alles, um Naoki gegenüber keine Schuldgefühle mehr zu empfinden… Zwar… Zwar hatte ich damals gerächt, was meiner Familie angetan wurde, aber… Aber ihm gegenüber empfinde ich noch immer etwas, was mit Schuld gleichgestellt werden kann… Ich hatte die ganze Zeit meine Augen abgewendet, wenn du… Naja… Wenn du gewisse Dinge tun musstest… Aber… Aber damit ist jetzt Schluss… Ich… Ich bringe dich hier weg und dann… Dann werde ich dafür sorgen, dass dich niemand mehr findet und du in Ruhe leben kannst…“
Jetzt hatte er seine Vergangenheit vor Akiharu und Sayuri ausgebreitet, bereit, von Akiharu entweder weggestoßen zu werden oder von ihm etwas wie Verständnis zu bekommen. Irgendetwas, was ihn nicht mehr so fertig machte, etwas, womit er leben konnte. Doch jetzt hieß es warten, dass Akiharu etwas … dazu sagte.

Akiharu Sasaki

"Weißt du, am Ende des Tages sind in unserer Situation nur zwei Dinge wichtig", sagte Ayaka und hielt ihm den Zeigefinger vor die Nase, als wollte sie ihn belehren.
"Und die wären?"
Die Miene des Mädchens vor ihm wurde ernst und zeigte somit eine Regung, die er zuvor noch nie an ihr gesehen hatte. Normalerweise war sie quirlig, aufgedreht und laut. Sie kam ihm noch ein Stück entgegen, bis sich ihre Nasen beinahe berührten und Akiharu leicht zurückwich, weil es ihm dann doch ein wenig zu nah war.
"Hoffnung und Stärke", war alles, was sie von sich gab, bevor sie wieder schwieg. Akiharu verstand nicht ganz, worauf sie hinaus wollte, und runzelte die Stirn. Sie sah es und er merkte, wie es in ihren Mundwinkeln zuckte. Ayaka liebte es offensichtlich, ihn auf die Folter zu spannen, und wartete nur darauf, dass er es nicht mehr aushielt und weiter nachfragte.
"Wieso ausgerechnet diese beiden Dinge? Ich dachte, am wichtigsten wären ein voller Bauch und ein trockener Schlafplatz."
Zwei Dinge, die man auf der Straße selten gemeinsam hatte. Eins von beidem war schon schwierig zu bewerkstelligen. Oft kam es vor, dass er sowohl hungrig war als auch unter freiem Himmel schlafen musste, seit ihn sein angehender Stiefvater vor die Tür gesetzt hatte.
"Falsch gedacht. Du musst Hoffnung haben, dass deine Situation irgendwann wieder besser wird, und die Stärke, durchzuhalten, bis es soweit ist."

Hoffnung, dass es besser wird…
Stärke, um durchzuhalten…

Akiharu wusste nicht genau, warum ihm ausgerechnet dieses Gespräch in den Sinn kam, während er vor Nazar stand und darauf wartete, dass dieser ihm eine Antwort auf seine Worte gab, die ihm plausibel erklärte, warum sich der andere plötzlich so für ihn einsetzte. Das Gespräch hatte ihn damals geprägt und ihm gezeigt, dass seine Situation nicht so hoffnungslos war, wie er anfangs dachte. Er musste die Hoffnung nur für sich selbst bewahren, daran festhalten und stark genug sein, allen Widerständen standzuhalten. Es hatte ihn gelehrt, dass stark zu sein nichts mit physischer Kraft zu tun haben muss, die er schon damals nicht besaß und heute noch viel weniger. Doch er hatte durchgehalten. Ganz egal, was auch mit ihm geschah, er war nicht zusammengebrochen. Nicht endgültig jedenfalls. Er war immer wieder auf die Beine gekommen, hatte weiter gemacht, immer in der Hoffnung, dass es vielleicht irgendwann wirklich wieder besser wird. Dass sich sein Leben wieder zum besseren wendet.
Womöglich erinnerte ihn sein Unterbewusstsein gerade deswegen wieder daran. Er stand an einem Scheideweg, an dem beide Wege in eine völlig unterschiedliche Zukunft führten. Der eine führte zurück in seine persönliche Hölle, bei der er nicht wusste, ob er die Strafe überleben würde, die ihm blühte, sollte er Xaldin unter die Augen kommen. Das Schlimmste wäre wohl, wenn der alte Vampir das Verbot aufhob, dass sich seine Männer ihm nicht auf dieselbe Weise nähern durften, wie es seine Geschäftspartner taten. Akiharu wusste, dass es unter ihnen den einen oder anderen gab, der neidisch auf die Gäste war, denen er angeboten wurde.
Der andere führte in die Freiheit - oder das, was man in seinem Fall als solches bezeichnen konnte, denn er wusste, dass er sich vor Xaldin versteckt halten musste. Dennoch war diese Wahl die deutlich bessere, denn selbst mit der Angst im Nacken, entdeckt zu werden, war er doch freier als in seinem Leben auf dem Anwesen, in dem es lediglich für seine Mitschüler und Lehrer den Anschein gab, er würde ein ähnliches Leben führen wie sie. Ob sein Wohltäter Letztere womöglich beeinflusst hatte, damit sie nichts merkten, oder dies überhaupt möglich war, wusste er nicht, aber er traute es ihm zu.
Akiharu hatte seine Wahl getroffen. Er wusste, welchen Weg er gehen wollte. Die Frage war nur, ob ihm Nazar wirklich dabei helfen wollte oder nicht. Doch egal, auf wessen Seite er wirklich stand: Er würde nicht zurückgehen. Selbst wenn das bedeutete, dass er für diese Entscheidung an Ort und Stelle sterben würde.
Bei dem Gedanken lief es ihm kalt den Rücken hinunter und er fröstelte. Zu sterben war etwas, woran er nie gedacht hatte, ganz egal wie schwer es auch für ihn war. Er wollte leben und hatte tief in seinem Inneren immer die Hoffnung, dass er dies eines Tages wieder frei tun könnte, auch wenn dieses Gefühl mitunter zu einem kleinen Funken oder gar einem schwach leuchtenden Glimmen schrumpfte, es erlosch niemals vollständig. Umso mehr erschreckte ihn dieser Gedanke in diesem Moment, sodass er die Finger in den Saum seines Pullovers krallte und sich komplett verspannte. Und wie so oft in der Vergangenheit schien Sayuri auch jetzt ganz genau zu merken, dass etwas nicht stimmte und die Stimmung bei ihm kippte.
"Haru…", flüsterte sie leise und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die vertraute Wärme, die sie immer ausstrahlte, sickerte durch den Stoff bis auf seine Haut und vertrieb augenblicklich die Kälte, die ihn befallen hatte. Doch obwohl es angenehm war und er die Wärme willkommen hieß, war er doch zwiegespalten. Akiharu wusste nicht, wie er mit der Erkenntnis umgehen sollte, dass es sich bei Sayuri nicht um einen gewöhnlichen Hund handelte. Dass sie nicht wie andere Vierbeiner war, hatte er geahnt, denn ihre Handlungen waren mitunter viel zu menschlich und ihre Reaktionen auf das, was er sagte, wirkten oft, als würde sie ihn verstehen. Dennoch hätte er niemals damit gerechnet, dass sie ebenfalls zu dieser übernatürlichen Welt gehörte - nicht einmal in der Zeit, nachdem ihm Milou offenbarte, was aus ihr geworden war und dass es noch weit mehr als nur Vampire gab.
Die Zeit, um darüber nachzudenken und die Tragweite dieser Erkenntnis vollends zu begreifen, hatte er nicht, denn Nazar durchbrach die Stille, die sich zwischen ihnen gebildet hatte. Selbst die Natur schien den Atem angehalten zu haben, um gespannt darauf zu warten, was als nächstes geschah, und um die Situation nicht zu stören.
„Ich würde es dir gerne erklären, aber…“
Akiharu hatte gehofft, dass er nun endlich eine Antwort bekam. Dass die quälenden Fragen, auf wessen Seite Nazar stand und warum er ihm half, nun endlich aus der Welt geschafft wurden, doch dieser eine Satz war wie ein Schlag ins Gesicht. Erneut spannte er sich an, biss die Zähne zusammen, um sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Gleichzeitig fachte es die Wut wieder an, an der auch Nazars Blick, der auf den Boden gerichtet war, als könne er ihm nicht in die Augen schauen, nichts änderte. Eher das Gegenteil war der Fall. Eine derartige Reaktion war ungewöhnlich für den anderen, denn Xaldin gegenüber hatte er eine solche Schwäche niemals gezeigt und dennoch ärgerte es ihn, dass er ihn nicht einmal ansah, während er ihn wieder einmal vor den Kopf stieß.
Er wollte bereits auf dem Absatz kehrt machen, einfach gehen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, denn seiner Meinung nach war alles gesagt. Zudem wurde ihm das alles gerade zu viel und er ertrug es nicht mehr, noch weiter in seiner Nähe zu sein. Die Tatsache, dass Sayuri hinter ihm stand und er sich wieder daran erinnerte, dass sie nichts am Leib trug, hinderten ihn allerdings daran. Zum Glück, denn wenige Augenblicke später hob Nazar doch den Kopf, sah erst an ihm vorbei und anschließend zu ihm. Eine Unsicherheit lag in seinem Blick, die er so noch nie an ihm gesehen hatte und die ihn innehalten ließ. Gleichzeitig wirkte er jedoch auch entschlossen, was im völligen Gegensatz dazu stand. Warum dem so war, sollte er nur wenige Sekunden später erfahren.
Meine Eltern wurden umgebracht…
Nur ich hatte überlebt...
...lebte auf der Straße….
...Rache…
Dass ich meinen Bruder verlor...
Du erinnerst mich an ihn…

Neben der Tatsache, dass Xaldin Nazar ebenfalls bei sich aufnahm, als dieser keinen anderen Ausweg hatte, sein Leben aber doch ganz anders verlief als seines, schwirrten ihm all diese Dinge im Kopf herum, die sein Gegenüber von sich gegeben hatte. Nachdem dieser wieder einmal damit anfing, dass er es ihm gerne sagen würde, und dabei einen Tonfall in der Stimme hatte, der deutlich machte, dass er es trotz allem nicht könnte, hatte er nicht damit gerechnet, überhaupt eine Erklärung präsentiert zu bekommen. Doch mit dem, was er zu hören bekam, hatte er noch viel weniger gerechnet. Mit jedem einzelnen Wort hatten sich seine Augen mehr geweitet. Akiharu konnte nicht leugnen, dass er geschockt war, denn er hatte nicht geglaubt, dass sich eine derartige Geschichte hinter der sonst so kalten Maske verbarg, die Nazar für gewöhnlich zur Schau trug. Schon seit ihrem Aufbruch und der Flucht von dem Anwesen begann diese zu bröckeln, sodass er immer wieder einen Blick auf das werfen konnte, was sich dahinter verbarg. Bisher war sich Akiharu allerdings nicht sicher, ob das, was er dort sah, wirklich der Wahrheit entsprach oder lediglich vorgespielt war, um ihn in Sicherheit zu wiegen - was jedoch eher das Gegenteil und somit Skepsis bei ihm hervorrief. Jetzt jedoch, hier in dieser Situation und nach dieser Offenbarung, hatte er das Gefühl, Nazar vertrauen zu können.
Du erinnerst mich an ihn…
Seinen Bruder…

Diese eine Erkenntnis schwirrte Akiharu besonders im Kopf herum. War er wenige Minuten zuvor noch wütend auf Nazar gewesen, verrauchte diese und verschwand vollständig. Zurück blieb das Gefühl in seinem Inneren, dass er vielleicht doch überreagiert hatte und zu weit gegangen war. Nun war er es, der den Blick senkte und vor sich auf den Boden starrte. Obwohl er ein Recht darauf hatte, zu erfahren, warum ihm der andere auf einmal so bereitwillig half, fühlte er sich doch schuldig, weil er dadurch eine derart tiefe Wunde wieder aufgerissen hatte. Daran, dass es stimmte, zweifelte er nicht, denn auch wenn Nazar ein Meister darin war, seine Emotionen zu verstecken, sodass es unmöglich war, ihn zu durchschauen, so wirkten seine Reaktionen doch viel zu echt. Akiharu hatte trotz seines Schocks über diese Geschichte gesehen, wie sein Gegenüber auch jetzt versucht hatte, all das vor ihm zu verbergen und dabei gescheitert war. Selbst den Anflug von Tränen hatte er bemerkt.
"Es … tut mir leid… Ich-", begann er und brach den Satz direkt wieder ab, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Seine Finger krallten sich erneut in den Saum seines Pullovers - dieses Mal jedoch nicht aus Wut sondern aus Hilflosigkeit. Das kurze Aufbegehren seines Selbstbewusstseins war bereits wieder vorbei und machte dem Selbst Platz, welches versuchte, sich zu fügen, um so wenig Widerstand wie möglich zu leisten, ganz egal wie schwer es ihm auch fiel.
"Ich glaube dir und … ich vertraue dir."
Als vor allem die letzten Worte seine Lippen verließen, sah er wieder auf und Nazar direkt in die Augen, damit er wusste, dass er es ernst meinte.
"Es tut mir leid, was dir passiert ist. Und deinem Bruder…"
Wieder einmal wusste Akiharu nicht, was er dazu sagen sollte, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass sich diese Situation in eine solche Richtung entwickeln würde.
Der Regen, der in diesem Moment einsetzte und sich auch einen Weg durch das Blätterdach der Bäume suchte, halfen ihm, sich wieder auf das zu besinnen, was zuvor geschehen war und weshalb er überhaupt weggelaufen war. Als ihn die ersten Tropfen auf den Kopf und im Gesicht trafen, huschte sein Blick für einige Sekunden über seine Schulter. Dabei versuchte er, Sayuri lediglich ins Gesicht zu blicken, die mit um den Oberkörper geschlungenen Armen noch immer dicht hinter ihm stand.
"Wird er uns finden, wenn wir zurückgehen? Wir brauchen Schutz vor dem Regen und … ein anderes Motel ist sicher nicht in der Nähe."
Sein Blick traf für einen Moment auf den von Sayuri und er sah all die Emotionen, die dadurch in ihr hochkamen. Dort war Dankbarkeit, aber auch ein Hauch Angst, denn vermutlich wusste sie, dass er auch von ihr wissen wollte, warum sie sich ihm nicht schon viel eher offenbart hatte.
"Ich werde dir alles erklären", sagte sie leise, hielt seinem Blick jedoch stand. Wenige Augenblicke später, als er Regen immer stärker zu werden begann, schenkte sie ihm noch ein schwaches und trauriges Lächeln. "Ich hoffe, du wirst es verstehen." Anschließend verschwand sie in dem selben hellen Licht, in das sie zuvor bereits getaucht war, bevor sie als Mensch vor ihm stand. Als der Lichtschein dieses Mal erlosch, stand wieder die weiße Hündin vor ihm, der er in all der Zeit bei Xaldin blind vertraut hatte und bei der er nun nicht wusste, wie er mit ihr umgehen sollte…

Nazar

Es war schwer gewesen, über sich selbst zu sprechen. Seit Jahren hatte er es nicht mehr tun müssen und jetzt auf einmal hatte er sich Akiharu und … Sayuri, sollte sie es wirklich sein, anvertraut. Seitdem er bei Xaldin war, hatte er sich geschworen, nie wieder ein Wort über seine Gefühlswelt zu verlieren, über seine Vergangenheit zu sprechen oder je wieder einer anderen Person zu vertrauen. Wohin ihn das geführt hatte, wusste er bereits.
Allerdings hatte er keine andere Wahl gehabt, als sich Akiharu zu öffnen, wenn er wollte, dass dieser ihm vertraute. Im Gegenzug vertraute er dem Jüngeren, dass dieser die Informationen, die er ihm gegeben hatte, nicht gegen ihn verwendete. Immerhin hatte Akiharu jetzt etwas gegen ihn in der Hand. Allerdings glaubte Nazar, dass Akiharu dies nicht tun würde. Das lag nicht in dessen Natur.
Dennoch war er sich sicher, dass es keinen anderen Ausweg gab, als sich Akiharu zu öffnen und zu offenbaren. Zu erklären, was ihn dazu führte, wieso er dessen Sicherheit wollte, wieso er sich für ihn einsetzte und wieso er tat, was er gerade tat. Wieso er vor allem Xaldin hinterging, sein Leben aufs Spiel setzte und riskierte, einen Großteil der Mythenwelt gegen sie aufzubringen, obwohl sie nie etwas mit ihnen zu tun hatten. Doch Xaldin würde alles in die Wege leiten, um seinen »kostbaren Schatz« wieder an sich zu bringen. Er würde Hebel umlegen, würde alte Gefallen einfordern oder andere Wege finden, um herauszubekommen, wo sich Akiharu gerade befand.
So schnell es ihm möglich war, musste Nazar es schaffen, Akiharu in Sicherheit zu bringen. Irgendwohin, wo Xaldin keinen Einfluss mehr hatte und wo der Junge in Ruhe seine seelischen Wunden versorgen konnte, seine körperlichen Leiden verheilen konnte und wo er weiterleben konnte, ohne in ständiger Angst zu verweilen, jederzeit gefunden zu werden. Und genau deswegen erzählte er von seiner Vergangenheit, was geschehen war, wieso er bei Xaldin gelandet war und wieso er jetzt hier stand, versuchte Akiharu zu retten und… Und vor allem erzählte er von seinem Bruder.
Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, was als Nächstes folgte.
Es hatte ihm alle Überwindung gekostet, von alledem zu berichten, zu sprechen, obwohl er einfach schweigen wollte und doch wusste er, wenn er nicht die Fragen von Akiharu beantwortete, würde dieser einfach gehen, verschwinden und … vielleicht zurück in die Fänge von Xaldin gelangen. Das musste er verhindern, also hatte er begonnen, alles zu erzählen.
Nazar betrachtete Akiharu ganz genau. Erst war so etwas wie Wut in dessen Gesicht zu erkennen, dann etwas wie … Abneigung und dann weiteten sich seine Augen. Sie wurden größer und größer. Entsetzen, Schock, vielleicht sogar etwas wie Überraschung erkannte er in Akiharus Gesichtszügen. Hatte es ihn so aus den Socken gehauen, was er gerade offenbart hatte?
Lange sah er den Jüngeren eindringlich an, beobachtete dessen Reaktion und wollte, dass er etwas sagte, gab ihm aber ausreichend Zeit, um sich die Worte genau zu überlegen. Wie lange sie so da standen, wusste er im Nachhinein nicht. Es interessierte ihn auch nicht, aber das… Das, was kam, überraschte ihn. Akiharu entschuldigte sich. Er sprach Worte aus, die Mitleid bekundeten. Und genau diese Worte versetzten Nazar einen Stich ins Herz.
Der Schmerz in seinem Inneren drohte, das Fass zum Überlaufen zu bringen, drohte damit, ihn in die Knie gehen zu lassen, obwohl er gefasst bleiben wollte, um diese Schwäche nicht preiszugeben. Er wollte stark sein, musste es sogar. Es gab wichtigere Dinge, als sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich davon überwältigen zu lassen.
»Ich glaube dir und … ich vertraue dir.«
Dass Akiharu diese Worte aussprach, war ein kleines Pflaster, dass diese Offenbarung geholfen hatte und er es damit geschafft hatte, Akiharu von sich zu überzeugen. Zu zeigen, dass er auf dessen Seite war und nicht gegen ihn arbeitete. Er wollte ihm zeigen, dass er ihm vertrauen konnte und er noch immer dafür sorgen würde, dass er in Sicherheit war. Selbst dann, wenn es nicht mehr offiziell seine Aufgabe war.
„Es ist Vergangenheit und spielt jetzt keine Rolle mehr“, versuchte Nazar das Thema abzuwenden und sich der aktuellen Situation wieder zuzuwenden.
Doch er scheiterte, kläglich. Das Bild seines Bruders spiegelte sich vor seinen Augen, vernebelte ihm den Kopf und sorgte dafür, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Erst die Stimmen von Akiharu und Sayuri rissen ihn aus diesem Wahn heraus und sorgte dafür, dass er mehrfach blinzelte, um in die Realität zurückzukehren. An seinen Bruder konnte er immer noch später denken. Jetzt musste er Akiharu von hier wegbringen und dafür sorgen, dass sie die Nacht überstanden. Dann konnten sie sich am Morgen noch in aller Ruhe überlegen, wohin sie gehen konnten und wo ihnen geholfen wurde, ohne weiter in Gefahr zu sein.
„Wir sollten tiefer in den Wald gehen“, sagte Nazar und sah sich um, auch wenn er nicht sicher war, ob die Idee die beste war, die er aussprechen konnte. „Vielleicht gibt es in der Nähe eine Höhle oder etwas Ähnliches…“
Er sprach sich zum einen selbst Mut zu und hoffte, dass niemand merkte, dass er Zweifel hatte. Es blieb ihm aber nichts anderes übrig. Wenn sie jetzt ins Motel zurückkehrten, würden sie mit Sicherheit in Gefahr geraten und das konnte er nicht zulassen. Sein Blick schweifte umher und entdeckte einen kleinen Berg, der über die Bäume hinausragte und selbst in der dunklen Nacht erkennbar war.
„Wie wäre es, wenn wir dorthin gehen und schauen, ob es eine Höhle gibt? Dann haben wir einen Platz, an dem wir bleiben können, wenn auch ohne Essen… Dafür aber mit einer trockenen Bleibe?“, wandte sich Nazar an Akiharu, beobachtete dabei, wie Sayuri wieder die Gestalt eines Hundes annahm.
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