Crispin Cipriano
30.12.2020, 01:42
DIE BLUME DER REBELLION
》Rebellion is when you look society in the face and say
I understand who you want me to be but
I'm going to show you who I actually am.《
》The only way to deal with an unfree world is to become so absolutely free
that your very existence is an act of rebellion.《
》Have you ever realized that when people say you've been changed
it's just because you've stopped living your life their way?《
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》Rebellion is when you look society in the face and say
I understand who you want me to be but
I'm going to show you who I actually am.《
》The only way to deal with an unfree world is to become so absolutely free
that your very existence is an act of rebellion.《
》Have you ever realized that when people say you've been changed
it's just because you've stopped living your life their way?《
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“Crispin, warte kurz. Wir müssen reden. Dein Verhalten heute Abend war alles andere als in Ordnung.”
Seufzend hielt der Angesprochene inne, als er die Stimme seiner Mutter hörte, und drehte sich auf dem Absatz der Treppe zu ihr herum. Konnte sie ihn gerade nicht einfach in Ruhe lassen?! Vor allem, weil er ganz genau wusste, worüber sie mit ihm reden wollte. Aus diesem Grund gab er auch keinen Ton von sich, während er seine Mutter mit einer hochgezogenen Augenbraue anblickte. Das einzige, was er an diesem Abend noch wollte, war eine Dusche und sein Bett und dabei am liebsten vergessen, was ihm heute verkündet wurde. Doch diesen Gefallen wollte ihm die Frau, die gerade die letzten Stufen zu ihm hinaufschritt, allem Anschein nach nicht tun.
“Du weißt ganz genau, wie wichtig vorbildliches Verhalten ist. Dein Vater und ich haben lange mit der Familie von Marielle gesprochen, bis sie der Verlobung zugestimmt hatten. Diese Verbindung ist wichtig und du kannst ihr nicht einfach sagen, sie würde dir nicht gefallen.”
Die Stimme seiner Mutter war streng, doch anders kannte er es gar nicht von ihr, weshalb er sich davon nicht beeindrucken ließ. Ihren festen Blick standhaltend, schob er die Hände in die Taschen seiner Anzughose und sah auf sie herab, da sie noch immer zwei Treppenstufen unter ihm stand.
“So habe ich das gar nicht gesagt, aber ich habe auch absolut keinen Bock darüber zu reden. Weder heute noch irgendwann anders. Es bleibt dabei: Ich werde diese arrogante und aufgetakelte Pute nicht heiraten!”
Crispin sah, wie seine Mutter begann, wütend zu werden, als er dieselben Worte nutzte, wie bereits während des Abendessens, nachdem ihm die freudige Nachricht verkündet wurde, doch er wandte sich einfach ab, um endlich in sein Zimmer zu gelangen und aus diesen furchtbar unbequemen Klamotten herauszukommen. Nach etlichen Jahren, in denen er schon maßgeschneiderte Anzüge trug, sollte man meinen, dass er sich daran gewöhnt hatte, aber er konnte dieser Art der Kleidung noch immer nichts abgewinnen. Für ihn war es einfach unbequem und glich beinahe einer Verkleidung, weshalb er jedes Mal froh war, diese wieder los zu werden. Wie Cyrian das Ganze ertrug, war ihm wirklich ein Rätsel, aber vielleicht hatte es sein Bruder aufgegeben, etwas dagegen zu sagen, nachdem er sah, dass es auch bei ihm nichts geholfen hatte, sich darüber zu beschweren.
“Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede! Was ist nur mit dir passiert? Seit Wochen verhältst du dich immer seltsamer. Ich erwarte von dir, dass du dich morgen bei Marielle und ihren Eltern entschuldigst! Hast du mich verstanden?”
Darauf kannst du lange warten, ging es ihm durch den Kopf, doch er sagte nichts mehr dazu, während er weiterlief. Eigentlich hatte er immer das letzte Wort, aber gerade fehlte ihm die Lust auf weitere Diskussionen. Dass er sich bei seiner zukünftigen Verlobten entschuldigte, konnte sie aber dennoch vergessen. Genauso wie die ganze Verlobung und spätere Hochzeit. Sein Leben an der Seite dieser Frau zu verbringen, stand nicht auf der Liste der Dinge, die er unbedingt tun wollte. Nicht nur, dass ihm Marielle nicht gefiel, er hatte schlicht kein Interesse an Frauen, wovon seine Eltern allerdings keine Ahnung hatten. Nicht einmal sein Bruder wusste etwas davon, obwohl er diesem näher stand. Seine Familie würde vermutlich ausflippen, wenn sie davon Wind bekämen, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Und zu einem ganz besonders.
Gerade als er sein Zimmer erreichte und es betrat, schob sich das Bild eines ganz bestimmten Mannes vor sein inneres Auge. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, nachdem er diese hinter sich wieder geschlossen hatte, und schloss die Lider, was dazu führte, dass er das Bild noch viel deutlicher sah. Seidig schwarze Haare, die ihm in die Stirn fielen und bei denen er sich bereits bei ihrem ersten Aufeinandertreffen fragte, ob sie sich unter seinen Fingern wohl auch so weich anfühlen würden, wie sie aussahen und worauf er bis heute keine Antwort hatte. Schmale, dunkle Augen, die ihn unweigerlich an eine Katze erinnerten und bei denen er mitunter das Gefühl hatte, darin zu versinken. Ganz besonders wenn das Licht nur spärlich darauf fiel und sie noch sehr viel dunkler, beinahe schwarz wirkten. Beides stand im Kontrast zu der hellen, porzellanartigen Haut und den feinen Zügen, die ihm etwas leicht Feminines gaben. Allerdings sollte man sich davon und seiner eher zierlichen Gestalt nicht täuschen lassen, denn Kraft besaß er auf jeden Fall.
Crispin biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen noch mehr zusammen, als sein Herz begann schneller zu schlagen und in ihm das Bedürfnis aufkam, zu ihm zu gehen. Es würde den Abend auf jeden Fall aufwerten, der bisher kaum schlimmer hätte sein können und auch wenn er vor ein paar Minuten eigentlich nur noch ins Bett wollte, wurde der Drang doch immer größer, sich aus seinem Zimmer zu schleichen und August einen Besuch abzustatten.
Seine Mutter hatte recht, wenn sie sagte, er hätte sich in den letzten Wochen verändert. Wobei das nicht zu einhundert Prozent stimmte, denn es war lediglich so, dass er nun nicht mehr nur innerlich gegen die Regeln und Ketten rebellierte, denen er durch seine Familie und ihrem gesellschaftlichen Stand unterworfen war. Es ging ihm schon sehr viel länger gehörig gegen den Strich, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Genauso wie die Oberflächlichkeit, welche die besser betuchten Menschen an den Tag legten und zu denen neben seinen Eltern auch jene von Marielle gehörten - ihre eigene Wenigkeit ebenfalls inbegriffen. Lange Zeit hatte er nur nichts gesagt, weil er als Kind bereits gespürt hatte, wie es war, das schwarze Schaf zu sein. Damals hatte er noch nicht erkannt, dass die Liebe seiner Eltern von dem abhängig war, wie gut er in ihr Weltbild passte, und hatte aus diesem Grund alles dafür getan, um sie wiederzubekommen, nachdem er sie aufgrund seines mangelnden Talents, was das Lesen von Noten betraf, so gut wie verloren hatte.
Aus heutiger Sicht war es absurd, sich derart an etwas zu klammern, dass von Bedingungen abhängig war, obwohl die Liebe der Eltern doch genau das nicht sein sollte, aber zum damaligen Zeitpunkt wusste er es nicht besser und neben seinem Bruder waren sie nun einmal seine wichtigsten Bezugspersonen. Inzwischen verstand er, dass es im Grunde keinen Sinn machte, sich darum zu bemühen, diese Art der Aufmerksamkeit zu behalten, da er sich für sie in eine Form pressen musste, die er nun einmal nicht war und der Anzug, in dem er steckte, war da nur der Anfang. Erst durch August war ihm das vollends klar geworden, bei dem er sich nicht verbiegen brauchte, damit er von ihm akzeptiert wurde. Eigentlich war es traurig, dass er von einer fremden, außenstehenden Person in wenigen Wochen mehr Akzeptanz erfuhr, als von seiner eigenen Familie - und das bereits seit ihrem ersten Aufeinandertreffen, an das er sich noch sehr gut erinnern konnte.
Feiern, Benefizveranstaltungen, geschäftliche Essen und andere Anlässe, zu denen sich die gehobene Gesellschaft traf - wie er all das doch hasste. Die Verlobung seines eigenen Bruders machte da keinen Unterschied und doch wollte er an diesem Tag - wie immer zu solchen Ereignissen - eigentlich gute Miene zum bösen Spiel machen. Die Betonung lag auf eigentlich, denn gerade begann seine sorgsam aufgebaute Fassade zu bröckeln, als ihm seine Mutter eröffnete, dass nicht er an diesem Abend zu Ehren des Anlasses am Flügel sitzen und spielen würde, sondern Cyrian. Dabei war es seit Wochen geplant, dass er das übernahm und etwa genau so lange hatte er das Stück, welches sich Élodys Familie gewünscht hatte, geübt, damit er es so spielen konnte, wie es sich alle vorstellten. Es war nicht so, dass er diese Mühe vor allem für seinen Bruder nicht gerne auf sich genommen hatte, um ihm eine Freude zu bereiten, und doch ließ diese Entscheidung das Fass gerade überlaufen. Laut seiner Mutter hätten sich die Eltern von Cyrians Zukünftiger spontan für ein anderes Stück entschieden, dass besser zum Anlass passen würde und da das Notenlesen für ihn noch immer ein Buch mit sieben Siegeln war, war er dafür nicht mehr der geeignete Pianist.
“Das war doch alles geplant…”, murmelte er so leise, dass es kein anderer hören konnte, bevor er sich etwas lauter an seine Mutter wandte, die scheinbar auf eine Reaktion seinerseits wartete. “Macht doch einfach, was ihr wollt!”
Mit diesen Worten wollte er sich an ihr vorbei schieben, doch eine Hand griff nach dem Ärmel seines Jacketts und hielt ihn damit zurück.
“Warte kurz, Pino...”
“Lass gut sein, Cyr. Élodys Eltern haben ihre Meinung geändert und somit bin ich da raus. In solchen Fällen bist und bleibst du eben der Talentiertere von uns beiden.”
Ohne sich zu ihm umzudrehen und zu ihm zu schauen, entriss Crispin seinem Bruder seinen Arm und entfernte sich sowohl von ihm als auch dem Rest seiner Familie. Bisher hatte es ihn nur wenig und selten gestört, dass er kein Talent für das Lesen der Noten hatte und es somit einen gewissen Mehraufwand für ihn bedeutete, wenn er auf solchen Veranstaltungen spielen sollte, da er es nun einmal aus dem Gedächtnis tun musste. Doch in der Regel half ihm Cyrian dabei, indem er ihm das Ganze ein paar mal vorspielte, bis er sich sicher war, sich die Tonfolge gemerkt zu haben und das klappte auch ganz gut. Die anderen Familien der Oberschicht - besonders die, mit denen seine Eltern häufiger zu tun hatten und denen sie, zumindest oberflächlich gesehen, näher standen - wussten um sein kleines Handicap. So auch Élodys Familie. Aus diesem Grund war er sich auch sicher, dass sie es geplant hatten, ihn heute dermaßen bloßzustellen - nicht zuletzt, weil er wusste, dass sie etwas gegen ihn hatten, seit er bei der Verkündung der Verlobung das Ganze als Farce bezeichnet hatte, weil er wusste, dass es nur darum ging, engere Geschäftsbeziehungen eingehen und diese nach Außen hin besser präsentieren zu können. Und sowohl Cyrian als auch Élody machten bei diesem Spiel mit, obwohl sie sich nicht liebten und lediglich gute Freunde waren.
Doch auch wenn es ihn sonst nicht ganz so sehr störte, schmerzte es gerade auf diese Art und Weise ersetzt zu werden und vor Augen geführt zu bekommen, dass er trotz seines Talents eben immer einen Makel haben würde, der es ihm unmöglich machte, spontan auf solche Änderungen reagieren zu können. Er würde immer im Schatten seines Bruders stehen, egal, was er tat. Diesem machte er keine Vorwürfe, denn er konnte nichts dafür, dass alle in ihm den perfekten Sohn und Pianisten sahen. Zudem unterstützte er ihn, wo er nur konnte und er wäre heute wohl nicht so gut, wenn er diese Unterstützung und den Ehrgeiz, so gut wie Cyrian zu werden, nicht gehabt hätte.
Für diesen Abend war seine Laune dennoch im Keller und er hatte auch keine Lust mehr, so zu tun, als wäre es anders. Crispin war sich sicher, dass nichts mehr etwas daran ändern und seine Stimmung wieder heben konnte. Um ihn trotzdem noch einigermaßen erträglich zu gestalten, bahnte er sich seinen Weg direkt zu der kleinen Bar, an der sich die Gäste neben dem Champagner, den die Kellner verteilten, auch noch individuelle Cocktails mixen lassen konnten. Sein Interesse lag allerdings weniger bei diesen Longdrinks, als eher bei den alkoholischen Grundlagen, die dafür genutzt wurden. Als er an der Bar ankam, warf er einen prüfenden Blick über seine Schulter, um zu sehen, ob ihn jemand beobachtete, denn zu seinem Glück war im Moment auch kein Barkeeper zu sehen, der ihn von seinem Plan abhalten könnte, weil er eigentlich noch zu jung war. Doch auch von den anderen Anwesenden schenkte ihm keiner Beachtung und er entließ erleichtert die angehaltene Luft aus seinen Lungen.
Ihm war bewusst, dass er sich beeilen sollte, wenn er nicht wollte, dass sich daran nicht doch noch etwas änderte, weshalb er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn richtete. Er beugte sich über die Theke, um zu schauen, ob dort nicht die eine oder andere Flasche in seiner Reichweite stand und auch in diesem Punkt war das Glück auf einer Seite, denn unterhalb des Tresens, auf dem er sich abstützte, erspähte er diverse angefangene Spirituosen. Ohne groß nachzudenken oder genauer hinzuschauen, griff er nach einer von ihnen und förderte eine Flasche mit einer klaren durchsichtigen Flüssigkeit zutage, die sich als Wodka entpuppte. Da es Crispin gerade ziemlich egal war, womit er sich betrank und er einfach nur vergessen wollte, wie das heute alles gelaufen war, gab er sich damit zufrieden und entfernte sich wieder von der Bar, bevor er doch noch erwischt wurde. Aus diesem Grund verschwendete er auch keine weitere Zeit und schlich sich in den Bereich, der eigentlich für die Mitarbeiter vorgesehen war, um dort nach dem Hinterausgang zu suchen.
Nur wenig später stieß er die Tür auf und landete in einer kleinen Gasse. Große Müllcontainer säumten den Weg entlang des Gebäudes und versperrten die Sicht auf die Hauptstraße, die nach der Geräuschkulisse zu urteilen, jedoch nicht weit entfernt lag. Einzelne Zigarettenstummel lagen auf dem Boden herum und Crispin verzog leicht das Gesicht. Die Sauberkeit, die dem Besitzer im Inneren der Räumlichkeiten wichtig war, schien außerhalb hingegen keine allzu große Rolle zu spielen. Allerdings war dieser Ort im Normalfall auch nicht für die Augen der Besucher gedacht. Da er aber auch nicht wieder reingehen wollte, um sich dort eine Ecke zu suchen, in der er ungestört war, beschloss er, hier zu bleiben und setzte sich auf die einzelne Stufe. Dass sein Anzug dabei dreckig wurde, war ihm herzlich egal. Seine Eltern würden zwar mit Sicherheit an die Decke gehen, aber auch das konnte ihn gerade nicht weniger interessieren. Das Teil landete nach diesem Abend ohnehin in der Reinigung und warum sollte man den Mitarbeitern dort nicht ein wenig Arbeit verschaffen und diesem ganzen Aufwand überhaupt mal einen Grund geben?
Da er nicht weiter darüber nachdenken und sich allgemein keinen Kopf mehr um irgendwas, was den Abend betraf, machen wollte, öffnete er die Flasche, die er noch immer in den Händen hielt. Sofort lag der starke Geruch des Alkohols in der Luft und stieg ihm unweigerlich in die Nase, sodass er ein weiteres Mal kurzzeitig das Gesicht verzog. Es war nicht so, dass er nicht ein ums andere mal schon zu so etwas gegriffen hatte, wenn ihm alles über den Kopf wuchs, aber daran gewöhnt war er deswegen noch lange nicht. Daher brauchte er einen Augenblick, bis der penetrante Geruch nicht mehr ganz so unangenehm war. Sein Körper bereitete sich allerdings schon auf das gleich folgende brennende Gefühl im Hals vor, indem es ihn daran erinnerte, wie es war. Es glich beinahe der Empfindung, wenn man an etwas saures zu essen oder zu trinken dachte und sich die Geschmacksnerven alleine bei der Erinnerung daran zusammenzogen.
“Augen zu und durch”, murmelte er, wohl wissend, dass der erste Schluck immer der schlimmste war und es mit jedem weiteren besser wurde. Gerade als er die Öffnung der Flasche an seine Lippen setzen wollte, hörte er das Fauchen einer Katze und das Umstürzen irgendwelcher Gegenstände, die er anhand des Klangs nicht genau benennen konnte. Crispins Blick huschte direkt in die Richtung, aus der der Lärm kam und spähte in die Dunkelheit. Die Gasse war nur spärlich beleuchtet, weshalb es ihm schwer fiel, etwas zu erkennen. Daher wollte er das Ganze schon damit abtun, dass es womöglich einfach die Katze war, die etwas umgeworfen hatte.
“Fuck!”
Dieser leise Fluch ließ ihn seine Vermutung wieder verwerfen und er versuchte noch einmal etwas zu erkennen, was jedoch auch beim zweiten Anlauf fehlschlug.
“Wer ist da?! Komm gefälligst raus und zeig dich!”
Dass es vielleicht keine gute Idee war, einen provokanten Unterton in seine Stimme zu legen, war ihm durchaus bewusst. Schließlich hatte er keine Ahnung, wer sich da in seiner Nähe aufhielt, aber es war ihm gerade ziemlich egal, ob das Ärger bedeuten konnte oder nicht. Allerdings vergingen einige Momente, in denen sich nichts weiter tat und er wollte schon genervt noch einmal etwas sagen. Sicherlich wäre es besser, es einfach auf sich beruhen zu lassen und eventuell wieder nach drinnen zu gehen, doch alleine bei dem Gedanken, sich wieder mit seinen Eltern und den restlichen Gästen auseinanderzusetzen, sträubte sich alles in ihm. Im Grunde wollte er an diesem Abend niemanden mehr von ihnen sehen, auch wenn er wusste, dass es zumindest bei seiner Familie nicht so einfach umzusetzen war. Mit diesem Gedanken musste er sich gerade aber auch nicht weiter beschäftigen, da sich die Person endlich dazu entschied, seiner Aufforderung nachzukommen und sich langsam von der Dunkelheit in das Licht einer in der Nähe stehenden Laterne bewegte. Dabei sah er, dass es sich um einen Mann handelte. Dieser zupfte sich etwas aus den Haaren, was er nicht erkennen konnte, aber mit Sicherheit während des kleinen Zwischenfalls dort hinein geraten war. Crispin behielt ihn im Blick, musterte ihn von oben bis unten und musste zugeben, dass er nichts dagegen hätte, die Kleidung mit ihm zu tauschen, auch wenn das ein überflüssiger Gedanke war. Dennoch konnte er nichts dagegen tun, dass er sich in seinen Kopf schlich. Wenn man bedachte, dass er in Klamotten steckte, die er im Grunde hasste, und die seines Gegenüber dagegen recht bequem aussahen, konnte man ihm das wohl auch nicht verdenken. Zwar war er kein Freund von Lederjacken, aber im Gegensatz zu einem Anzug war alles besser.
“Bist du dafür nicht noch zu jung?”
Die tiefe Stimme seines Gegenübers holte ihn aus seiner Betrachtung und seinen Überlegungen, doch er brauchte einen kurzen Moment, bis er begriff, was er meinte. Dafür folgte er dem Blick der dunklen Augen, die in der relativ dunklen Gasse beinahe schwarz wirkten und auf der Flasche in seinen Händen lagen. Er selbst zog die Augenbrauen zusammen und schaute wieder auf.
“Was geht dich das an?!”, schnaubte er abfällig. “So wie du aussiehst, bezweifle ich, dass du zu dieser ach so tollen Gesellschaft dazugehörst, die sich da drinnen gerade selbst feiert. Somit kann dir das vollkommen am Arsch vorbei gehen!”
Crispin hasste es, bevormundet zu werden, und dabei war es egal, ob es sich um seine Eltern, Lehrer oder andere Personen handelte. Gerade bei ersteren schluckte er seinen Missmut darüber in der Regel herunter, aber bei dem Schwarzhaarigen, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand und durch seine sitzende Position auf ihn herabsah, würde er dies mit Sicherheit nicht tun. Verlieren konnte er immerhin nichts, wenn er ihn gegen sich aufbrachte und was er von ihm dachte, war ihm egal. Redete er sich zumindest ein, denn eigentlich störte es ihn, dass jeder wirklich immer nur das sah, was er ihnen zeigte. Der einzige, der sein wahres Ich hinter seiner Fassade kannte, war sein Bruder. Alle anderen machten sich nicht die Mühe und stempelten ihn lieber ab und steckten ihn in irgendeine Schublade.
“Da hast du mich wohl erwischt”, zog der andere seine Aufmerksamkeit wieder zu ihm und bestätigte damit das Offensichtliche, bevor er ihn versuchte zu belehren. “Und du siehst aus, als wolltest du vor der erwähnten Gesellschaft fliehen. Wobei dir das Zeug sicher wenig dabei helfen wird. Das einzige, was du riskierst, ist ein Kater.”
Ohne mit der Wimper zu zucken, überbrückte er den Abstand bis zu Crispin, der bei dieser Aussage ein weiteres Mal schnaubte. Bevor er allerdings zu einer Erwiderung ansetzen konnte, wurde ihm die Flasche aus der Hand gerissen und der Unbekannte entfernte sich anschließend wieder einige Schritte von ihm.
“Hey, gib die gefälligst wieder her! Was interessiert es dich überhaupt?! Wir kennen uns nicht mal!”
Für einen kleinen Augenblick hatte Crispin das Gefühl, als hätte er den anderen überrascht, denn seine Augen weiteten sich ein wenig. Vielleicht bildete er sich das Ganze aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse aber auch nur ein und seine Augen spielten ihm einen Streich, da die Reaktion wenn dann auch nur einen Sekundenbruchteil andauerte. Stattdessen sah ihn der Schwarzhaarige ungerührt an und machte keine Anstalten, auf seine Forderung einzugehen, sodass er seine Flasche wiederbekommen konnte.
"Stimmt wohl, aber das ändert nichts daran, dass du dafür noch viel zu jung bist", entgegnete er ihm und bestätigte damit seine Vermutung, dass er wohl nicht vorhatte, seiner Aufforderung nachzukommen. Wieso musste sich das Leben an diesem Abend eigentlich mal wieder so dermaßen gegen ihn stellen? Erst die Aktion von Élodys Familie, die spontan entschieden, dass sie doch lieber ein anderes Musikstück zu Ehren der Verlobung ihrer Tochter mit seinem Bruder hören wollten, sodass es nicht anders ging, als dass dieser das übernahm. Und nun war es ihm nicht einmal vergönnt, diesen Abend mit Alkohol ein wenig erträglicher zu gestalten, nur weil irgendein dahergelaufener Typ der Meinung war, er wäre zu jung dafür. War er im Grunde zwar auch, aber das spielte für ihn gerade überhaupt keine Rolle.
Seine Laune sank spontan noch ein wenig tiefer, wobei er bis eben nicht geglaubt hatte, dass dies überhaupt möglich war.
"Bullshit! Außerdem ist das immer noch mein Leben!", ließ er nicht locker, da er nicht einmal ansatzweise vor hatte, sich in diesem Punkt gerade bevormunden zu lassen - schon gar nicht von einem Wildfremden, der ihn überhaupt nicht kannte und somit überhaupt kein Recht dazu hatte. "Und jetzt gib die wieder her!"
Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen - und weil Crispin nicht glaubte, dass diese genau wie seine letzten Wirkung zeigen würden - erhob er sich und überbrückte die kurze Distanz, die der andere zwischen sie gebracht hatte.
Ohne zu zögern, griff er nach der Wodkaflasche, musste aber schnell feststellen, dass der Griff des Unbekannten kräftiger war, als es den Anschein machte. Daher hielt er inne, musterte ihn noch einmal, während er direkt vor ihm stand. Neben der Tatsache, dass er ihn locker um einen Kopf überragte, wirkte er im Allgemeinen recht schmächtig und absolut nicht muskulös, weshalb es ihn noch sehr viel mehr überraschte, dass er die Flasche so entschlossen festhielt. Wobei sich Crispin in Erinnerung rufen musste, dass Stärke nicht zwingend etwas mit dem Körperbau und dem offensichtlichen Erkennen von Muskeln zu tun haben musste. Wäre dem so, müsste jeder Bodybuilder nur so vor Kraft strotzen, doch vermutlich bekamen die meisten von denen nicht einmal ein Glas ohne Hilfe auf, da ihre Muskeln lediglich auf Hormonen statt auf wirklichem Training beruhten.
Allerdings trug diese Erkenntnis nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte, genauso wie die Worte des anderen, die er zu hören bekam.
"Nichts da. Die bleibt bei mir."
Crispin wollte schon etwas darauf erwidern, ihn erneut daran erinnern, dass sie sich nicht kannten und es ihm somit herzlich egal sein konnte, wenn er sich mit dem Wodka betrank. Jedoch lenkte ihn ein leicht süßlicher Duft, der mit einem Mal in der Luft hing und ihn merklich umgab, erfolgreich davon ab. Vanille, schoss es ihm durch den Kopf, während er den anderen weiter ansah und sein Blick dabei an den dunklen Augen hängen blieb. Der Geruch erinnerte ihn an Vanille.
"Wie heißt du eigentlich?"
Durch den Duft komplett abgelenkt und durch die Tatsache, dass dieser ein seltsames Gefühl in ihm auslöste, das er weder zu deuten noch zu benennen wusste, brauchte er einen Augenblick, bis er begriff, was der andere eigentlich gerade von ihm wollte. Überrumpelt und irritiert, weil er damit so gar nicht gerechnet hatte, sah er ihn mehrere Sekunden einfach nur an, bis er endlich seine Sprache wiederfand, wobei er gleichzeitig seine Augenbrauen zusammenzog.
"Das werde ich dir ganz gewiss nicht sagen! Aber was willst du hier eigentlich?! Du wirkst nicht, als würdest du in diese Gegend gehören."
Schon im ersten Moment, als er ihn dank der Straßenlaterne erkennen konnte, war ihm dies aufgefallen. In der Gegend, in der sie sich befanden, verkehrte vor allem die gehobene Gesellschaft. Die Leute, die man hier zu Gesicht bekam, trugen somit Maßanzüge und Designerkleider, aber ganz gewiss keine Skinny Jeans und Lederjacken. Mit diesem Outfit zählte sein Gegenüber eher zu den zwielichtigen Gestalten, die jedes Mitglied der Oberschicht mit Abscheu ansehen würde.
Crispin hasste diese Oberflächlichkeit schon seit einer gefühlten Ewigkeit, aber um nicht alles zu verlieren, was er hatte, hielt er die Klappe und ertrug es - auch wenn es nicht immer einfach war.
Mit seiner eigenen Frage schien er nun jedoch auch den anderen aus dem Konzept gebracht zu haben, denn dieser sah ihn überrascht an.
"Hmm…? Also… Ich hatte hier einen Auftrag. Ich bin Kammerjäger", entgegnete er ihm, nachdem er sich offensichtlich wieder gefangen hatte. Dabei wirkte er, als meinte er das tatsächlich ernst. Ungläubig und skeptisch sah Crispin ihn an. War das sein ernst? Glaubte er wirklich, dass er ihm das abkaufen würde? Abschätzig ließ er seinen Blick noch einmal über ihn wandern, um schon alleine damit zu zeigen, was er von dieser Aussage hielt, und schnaubte leise, als er an dessen Gesicht und besonders den dunklen Augen wieder ankam.
"Pah! Natürlich und ich bin der Kaiser von China!"
"Soweit ich mich erinnere, wirkt der in einem Anzug weniger gut gebaut."
Die Stimme des anderen war nur leise, fast nicht zu hören, weshalb Crispin nicht wusste, ob er sich nicht vielleicht verhört hatte. Doch wenn nicht…
"Was?!", enfuhr es ihm und sein Gegenüber sah ihn ertappt an, bevor er sich in einer abrupten Geste mit seiner freien Hand durch die Haare strich.
"Äh… Ach nichts."
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Ganz langsam aber stetig ebbte der Applaus ab, der einsetzte, nachdem der letzte Ton den Flügel verlassen hatte und in dem großen Saal verstummte. Cyrian schaute in die Menge, in das vor Freude strahlende Antlitz seiner Mutter und die stolzen Gesichter seiner zukünftigen Schwiegereltern. Je länger der Jubel dauerte, umso unwohler wurde ihm, obwohl er diese Art und Länge der Beifallsbekundungen bereits sehr gut kannte und gewohnt war. Heute allerdings hinterließen sie einen fahlen Beigeschmack, da nicht er sondern sein Bruder hier stehen und bejubelt werden sollte. Sein Blick wanderte durch den Raum auf der Suche nach ihm, während er sich erhob und die niedrige Bühne verließ, die extra für diesen Anlass aufgebaut wurde, um zu seiner und Élodys Familie zu gehen. Enttäuscht musste er feststellen, dass er Crispin nirgendwo finden konnte. Wirklich übel konnte er es ihm nicht nehmen, dass er sich nicht unter den momentan Anwesenden befand, auch wenn es ihn gefreut hätte, wenn er ebenfalls zugehört hätte. Allerdings konnte er es verstehen. Wochenlang hatte er sich auf diesen Tag vorbereitet, wollte, dass alles perfekt war, um ihm eine Freude zu bereiten und ihn und sich selbst nicht zu blamieren und kurz vor dem großen Augenblick wurde entschieden, dass die Eltern seiner Verlobten ein anderes Stück zu Ehren dieses Tages hören wollten. Dass er verletzt und frustriert darüber war, war sicherlich noch harmlos ausgedrückt.
"Oh Cyrian-Schatz, du warst wirklich fantastisch. Genauso wie ich mir das vorgestellt habe", kam Yoona lobend und mit demselben glücklichen Lächeln auf den Lippen zu ihm und zog ihn in eine Umarmung. Cyrian erwiderte diese kurz und murmelte ein leises "Danke, Mom", während seine Gedanken noch immer bei seinem kleinen Bruder waren. Er konnte sich nicht genauso über den gelungenen Auftritt freuen, wie seine Mutter. Dafür empfand er die ganze Situation als viel zu ungerecht. Doch er sagte nichts, wollte vor den anderen Gästen keinen schlechten Eindruck hinterlassen und seine Eltern nicht gegen sich aufbringen, nur weil ihm nicht gefiel, was Élodys Familie - vermutlich aus purer Absicht und Berechnung - getan hatte. Diese kam ebenfalls zu ihm, um ihn zu beglückwünschen.
"Das war fabelhaft. Neben deinem ausgezeichneten Verhalten, bist du wirklich äußerst talentiert. Ganz im Gegensatz zu deinem Bruder. Daher bin ich auch sicher, dass es Élody bei dir gut gehen wird und wir unsere Entscheidung nicht bereuen werden."
Eine Welle des Protests baute sich in ihm auf, als er die Worte von Mrs. L'amour hörte, doch auch diesen schluckte er herunter, zwang sich stattdessen ein Lächeln auf die Lippen, während er sich leicht vor ihr verbeugte.
"Das freut mich sehr zu hören, Mrs. L'amour. Wenn Sie mich aber kurz entschuldigen würden."
Cyrian erwähnte nicht, was er vorhatte, schob auch keine Lüge davor oder wartete gar auf ein Einverständnis, als er sich auch schon von ihnen abwandte, um sich stattdessen auf die Suche nach seinem Bruder zu machen. Dies war jedoch nicht der einzige Grund, warum er ging. Er musste einfach kurz weg, da er sonst das Gefühl hatte, vielleicht doch etwas zu sagen, was weder seinen Eltern noch denen seiner Zukünftigen gefallen dürfte. Es nervte ihn gewaltig, wie alle über Crispin sprachen, dachten, er hätte kein Talent für das Spielen auf dem Klavier, denn seiner Meinung nach lagen sie in diesem Punkt vollkommen falsch. Und jedes Mal hatte er alle Mühe, sich zurückzuhalten, nichts zu sagen und seinen Bruder in Schutz zu nehmen, um seine Familie nicht schlecht dastehen zu lassen, da auch ihre Eltern nicht widersprachen, wenn Crispins mangelndes Talent zur Sprache kam.
Er verstand aber auch einfach nicht, wie sie überhaupt darauf kamen. In seinen Augen war sein Bruder sogar sehr viel besser als er. Mithilfe von Notenblättern ein Stück zu spielen, war mit ein wenig Übung nicht besonders schwer. Das brachten viele zustande, solange sie die Noten lesen konnten. Für Crispin waren diese ein Mysterium, was der Grund dafür war, warum keiner anerkannte, was er konnte. Doch war diese Schwäche wirklich ein Makel? Sein Bruder mochte damit nichts anfangen können, wodurch er in Situationen wie der heutigen einen Nachteil hatte, doch genau wie Analphabeten hatte er einen Weg gefunden, damit umzugehen und das Klavier spielen dennoch zu lernen. War es somit also wirklich so schlimm, dass er nicht aus dem Stehgreif ein Stück spielen konnte?
Seines Erachtens nicht, denn wer konnte schon behaupten, dass er so etwas aus der Erinnerung heraus hinbekam? Crispin brauchte nicht lange, um sich eine Melodie zu merken, besaß neben seinem guten Gehör ein ausgezeichnetes Gedächtnis für so etwas und betätigte die Tasten zudem nicht nur plump, damit sie einen Ton von sich gaben, sondern legte jedes Mal seine Gefühle mit hinein. Er war nicht perfekt und auch wenn Cyrian im Gegensatz zu seinem Bruder keine Probleme mit den Notenblättern hatte, konnte er doch stolz behaupten, dass Crispin ihn bereits übertroffen hatte.
Nur sah die Gesellschaft, in der sie sich bewegten, das alles ein wenig anders. Für sie musste man nahezu perfekt sein. Sie hatten ihre Vorstellungen und jeder, der nicht in diese hineinpasste, wurde schräg angesehen und über den wurde - meist hinter dem Rücken - abwertend gesprochen. Menschen, die Dinge anders angingen und dennoch an ihr Ziel kamen, waren nicht gern gesehen und somit hatte er selbst einfach nur Glück, dass er in dieses vorgefertigte Raster passte und den gestellten Anforderungen gerecht wurde. Wie schwer man es andernfalls hatte, sah er jeden Tag an seinem Bruder, der mit dieser Oberflächlichkeit leben musste und darunter litt…
"Cyrian."
Eine sanfte Stimme durchdrang seine Gedanken und als er eine Hand an seinem Arm spürte, deren Finger sich in den Ärmel seines Jacketts krallten, schüttelte er beinahe unmerklich den Kopf, um sich wieder zu fangen und schaute zu der Person, die ihn angesprochen hatte. Élody sah ihn leicht besorgt an. Sie wusste, was er davon hielt, wie über seinen Bruder gesprochen wurde und konnte daher sicher verstehen, warum er das Weite gesucht hatte.
"Was hast du vor?"
"Ich will nur Crispin suchen, damit er nichts anstellt", entgegnete er ihr und ein sanftes, verständnisvolles Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen und strich ihm mit der Hand, mit der sie ihn festgehalten hatte, über den Arm.
"Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich kümmere mich um unsere Gäste."
Mit diesen Worten entfernte sie sich wieder von ihm, lief zurück zu den anderen und Cyrian konnte nicht in Worte fassen, wie dankbar er ihr dafür war. Auch wenn ihre Verlobung und auch die spätere Hochzeit nicht auf Liebe sondern nur auf einem Geschäft zwischen ihren Familien beruhte, so hatte er doch noch Glück mit der Wahl, die seine Eltern getroffen hatten. Schließlich hätte es ihn auch sehr viel schlimmer treffen können.
Um jedoch nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, die er besser dafür nutzen konnte, nach Crispin zu suchen, verscheuchte er auch diese Gedanken, und setzte sich stattdessen in Bewegung.
Cyrian wusste, wo er suchen musste, kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er sich in Situationen wie der heutigen einen ruhigen Ort suchen würde, an dem er ungestört sein und vor sich hin brüten konnte. Das war schon so, als sie noch klein waren. Immer, wenn es Crispin zu viel wurde, hatte er sich abgesetzt, hatte sich eine ruhige Ecke - vorzugsweise eine Fensterbank - gesucht und den Rest der Veranstaltung dort verbracht. Und jedes Mal war er ihm nachgelaufen, wenn er einen passenden Moment gefunden hatte, um ihm Gesellschaft zu leisten und ihn aufzubauen. Ganz besonders, als es noch so aussah, als würde er es nie schaffen, Klavier zu spielen.
Dieses Mal sah es allerdings schlecht aus. Ganz egal, wo er auch nachsah, war nichts von dem Jüngeren zu sehen und er fragte sich schon, ob Crispin wohl einfach abgehauen war. Zutrauen würde er es ihm, vor allem an dem heutigen Abend. Daher steuerte er, nachdem er alles andere abgesucht hatte, den Bereich für die Mitarbeiter an, bei dem er wusste, dass sich dort noch ein Ausgang und vielleicht auch ein Ort befand, an dem er fündig werden könnte. Hätte er bei einer Flucht den Haupteingang benutzt, hätte man ihnen Bescheid gegeben. Darauf bestanden ihre Eltern nach Crispins Fluchtversuch, als dieser gerade einmal fünf Jahre alt war und es tatsächlich geschafft hatte, für mehrere Stunden zu verschwinden. Es war das erste Mal, dass er gesehen hatte, dass sich sowohl seine Mutter als auch sein Vater Sorgen um ihren Jüngsten machten. Seitdem hatte er es zwar nie wieder versucht, doch die Vorsichtsmaßnahme für diesen Fall gab es noch immer, was er selbst wirklich unnötig fand, denn schließlich waren sie keine kleinen Kinder mehr und sein Bruder konnte durchaus auf sich selbst aufpassen. Dennoch hoffte er, dass Crispin auch an diesem Tag nicht verschwunden war, als er die Hintertür erreichte und diese öffnete.
Die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, verwirrte ihn für einige Sekundenbruchteile. Crispin stand vor einem völlig fremden Mann, die Hand an einer Flasche, deren Inhalt er durch die schlechten Lichtverhältnisse nicht erkennen konnte, doch die Form ließ darauf schließen, dass sich Alkohol darin befand.
Auch wenn keiner der beiden bisher zu ihm gesehen hatte, war er sich sicher, dass sie ihn durch die Geräusche der Tür gehört hatten. Bis auf die Autos, die man von weitem über die Hauptstraße fahren hörte, war es in dem kleinen Hinterhof weitestgehend ruhig. Daher machte er sich auch keine weitere Mühe, sich bemerkbar zu machen, bevor er seine Stimme erhob.
"Hier bist du also. Ich hab dich gesucht. Was machst du hier draußen?"
Wachsam behielt er sie im Blick, wobei er diesen vor allem über den Unbekannten wandern ließ, der seiner Kleidung nach zu urteilen, zu keinem der Gäste gehörte. Was machte er also hier hinter dem Gebäude und was wollte er von seinem Bruder? Innerlich ärgerte er sich darüber, dass er nicht schneller war, da er somit nicht wusste, was hier eigentlich vor sich ging. Oder kannte Crispin ihn vielleicht?
Bevor er ihn danach fragen konnte, schaute sein Bruder über die Schulter hinweg zu ihm. Trotz lag in seinem Blick, den er dort schon erwartet hatte, der jedoch nicht ihm galt.
"Wonach sieht es denn aus? Ich hatte keinen Bock mehr, mir das da drinnen noch anzutun! Das Ganze ist die reinste Farce und den Wunsch von Élodys Eltern zu erfüllen, hast du sicher auch ohne mich geschafft."
Augenblicklich senkte Cyrian den Blick ein wenig und presste die Lippen aufeinander. Ja, ihm war bewusst, was sein Bruder von der Verlobung hielt. Das hatte er bereits sehr deutlich gezeigt, als ihm diese Entscheidung während eines Abendessens bei Élodys Familie mitgeteilt wurde. Er musste zugeben, dass er recht hatte, dass es eine ziemliche Farce war, da jeder wusste, warum ihre Eltern diese Hochzeit wollten. Es ging nicht darum, dass er oder seine Verlobte glücklich wurden. Es war egal, was sie füreinander empfanden, und dass sie seit ihrer Kindheit befreundet waren, war lediglich ein glücklicher Zufall. Genauso gut hätten sie sich vollkommen fremd sein können und es wäre dennoch zu dieser Vereinbarung gekommen. Das einzige, was zählte, war der Zusammenschluss der Firmen und das Ansehen in der Oberschicht, denn somit wurde nicht nur das Vermögen gesichert, sondern auch, dass sich niemand von Außerhalb in die Familien schleichen konnte, der eventuell alle blamieren oder sogar ruinieren konnte, wenn etwas komplett schief lief.
Und genau wie an dem Abend war Crispin auch heute das schwarze Schaf, das die Rechnung für all die Oberflächlichkeiten bezahlen musste.
"Es tut mir leid, wie das gelaufen ist. Ich wusste nichts davon, dass sie ihre Meinung noch einmal ändern würden und dich so auflaufen lassen."
Cyrian konnte nichts dafür und doch fühlte er sich beinahe dazu verpflichtet, sich für das Ganze zu entschuldigen. Wirklich richtig fühlte es sich jedoch nicht an, auch wenn er bald ein Teil dieser Familie sein würde, denn es kam ihm so vor, als würde er diese bevorzugen und in Schutz nehmen, während er es ihnen gegenüber bei Crispin nicht schaffte. Was ein weiterer Grund dafür war, dass er ihn gerade nicht ansehen konnte und die Lippen erneut aufeinander presste.
"Wie gesagt, lass gut sein. Wir wissen beide, warum sie das getan haben. Für mich ist der Abend abgehakt."
"Ich weiß…", gab er daraufhin nur von sich, denn ihm war tatsächlich bewusst, dass sie es wegen des Verhaltens seines Bruders getan hatten, was er an dem Abend zeigte, als sie von der Verlobung erfuhren, und zudem gab es dazu auch nichts weiter zu sagen.
Stattdessen lenkte er seinen Blick wieder auf den Unbekannten, der selbst zur Seite sah, als gäbe es dort irgendetwas Interessantes zu sehen.
"Und wer ist das? Kennt ihr euch?"
Als hätte er gehofft, dass man ihn nicht ansprach oder gar bemerkte, zuckte der kleine Schwarzhaarige zusammen und sah ertappt an Crispin vorbei und zu ihm hinüber. Scheinbar wollte er nicht mehr von ihrem Gespräch mitbekommen als nötig, auch wenn dies in ihrer Lage so gut wie unmöglich war. Dennoch hielt er ihm zugute, nichts dazu zu sagen, worüber sie gesprochen hatten, denn andere hätten sich mit Sicherheit eingemischt und ihre Meinung zum Besten gegeben, obwohl sie keine Ahnung hatten, worum es eigentlich ging.
"Wer? Ich?"
"Das ist niemand. Und nein, wir kennen uns nicht", fuhr Crispin dazwischen, bevor er oder der Unbekannte noch etwas sagen konnten. "Aber mir wird das gerade alles zu blöd. Ich verschwinde. Behalt die Flasche. Ich besorg mir irgendwo was anderes."
Bei den letzten beiden Sätzen drehte sich Crispin um und blickte wieder zu der Person vor ihm. Wie bereits angekündigt überließ er ihm den Alkohol, indem er die Flasche los ließ. Anschließend trat er einen Schritt zurück und bevor Cyrian etwas tun oder sagen konnte, wandte sich der andere bereits von ihnen ab und trat den Rückzug an, indem er sich einen Weg an den Müllcontainern vorbei in Richtung der Hauptstraße suchte.
Ein Seufzen entwich ihm, als er ihm nachsah. Damit hätte er wohl früher oder später rechnen müssen und er haderte mit sich, ob er ihm nachlaufen und ihn aufhalten sollte oder nicht. Wobei sich diese Frage wohl gar nicht stellte. Weder konnte er hier einfach wortlos verschwinden, noch würde sich Crispin in seine Entscheidung, den Rest des Abends woanders zu verbringen, reinreden lassen. Doch er wollte ihn auch nicht sich selbst überlassen. Nicht in dieser Situation und schon gar nicht, wenn er tatsächlich an einer anderen Stelle die Chance hatte, hochprozentigen Alkohol aufzutreiben. Er konnte ihn einfach nicht sich selbst überlassen.
Diesem Gedanken folgend, richtete er seinen Blick wieder auf den Mann in der Lederjacke, der vollkommen irritiert zu sein und nicht so ganz zu wissen schien, wie er diese ganze Situation deuten sollte. Verdenken konnte er es ihm nicht, war er hier doch geradewegs in ein kleines Familienproblem hineingestolpert. Bei dem Anblick der Flasche in seinen Händen und der Tatsache, dass er diese Crispin allem Anschein nach abgenommen hatte, kam ihm eine Idee. Cyrian biss sich auf die Unterlippe, da er ganz genau wusste, dass es mit Sicherheit nicht das Klügste war, einen Fremden darum zu bitten, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er es tun konnte. Vielleicht war es aber auch nur seine Sorge um seinen Bruder und darum, was diesem zustoßen könnte, wenn er betrunken durch die Stadt lief, die ihn so fühlen ließ. Aber was hatte er für eine andere Wahl, da er sich gerade nicht selbst um ihn kümmern konnte, auch wenn ihn alles dazu drängte?
Einen Moment haderte er noch mit sich, bevor er alle Bedenken über den Haufen warf, zur Seite schob und die Stille durchbrach, die seit Crispins Abgang in der Gasse entstanden war.
"Auch wenn ihr euch nicht kennt…", begann er, brach kurz ab, um noch einmal kurz darüber nachzudenken, ob es wirklich das richtige war, bevor er weiter sprach. "Könnte ich dich darum bitten, ein Auge auf meinen Bruder zu haben?"
Sofort hatte er die Aufmerksamkeit des anderen, der ihn sichtlich überrascht anblickte. Einige Sekunden verstrichen, bis er den Kopf schüttelte.
"Ich denke nicht, dass ich dafür die richtige Person bin. Wie du schon sagtest, kennen wir uns nicht. Er wollte mir nicht mal seinen Namen verraten. Somit bin ich dafür sicher nicht geeignet. Außerdem… Wieso bist du so sicher, dass ich ihm nichts antun würde?"
Es war, als hätte er ihm in den Kopf geschaut und wusste daher, worüber er sich Gedanken gemacht hatte, aber vermutlich war dies auch nicht verwunderlich. Wer fragte schon einen Wildfremden, ob er auf jemanden aufpassen konnte? Vielleicht war er in diesem Punkt gerade naiv oder dumm, aber irgendetwas sagte ihm, dass sein Gegenüber nichts dergleichen vorhatte, was man einem anderen Menschen aus böser Absicht antun konnte.
"Ich muss gestehen, dass ich diese Bedenken kurzzeitig hatte, aber so wie es aussieht, wolltest du ihn davon abhalten, sich zu betrinken. Wenn du vorgehabt hättest, ihm etwas zu tun, hättest du auch warten können, bis er betrunken gewesen wäre", erwiderte er ihm und ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Damit versuchte er seine eigene Unsicherheit bezüglich seiner Entscheidung zu überspielen und ihm zu zeigen, dass er es ernst meinte. Da er jedoch noch nicht auf alles eingegangen war, fuhr er direkt fort.
"Dass er dir nicht sagen wollte, wie er heißt, ist sehr typisch. Sein Name ist Crispin. Er…"
Cyrian stockte kurz und schaute zu der Gasse, die sein Bruder kurz zuvor entlanggelaufen war, um der Situation zu entfliehen. Eine Spur Bedauern und Traurigkeit legte sich dabei in seinen Blick, als er an ihn dachte.
"Er hat es nicht wirklich leicht und ich befürchte der heutige Abend war einfach zu viel und hat eine Grenze überschritten. Daher wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du ein bisschen auf ihn aufpassen oder ihn vielleicht sogar nach Hause bringen würdest."
Seine Stimme war leiser als zuvor, aber er war sich sicher, dass der andere ihn dennoch gehört hatte, denn als er wieder zu ihm sah, hatte dieser die Augenbrauen zusammengezogen, als müsste er über seine Worte nachdenken. Beinahe rechnete er damit, er würde noch einmal ablehnen, was er nur zu gut verstehen könnte. Er kannte sie nicht, hatte mit der ganzen Situation nichts zu tun und war nicht dazu verpflichtet, auf seine Bitte einzugehen. Sie abzulehnen wäre wohl die logischste Reaktion und doch hoffte er tief in seinem Inneren, dass er sich dafür entschied.
"Ich würde es gerne selbst tun, aber ich kann hier nicht weg. Hier ist unsere Adresse", fügte er noch an und griff in die Brusttasche seines Jacketts, in dem er einige Visitenkarten aufbewahrte. In der heutigen Zeit von Smartphones und Messengerdiensten war es schwer vorstellbar, dass so etwas noch gebraucht wurde, aber gerade die ältere Generation legte noch Wert darauf und seine Eltern hatten ihn oft genug darauf hingewiesen, wie wichtig es war, sich auch mit diesen gut zu stellen. Genau aus diesem Grund trug er während solcher Anlässe immer ein paar davon bei sich, was sich gerade jetzt als positiv herausstellte.
Mit der Karte in der Hand überbrückte er die kurze Distanz und hielt sie ihm entgegen, in der Hoffnung, dass er ihn überzeugt hatte und er nicht ablehnte. Einen endlos langen Augenblick, der sich für Cyrian wirklich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, herrschte Stille zwischen ihnen, während der Kleinere die Karte in seiner Hand musterte. Beinahe befürchtete er schon, dass er sich etwas anderes einfallen lassen musste, doch als er schon alle Hoffnung aufgeben und die Hand zurückziehen wollte, seufzte der andere und nahm ihm das Visitenkärtchen ab.
"Okay, ich mach es. Aber du solltest echt nicht jeden Fremden darum bitten."
Erleichtert über die Antwort erschien ein Lächeln in seinem Gesicht. Ihm war bewusst, dass er recht hatte, aber das änderte nichts daran, dass er froh war, dass Crispin sich nicht alleine irgendwo betrinken würde.
"Weiß ich, aber danke."
Der Unbekannte schüttelte den Kopf, machte sich aber sofort daran, seinem Bruder zu folgen, damit er ihn noch einholen konnte. Cyrian hoffte, dass dieser noch nicht allzu weit gelaufen war und er ihn fand, während er ihm nachsah, bis auch er von der Dunkelheit in der Gasse komplett geschluckt wurde und er ihn dort nicht mehr ausmachen konnte.
Nun selbst einen Seufzer ausstoßend, fuhr er sich mit beiden Händen erst über das Gesicht und dann durch die Haare. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, was er seinen Eltern erzählen würde, denn die Wahrheit wollte er in diesem Fall doch lieber für sich behalten.
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Um seinem Frust über den Abend und darüber, wie dieser verlaufen war, ein Ventil zu geben, trat Crispin gegen eine leere Dose, die jemand achtlos auf den Boden geworfen hatte, anstatt sie in einen der Müllcontainer zu befördern, an denen er vorbei lief. Klappernd kam sie kurz drauf wieder auf dem Boden auf und rollte noch ein kleines Stück darüber, bevor sie liegen blieb und er die Chance nutzte, noch einmal dagegen zu treten, als er sie erreicht hatte. Seine Hände schob er dabei in die Taschen seiner Anzughose, die er gerade genauso verfluchte, wie alles andere, und sie am liebsten loswerden würde. Doch dafür müsste er nach Hause und darauf hatte er ebenso wenig Lust. Vor allem da er dort nichts finden würde, was ihn den ganzen Mist des heutigen Tages vergessen ließ, da sein Vater dafür sorgte, dass sämtlicher Alkohol gut verschlossen war. Zuhause würde er also auch nur nüchtern vor sich hin fluchen können, was das alles nicht angenehmer machte und ihm seinen Wunsch, das alles am liebsten zu vergessen, nicht erfüllte.
"Ist doch alles scheiße…", murrte er und trat wieder gegen die Getränkedose. Dieses Mal jedoch so kräftig, dass sie auf der Straße landete, wo sie vom nächsten Fahrzeug, das vorbei kam, platt gefahren wurde und ihm ein weiteres fluchendes Grummeln entlockte. Dass alles scheiße war, traf es somit nicht einmal ansatzweise, da ihm nun auch diese kurzweilige Beschäftigung abhanden gekommen war. Crispin verfluchte allerdings nicht nur seine und Élodys Familie, sondern irgendwo auch sich selbst. Er hätte einfach niemals zustimmen dürfen, das Stück für seinen Bruder und dessen Verlobte zu spielen - der Wunsch Cyrian eine Freude zu bereiten hin oder her. Wie das ablaufen würde, hätte er sich früher denken können, schließlich wusste er doch, was die Eltern seiner zukünftigen Schwägerin von ihm hielten. Dabei versuchte er sich, so gut es ging, anzupassen und trotzdem war es für niemanden gut genug. Scheinbar nicht mal für seine eigenen Eltern, die zwar vorgaben, ihn zu unterstützen, indem sie ihn zu solchen Anlässen spielen ließen, aber wenn er genau darüber nachdachte, war diese Unterstützung genauso geheuchelt wie alles andere, denn stünden sie tatsächlich hinter ihm, wäre es an diesem Abend vermutlich niemals zu dieser Situation gekommen, dass man ihn derart auflaufen ließ. Eine leise Stimme in ihm flüsterte ihm zu, dass sie es vorher wussten und ihn darauf hätten vorbereiten können. Das hätte zwar nichts daran geändert, dass es ihn verletzt hätte und er enttäuscht darüber gewesen wäre, aber man hätte ihn nicht vor versammelter Mannschaft bloßgestellt.
So über seine eigenen Eltern zu denken, schmerzte zutiefst, aber was sollte er anderes tun, wenn sie sich nicht für ihn einsetzten? Nicht einmal dann, als es ihm verkündet wurde, hatten sie ihm zur Seite gestanden. Der einzige, der sich darum gesorgt hatte, wie es ihm ging, war Cyrian. Wieder einmal und so wie es im Grunde immer war. Wieso nur machte er das alles also weiter brav mit, schluckte seine Proteste und seinen Widerwillen herunter, obwohl es ihm immer schwerer fiel, den folgsamen Sohn zu spielen?
Augenblicklich grub er seine Zähne in seine Unterlippe und kaute darauf herum. Er wusste ganz genau, warum er das tat: Weil ihm nichts anderes übrig blieb und er andernfalls alles verlieren würde. So sehr ihn das alles auch nervte und er am liebsten ausbrechen würde, er hatte keine andere Wahl, als einfach weiterzumachen, denn die geheuchelte Aufmerksamkeit und Liebe seiner Eltern war immer noch besser, als die offene Ablehnung, die er zu spüren bekommen hatte, als er noch jünger war und bevor er seinen eigenen Weg für das Klavier spielen gefunden hatte.
Ein stechender Schmerz zog sich durch seine Brust, als er daran zurückdachte, und er schloss für einen Moment die Augen, während er stehen blieb und den Druck auf seine Unterlippe noch erhöhte, bis er spürte, dass er es übertrieb, da sie aufriss und er den metallischen Geschmack des Blutes im Mund hatte.
"Ach, verdammt…", murmelte und trauerte der Wodkaflasche hinterher, die er dem Unbekannten in der Gasse überlassen hatte. Er hätte sie doch mitnehmen sollen. Irgendwas wäre ihm sicher eingefallen, um sie wieder an sich zu bringen. Doch leider war in dem Moment seiner Flucht, das Gefühl, aus dieser Situation heraus zu müssen, sehr viel stärker, als sein Bedürfnis nach dem Alkohol und nun musste er zusehen, wo er etwas Neues herbekam.
Sein Blick glitt die Straße entlang, wanderte über die kleinen exquisiten Geschäfte, die sich in diesem Stadtteil befanden und die Menschen, die nicht wussten, wohin mit all ihrem Geld, dazu verführten, es für völlig überteuerte und unnötige Sachen auszugeben. Er hatte noch nie wirklich viel davon gehalten, aber heute kamen ihm diese Läden vielleicht zugute, als er einen für Spirituosen aus aller Welt entdeckte. Dass diese womöglich ebenfalls übertrieben viel kosteten, war ihm vollkommen egal, denn erstens hatte inzwischen ohnehin alles geschlossen und selbst wenn nicht, hätte er ohnehin nicht vorgehabt zu bezahlen. Auf diese Weise ein wenig zu rebellieren, fühlte sich dafür viel zu verlockend an, auch wenn es wohl keiner außer dem Besitzer merken würde, wenn er es richtig anstellte. Erfahrung hatte er darin nicht, aber Übung machte den Meister, oder etwa nicht?
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sah er sich um, damit er gefahrlos über die Straße kam, da sich das Geschäft auf der anderen Seite befand, doch bevor er auch nur einen Fuß auf die Fahrbahn setzen konnte, wurde er davon abgehalten, als er plötzlich diese bereits viel zu vertraut klingende tiefe Stimme seinen Namen rufen hörte.
"Crispin? Warte mal."
Verwirrt darüber, wieso der Schwarzhaarige mit der Lederjacke wusste, wie er hieß, hielt er mitten in der Bewegung inne und drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war und aus der ihm der andere gerade entgegenkam.
"Woher…?", setzte er an, als er bei ihm war und wollte ihn schon wegen der Sache mit seinem Namen fragen, als ihm auch schon dämmerte, woher der Wind wehte. Ein Seufzen entwich ihm daraufhin. "Schon klar, mein Bruder… Was willst du?! Hat er dich beauftragt, meinen Bodyguard zu spielen?!"
Jemand anderen konnte er sich nicht vorstellen und es würde Cyrian ähnlich sehen. Crispin verstand, dass er ihm, anders als sonst, nicht nachlaufen konnte, und er wusste auch nicht, ob er das heute überhaupt wollen würde.
Sein Gegenüber zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen nach oben, das ihm zusätzlich zeigte, dass er richtig lag, auch wenn er weder diese noch die darauf folgende verbale Bestätigung gebraucht hätte.
"So in der Art."
Crispin schnaubte, auch wenn er es bereits wusste, denn nur weil er damit wohl hätte rechnen müssen, dass ihn sein Bruder nicht alleine wissen wollte, hieß das nicht, dass es ihm gefiel. Er war immerhin kein kleines Kind mehr.
"Spar es dir! Ich brauch keinen-", wollte er schon protestieren, als ihm mit einem Mal die Flasche mit dem Wodka entgegengehalten wurde.
"Ja, ja, schon klar, du brauchst keinen Bodyguard", beendete er schulterzuckend seinen Satz. "Hier, die kriegst du wieder. Aber dafür bringe ich dich nach Hause."
Überrumpelt und sprachlos sah er ihn an, wusste weder, was er sagen noch tun sollte, da die Situation anders verlief, als er gedacht hätte. Meinte er das wirklich ernst? Seine Augen huschten zwischen der Flasche und dem Gesicht des anderen hin und her, auf der Suche nach einem Hinweis, dass er gerade verarscht wurde. Doch die Flasche wurde weiter in seine Richtung gehalten, damit er sie an sich nahm, und auch sonst konnte er nichts entdecken, was darauf schließen ließ, dass er in eine Falle lief. Dennoch haderte Crispin ein wenig, rang mit sich, ob er es tun sollte, und griff dann zögerlich nach dem Wodka, um ihn an sich zu nehmen.
"Von mir aus. Hauptsache der Abend ist bald vorbei. Aber da du jetzt weißt, wie ich heiße, wäre es nur gerecht, wenn ich es bei dir auch wüsste."
Vielleicht war es eine dumme Idee, darauf einzugehen, und er würde es später bereuen. Zu einhundert Prozent konnte er das aber nicht sagen und im Moment war es ihm auch egal, solange er den Rest des Tages nicht nüchtern verbringen musste und seinen Kopf und seine Gedanken mit dem Alkohol in seinem Blut betäuben konnte.
Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf den Lippen seines Gegenüber, als hätte er eher damit gerechnet, dass er ablehnen würde, und eventuell wäre es auch vernünftiger gewesen, aber er wollte nicht vernünftig sein. Nicht an diesem Abend.
"Mein Name ist August. Na dann, Crispin, lass uns losgehen. Du wohnst immerhin nicht gerade um die Ecke."
Seufzend hielt der Angesprochene inne, als er die Stimme seiner Mutter hörte, und drehte sich auf dem Absatz der Treppe zu ihr herum. Konnte sie ihn gerade nicht einfach in Ruhe lassen?! Vor allem, weil er ganz genau wusste, worüber sie mit ihm reden wollte. Aus diesem Grund gab er auch keinen Ton von sich, während er seine Mutter mit einer hochgezogenen Augenbraue anblickte. Das einzige, was er an diesem Abend noch wollte, war eine Dusche und sein Bett und dabei am liebsten vergessen, was ihm heute verkündet wurde. Doch diesen Gefallen wollte ihm die Frau, die gerade die letzten Stufen zu ihm hinaufschritt, allem Anschein nach nicht tun.
“Du weißt ganz genau, wie wichtig vorbildliches Verhalten ist. Dein Vater und ich haben lange mit der Familie von Marielle gesprochen, bis sie der Verlobung zugestimmt hatten. Diese Verbindung ist wichtig und du kannst ihr nicht einfach sagen, sie würde dir nicht gefallen.”
Die Stimme seiner Mutter war streng, doch anders kannte er es gar nicht von ihr, weshalb er sich davon nicht beeindrucken ließ. Ihren festen Blick standhaltend, schob er die Hände in die Taschen seiner Anzughose und sah auf sie herab, da sie noch immer zwei Treppenstufen unter ihm stand.
“So habe ich das gar nicht gesagt, aber ich habe auch absolut keinen Bock darüber zu reden. Weder heute noch irgendwann anders. Es bleibt dabei: Ich werde diese arrogante und aufgetakelte Pute nicht heiraten!”
Crispin sah, wie seine Mutter begann, wütend zu werden, als er dieselben Worte nutzte, wie bereits während des Abendessens, nachdem ihm die freudige Nachricht verkündet wurde, doch er wandte sich einfach ab, um endlich in sein Zimmer zu gelangen und aus diesen furchtbar unbequemen Klamotten herauszukommen. Nach etlichen Jahren, in denen er schon maßgeschneiderte Anzüge trug, sollte man meinen, dass er sich daran gewöhnt hatte, aber er konnte dieser Art der Kleidung noch immer nichts abgewinnen. Für ihn war es einfach unbequem und glich beinahe einer Verkleidung, weshalb er jedes Mal froh war, diese wieder los zu werden. Wie Cyrian das Ganze ertrug, war ihm wirklich ein Rätsel, aber vielleicht hatte es sein Bruder aufgegeben, etwas dagegen zu sagen, nachdem er sah, dass es auch bei ihm nichts geholfen hatte, sich darüber zu beschweren.
“Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede! Was ist nur mit dir passiert? Seit Wochen verhältst du dich immer seltsamer. Ich erwarte von dir, dass du dich morgen bei Marielle und ihren Eltern entschuldigst! Hast du mich verstanden?”
Darauf kannst du lange warten, ging es ihm durch den Kopf, doch er sagte nichts mehr dazu, während er weiterlief. Eigentlich hatte er immer das letzte Wort, aber gerade fehlte ihm die Lust auf weitere Diskussionen. Dass er sich bei seiner zukünftigen Verlobten entschuldigte, konnte sie aber dennoch vergessen. Genauso wie die ganze Verlobung und spätere Hochzeit. Sein Leben an der Seite dieser Frau zu verbringen, stand nicht auf der Liste der Dinge, die er unbedingt tun wollte. Nicht nur, dass ihm Marielle nicht gefiel, er hatte schlicht kein Interesse an Frauen, wovon seine Eltern allerdings keine Ahnung hatten. Nicht einmal sein Bruder wusste etwas davon, obwohl er diesem näher stand. Seine Familie würde vermutlich ausflippen, wenn sie davon Wind bekämen, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Und zu einem ganz besonders.
Gerade als er sein Zimmer erreichte und es betrat, schob sich das Bild eines ganz bestimmten Mannes vor sein inneres Auge. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, nachdem er diese hinter sich wieder geschlossen hatte, und schloss die Lider, was dazu führte, dass er das Bild noch viel deutlicher sah. Seidig schwarze Haare, die ihm in die Stirn fielen und bei denen er sich bereits bei ihrem ersten Aufeinandertreffen fragte, ob sie sich unter seinen Fingern wohl auch so weich anfühlen würden, wie sie aussahen und worauf er bis heute keine Antwort hatte. Schmale, dunkle Augen, die ihn unweigerlich an eine Katze erinnerten und bei denen er mitunter das Gefühl hatte, darin zu versinken. Ganz besonders wenn das Licht nur spärlich darauf fiel und sie noch sehr viel dunkler, beinahe schwarz wirkten. Beides stand im Kontrast zu der hellen, porzellanartigen Haut und den feinen Zügen, die ihm etwas leicht Feminines gaben. Allerdings sollte man sich davon und seiner eher zierlichen Gestalt nicht täuschen lassen, denn Kraft besaß er auf jeden Fall.
Crispin biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen noch mehr zusammen, als sein Herz begann schneller zu schlagen und in ihm das Bedürfnis aufkam, zu ihm zu gehen. Es würde den Abend auf jeden Fall aufwerten, der bisher kaum schlimmer hätte sein können und auch wenn er vor ein paar Minuten eigentlich nur noch ins Bett wollte, wurde der Drang doch immer größer, sich aus seinem Zimmer zu schleichen und August einen Besuch abzustatten.
Seine Mutter hatte recht, wenn sie sagte, er hätte sich in den letzten Wochen verändert. Wobei das nicht zu einhundert Prozent stimmte, denn es war lediglich so, dass er nun nicht mehr nur innerlich gegen die Regeln und Ketten rebellierte, denen er durch seine Familie und ihrem gesellschaftlichen Stand unterworfen war. Es ging ihm schon sehr viel länger gehörig gegen den Strich, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Genauso wie die Oberflächlichkeit, welche die besser betuchten Menschen an den Tag legten und zu denen neben seinen Eltern auch jene von Marielle gehörten - ihre eigene Wenigkeit ebenfalls inbegriffen. Lange Zeit hatte er nur nichts gesagt, weil er als Kind bereits gespürt hatte, wie es war, das schwarze Schaf zu sein. Damals hatte er noch nicht erkannt, dass die Liebe seiner Eltern von dem abhängig war, wie gut er in ihr Weltbild passte, und hatte aus diesem Grund alles dafür getan, um sie wiederzubekommen, nachdem er sie aufgrund seines mangelnden Talents, was das Lesen von Noten betraf, so gut wie verloren hatte.
Aus heutiger Sicht war es absurd, sich derart an etwas zu klammern, dass von Bedingungen abhängig war, obwohl die Liebe der Eltern doch genau das nicht sein sollte, aber zum damaligen Zeitpunkt wusste er es nicht besser und neben seinem Bruder waren sie nun einmal seine wichtigsten Bezugspersonen. Inzwischen verstand er, dass es im Grunde keinen Sinn machte, sich darum zu bemühen, diese Art der Aufmerksamkeit zu behalten, da er sich für sie in eine Form pressen musste, die er nun einmal nicht war und der Anzug, in dem er steckte, war da nur der Anfang. Erst durch August war ihm das vollends klar geworden, bei dem er sich nicht verbiegen brauchte, damit er von ihm akzeptiert wurde. Eigentlich war es traurig, dass er von einer fremden, außenstehenden Person in wenigen Wochen mehr Akzeptanz erfuhr, als von seiner eigenen Familie - und das bereits seit ihrem ersten Aufeinandertreffen, an das er sich noch sehr gut erinnern konnte.
Feiern, Benefizveranstaltungen, geschäftliche Essen und andere Anlässe, zu denen sich die gehobene Gesellschaft traf - wie er all das doch hasste. Die Verlobung seines eigenen Bruders machte da keinen Unterschied und doch wollte er an diesem Tag - wie immer zu solchen Ereignissen - eigentlich gute Miene zum bösen Spiel machen. Die Betonung lag auf eigentlich, denn gerade begann seine sorgsam aufgebaute Fassade zu bröckeln, als ihm seine Mutter eröffnete, dass nicht er an diesem Abend zu Ehren des Anlasses am Flügel sitzen und spielen würde, sondern Cyrian. Dabei war es seit Wochen geplant, dass er das übernahm und etwa genau so lange hatte er das Stück, welches sich Élodys Familie gewünscht hatte, geübt, damit er es so spielen konnte, wie es sich alle vorstellten. Es war nicht so, dass er diese Mühe vor allem für seinen Bruder nicht gerne auf sich genommen hatte, um ihm eine Freude zu bereiten, und doch ließ diese Entscheidung das Fass gerade überlaufen. Laut seiner Mutter hätten sich die Eltern von Cyrians Zukünftiger spontan für ein anderes Stück entschieden, dass besser zum Anlass passen würde und da das Notenlesen für ihn noch immer ein Buch mit sieben Siegeln war, war er dafür nicht mehr der geeignete Pianist.
“Das war doch alles geplant…”, murmelte er so leise, dass es kein anderer hören konnte, bevor er sich etwas lauter an seine Mutter wandte, die scheinbar auf eine Reaktion seinerseits wartete. “Macht doch einfach, was ihr wollt!”
Mit diesen Worten wollte er sich an ihr vorbei schieben, doch eine Hand griff nach dem Ärmel seines Jacketts und hielt ihn damit zurück.
“Warte kurz, Pino...”
“Lass gut sein, Cyr. Élodys Eltern haben ihre Meinung geändert und somit bin ich da raus. In solchen Fällen bist und bleibst du eben der Talentiertere von uns beiden.”
Ohne sich zu ihm umzudrehen und zu ihm zu schauen, entriss Crispin seinem Bruder seinen Arm und entfernte sich sowohl von ihm als auch dem Rest seiner Familie. Bisher hatte es ihn nur wenig und selten gestört, dass er kein Talent für das Lesen der Noten hatte und es somit einen gewissen Mehraufwand für ihn bedeutete, wenn er auf solchen Veranstaltungen spielen sollte, da er es nun einmal aus dem Gedächtnis tun musste. Doch in der Regel half ihm Cyrian dabei, indem er ihm das Ganze ein paar mal vorspielte, bis er sich sicher war, sich die Tonfolge gemerkt zu haben und das klappte auch ganz gut. Die anderen Familien der Oberschicht - besonders die, mit denen seine Eltern häufiger zu tun hatten und denen sie, zumindest oberflächlich gesehen, näher standen - wussten um sein kleines Handicap. So auch Élodys Familie. Aus diesem Grund war er sich auch sicher, dass sie es geplant hatten, ihn heute dermaßen bloßzustellen - nicht zuletzt, weil er wusste, dass sie etwas gegen ihn hatten, seit er bei der Verkündung der Verlobung das Ganze als Farce bezeichnet hatte, weil er wusste, dass es nur darum ging, engere Geschäftsbeziehungen eingehen und diese nach Außen hin besser präsentieren zu können. Und sowohl Cyrian als auch Élody machten bei diesem Spiel mit, obwohl sie sich nicht liebten und lediglich gute Freunde waren.
Doch auch wenn es ihn sonst nicht ganz so sehr störte, schmerzte es gerade auf diese Art und Weise ersetzt zu werden und vor Augen geführt zu bekommen, dass er trotz seines Talents eben immer einen Makel haben würde, der es ihm unmöglich machte, spontan auf solche Änderungen reagieren zu können. Er würde immer im Schatten seines Bruders stehen, egal, was er tat. Diesem machte er keine Vorwürfe, denn er konnte nichts dafür, dass alle in ihm den perfekten Sohn und Pianisten sahen. Zudem unterstützte er ihn, wo er nur konnte und er wäre heute wohl nicht so gut, wenn er diese Unterstützung und den Ehrgeiz, so gut wie Cyrian zu werden, nicht gehabt hätte.
Für diesen Abend war seine Laune dennoch im Keller und er hatte auch keine Lust mehr, so zu tun, als wäre es anders. Crispin war sich sicher, dass nichts mehr etwas daran ändern und seine Stimmung wieder heben konnte. Um ihn trotzdem noch einigermaßen erträglich zu gestalten, bahnte er sich seinen Weg direkt zu der kleinen Bar, an der sich die Gäste neben dem Champagner, den die Kellner verteilten, auch noch individuelle Cocktails mixen lassen konnten. Sein Interesse lag allerdings weniger bei diesen Longdrinks, als eher bei den alkoholischen Grundlagen, die dafür genutzt wurden. Als er an der Bar ankam, warf er einen prüfenden Blick über seine Schulter, um zu sehen, ob ihn jemand beobachtete, denn zu seinem Glück war im Moment auch kein Barkeeper zu sehen, der ihn von seinem Plan abhalten könnte, weil er eigentlich noch zu jung war. Doch auch von den anderen Anwesenden schenkte ihm keiner Beachtung und er entließ erleichtert die angehaltene Luft aus seinen Lungen.
Ihm war bewusst, dass er sich beeilen sollte, wenn er nicht wollte, dass sich daran nicht doch noch etwas änderte, weshalb er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn richtete. Er beugte sich über die Theke, um zu schauen, ob dort nicht die eine oder andere Flasche in seiner Reichweite stand und auch in diesem Punkt war das Glück auf einer Seite, denn unterhalb des Tresens, auf dem er sich abstützte, erspähte er diverse angefangene Spirituosen. Ohne groß nachzudenken oder genauer hinzuschauen, griff er nach einer von ihnen und förderte eine Flasche mit einer klaren durchsichtigen Flüssigkeit zutage, die sich als Wodka entpuppte. Da es Crispin gerade ziemlich egal war, womit er sich betrank und er einfach nur vergessen wollte, wie das heute alles gelaufen war, gab er sich damit zufrieden und entfernte sich wieder von der Bar, bevor er doch noch erwischt wurde. Aus diesem Grund verschwendete er auch keine weitere Zeit und schlich sich in den Bereich, der eigentlich für die Mitarbeiter vorgesehen war, um dort nach dem Hinterausgang zu suchen.
Nur wenig später stieß er die Tür auf und landete in einer kleinen Gasse. Große Müllcontainer säumten den Weg entlang des Gebäudes und versperrten die Sicht auf die Hauptstraße, die nach der Geräuschkulisse zu urteilen, jedoch nicht weit entfernt lag. Einzelne Zigarettenstummel lagen auf dem Boden herum und Crispin verzog leicht das Gesicht. Die Sauberkeit, die dem Besitzer im Inneren der Räumlichkeiten wichtig war, schien außerhalb hingegen keine allzu große Rolle zu spielen. Allerdings war dieser Ort im Normalfall auch nicht für die Augen der Besucher gedacht. Da er aber auch nicht wieder reingehen wollte, um sich dort eine Ecke zu suchen, in der er ungestört war, beschloss er, hier zu bleiben und setzte sich auf die einzelne Stufe. Dass sein Anzug dabei dreckig wurde, war ihm herzlich egal. Seine Eltern würden zwar mit Sicherheit an die Decke gehen, aber auch das konnte ihn gerade nicht weniger interessieren. Das Teil landete nach diesem Abend ohnehin in der Reinigung und warum sollte man den Mitarbeitern dort nicht ein wenig Arbeit verschaffen und diesem ganzen Aufwand überhaupt mal einen Grund geben?
Da er nicht weiter darüber nachdenken und sich allgemein keinen Kopf mehr um irgendwas, was den Abend betraf, machen wollte, öffnete er die Flasche, die er noch immer in den Händen hielt. Sofort lag der starke Geruch des Alkohols in der Luft und stieg ihm unweigerlich in die Nase, sodass er ein weiteres Mal kurzzeitig das Gesicht verzog. Es war nicht so, dass er nicht ein ums andere mal schon zu so etwas gegriffen hatte, wenn ihm alles über den Kopf wuchs, aber daran gewöhnt war er deswegen noch lange nicht. Daher brauchte er einen Augenblick, bis der penetrante Geruch nicht mehr ganz so unangenehm war. Sein Körper bereitete sich allerdings schon auf das gleich folgende brennende Gefühl im Hals vor, indem es ihn daran erinnerte, wie es war. Es glich beinahe der Empfindung, wenn man an etwas saures zu essen oder zu trinken dachte und sich die Geschmacksnerven alleine bei der Erinnerung daran zusammenzogen.
“Augen zu und durch”, murmelte er, wohl wissend, dass der erste Schluck immer der schlimmste war und es mit jedem weiteren besser wurde. Gerade als er die Öffnung der Flasche an seine Lippen setzen wollte, hörte er das Fauchen einer Katze und das Umstürzen irgendwelcher Gegenstände, die er anhand des Klangs nicht genau benennen konnte. Crispins Blick huschte direkt in die Richtung, aus der der Lärm kam und spähte in die Dunkelheit. Die Gasse war nur spärlich beleuchtet, weshalb es ihm schwer fiel, etwas zu erkennen. Daher wollte er das Ganze schon damit abtun, dass es womöglich einfach die Katze war, die etwas umgeworfen hatte.
“Fuck!”
Dieser leise Fluch ließ ihn seine Vermutung wieder verwerfen und er versuchte noch einmal etwas zu erkennen, was jedoch auch beim zweiten Anlauf fehlschlug.
“Wer ist da?! Komm gefälligst raus und zeig dich!”
Dass es vielleicht keine gute Idee war, einen provokanten Unterton in seine Stimme zu legen, war ihm durchaus bewusst. Schließlich hatte er keine Ahnung, wer sich da in seiner Nähe aufhielt, aber es war ihm gerade ziemlich egal, ob das Ärger bedeuten konnte oder nicht. Allerdings vergingen einige Momente, in denen sich nichts weiter tat und er wollte schon genervt noch einmal etwas sagen. Sicherlich wäre es besser, es einfach auf sich beruhen zu lassen und eventuell wieder nach drinnen zu gehen, doch alleine bei dem Gedanken, sich wieder mit seinen Eltern und den restlichen Gästen auseinanderzusetzen, sträubte sich alles in ihm. Im Grunde wollte er an diesem Abend niemanden mehr von ihnen sehen, auch wenn er wusste, dass es zumindest bei seiner Familie nicht so einfach umzusetzen war. Mit diesem Gedanken musste er sich gerade aber auch nicht weiter beschäftigen, da sich die Person endlich dazu entschied, seiner Aufforderung nachzukommen und sich langsam von der Dunkelheit in das Licht einer in der Nähe stehenden Laterne bewegte. Dabei sah er, dass es sich um einen Mann handelte. Dieser zupfte sich etwas aus den Haaren, was er nicht erkennen konnte, aber mit Sicherheit während des kleinen Zwischenfalls dort hinein geraten war. Crispin behielt ihn im Blick, musterte ihn von oben bis unten und musste zugeben, dass er nichts dagegen hätte, die Kleidung mit ihm zu tauschen, auch wenn das ein überflüssiger Gedanke war. Dennoch konnte er nichts dagegen tun, dass er sich in seinen Kopf schlich. Wenn man bedachte, dass er in Klamotten steckte, die er im Grunde hasste, und die seines Gegenüber dagegen recht bequem aussahen, konnte man ihm das wohl auch nicht verdenken. Zwar war er kein Freund von Lederjacken, aber im Gegensatz zu einem Anzug war alles besser.
“Bist du dafür nicht noch zu jung?”
Die tiefe Stimme seines Gegenübers holte ihn aus seiner Betrachtung und seinen Überlegungen, doch er brauchte einen kurzen Moment, bis er begriff, was er meinte. Dafür folgte er dem Blick der dunklen Augen, die in der relativ dunklen Gasse beinahe schwarz wirkten und auf der Flasche in seinen Händen lagen. Er selbst zog die Augenbrauen zusammen und schaute wieder auf.
“Was geht dich das an?!”, schnaubte er abfällig. “So wie du aussiehst, bezweifle ich, dass du zu dieser ach so tollen Gesellschaft dazugehörst, die sich da drinnen gerade selbst feiert. Somit kann dir das vollkommen am Arsch vorbei gehen!”
Crispin hasste es, bevormundet zu werden, und dabei war es egal, ob es sich um seine Eltern, Lehrer oder andere Personen handelte. Gerade bei ersteren schluckte er seinen Missmut darüber in der Regel herunter, aber bei dem Schwarzhaarigen, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand und durch seine sitzende Position auf ihn herabsah, würde er dies mit Sicherheit nicht tun. Verlieren konnte er immerhin nichts, wenn er ihn gegen sich aufbrachte und was er von ihm dachte, war ihm egal. Redete er sich zumindest ein, denn eigentlich störte es ihn, dass jeder wirklich immer nur das sah, was er ihnen zeigte. Der einzige, der sein wahres Ich hinter seiner Fassade kannte, war sein Bruder. Alle anderen machten sich nicht die Mühe und stempelten ihn lieber ab und steckten ihn in irgendeine Schublade.
“Da hast du mich wohl erwischt”, zog der andere seine Aufmerksamkeit wieder zu ihm und bestätigte damit das Offensichtliche, bevor er ihn versuchte zu belehren. “Und du siehst aus, als wolltest du vor der erwähnten Gesellschaft fliehen. Wobei dir das Zeug sicher wenig dabei helfen wird. Das einzige, was du riskierst, ist ein Kater.”
Ohne mit der Wimper zu zucken, überbrückte er den Abstand bis zu Crispin, der bei dieser Aussage ein weiteres Mal schnaubte. Bevor er allerdings zu einer Erwiderung ansetzen konnte, wurde ihm die Flasche aus der Hand gerissen und der Unbekannte entfernte sich anschließend wieder einige Schritte von ihm.
“Hey, gib die gefälligst wieder her! Was interessiert es dich überhaupt?! Wir kennen uns nicht mal!”
Für einen kleinen Augenblick hatte Crispin das Gefühl, als hätte er den anderen überrascht, denn seine Augen weiteten sich ein wenig. Vielleicht bildete er sich das Ganze aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse aber auch nur ein und seine Augen spielten ihm einen Streich, da die Reaktion wenn dann auch nur einen Sekundenbruchteil andauerte. Stattdessen sah ihn der Schwarzhaarige ungerührt an und machte keine Anstalten, auf seine Forderung einzugehen, sodass er seine Flasche wiederbekommen konnte.
"Stimmt wohl, aber das ändert nichts daran, dass du dafür noch viel zu jung bist", entgegnete er ihm und bestätigte damit seine Vermutung, dass er wohl nicht vorhatte, seiner Aufforderung nachzukommen. Wieso musste sich das Leben an diesem Abend eigentlich mal wieder so dermaßen gegen ihn stellen? Erst die Aktion von Élodys Familie, die spontan entschieden, dass sie doch lieber ein anderes Musikstück zu Ehren der Verlobung ihrer Tochter mit seinem Bruder hören wollten, sodass es nicht anders ging, als dass dieser das übernahm. Und nun war es ihm nicht einmal vergönnt, diesen Abend mit Alkohol ein wenig erträglicher zu gestalten, nur weil irgendein dahergelaufener Typ der Meinung war, er wäre zu jung dafür. War er im Grunde zwar auch, aber das spielte für ihn gerade überhaupt keine Rolle.
Seine Laune sank spontan noch ein wenig tiefer, wobei er bis eben nicht geglaubt hatte, dass dies überhaupt möglich war.
"Bullshit! Außerdem ist das immer noch mein Leben!", ließ er nicht locker, da er nicht einmal ansatzweise vor hatte, sich in diesem Punkt gerade bevormunden zu lassen - schon gar nicht von einem Wildfremden, der ihn überhaupt nicht kannte und somit überhaupt kein Recht dazu hatte. "Und jetzt gib die wieder her!"
Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen - und weil Crispin nicht glaubte, dass diese genau wie seine letzten Wirkung zeigen würden - erhob er sich und überbrückte die kurze Distanz, die der andere zwischen sie gebracht hatte.
Ohne zu zögern, griff er nach der Wodkaflasche, musste aber schnell feststellen, dass der Griff des Unbekannten kräftiger war, als es den Anschein machte. Daher hielt er inne, musterte ihn noch einmal, während er direkt vor ihm stand. Neben der Tatsache, dass er ihn locker um einen Kopf überragte, wirkte er im Allgemeinen recht schmächtig und absolut nicht muskulös, weshalb es ihn noch sehr viel mehr überraschte, dass er die Flasche so entschlossen festhielt. Wobei sich Crispin in Erinnerung rufen musste, dass Stärke nicht zwingend etwas mit dem Körperbau und dem offensichtlichen Erkennen von Muskeln zu tun haben musste. Wäre dem so, müsste jeder Bodybuilder nur so vor Kraft strotzen, doch vermutlich bekamen die meisten von denen nicht einmal ein Glas ohne Hilfe auf, da ihre Muskeln lediglich auf Hormonen statt auf wirklichem Training beruhten.
Allerdings trug diese Erkenntnis nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte, genauso wie die Worte des anderen, die er zu hören bekam.
"Nichts da. Die bleibt bei mir."
Crispin wollte schon etwas darauf erwidern, ihn erneut daran erinnern, dass sie sich nicht kannten und es ihm somit herzlich egal sein konnte, wenn er sich mit dem Wodka betrank. Jedoch lenkte ihn ein leicht süßlicher Duft, der mit einem Mal in der Luft hing und ihn merklich umgab, erfolgreich davon ab. Vanille, schoss es ihm durch den Kopf, während er den anderen weiter ansah und sein Blick dabei an den dunklen Augen hängen blieb. Der Geruch erinnerte ihn an Vanille.
"Wie heißt du eigentlich?"
Durch den Duft komplett abgelenkt und durch die Tatsache, dass dieser ein seltsames Gefühl in ihm auslöste, das er weder zu deuten noch zu benennen wusste, brauchte er einen Augenblick, bis er begriff, was der andere eigentlich gerade von ihm wollte. Überrumpelt und irritiert, weil er damit so gar nicht gerechnet hatte, sah er ihn mehrere Sekunden einfach nur an, bis er endlich seine Sprache wiederfand, wobei er gleichzeitig seine Augenbrauen zusammenzog.
"Das werde ich dir ganz gewiss nicht sagen! Aber was willst du hier eigentlich?! Du wirkst nicht, als würdest du in diese Gegend gehören."
Schon im ersten Moment, als er ihn dank der Straßenlaterne erkennen konnte, war ihm dies aufgefallen. In der Gegend, in der sie sich befanden, verkehrte vor allem die gehobene Gesellschaft. Die Leute, die man hier zu Gesicht bekam, trugen somit Maßanzüge und Designerkleider, aber ganz gewiss keine Skinny Jeans und Lederjacken. Mit diesem Outfit zählte sein Gegenüber eher zu den zwielichtigen Gestalten, die jedes Mitglied der Oberschicht mit Abscheu ansehen würde.
Crispin hasste diese Oberflächlichkeit schon seit einer gefühlten Ewigkeit, aber um nicht alles zu verlieren, was er hatte, hielt er die Klappe und ertrug es - auch wenn es nicht immer einfach war.
Mit seiner eigenen Frage schien er nun jedoch auch den anderen aus dem Konzept gebracht zu haben, denn dieser sah ihn überrascht an.
"Hmm…? Also… Ich hatte hier einen Auftrag. Ich bin Kammerjäger", entgegnete er ihm, nachdem er sich offensichtlich wieder gefangen hatte. Dabei wirkte er, als meinte er das tatsächlich ernst. Ungläubig und skeptisch sah Crispin ihn an. War das sein ernst? Glaubte er wirklich, dass er ihm das abkaufen würde? Abschätzig ließ er seinen Blick noch einmal über ihn wandern, um schon alleine damit zu zeigen, was er von dieser Aussage hielt, und schnaubte leise, als er an dessen Gesicht und besonders den dunklen Augen wieder ankam.
"Pah! Natürlich und ich bin der Kaiser von China!"
"Soweit ich mich erinnere, wirkt der in einem Anzug weniger gut gebaut."
Die Stimme des anderen war nur leise, fast nicht zu hören, weshalb Crispin nicht wusste, ob er sich nicht vielleicht verhört hatte. Doch wenn nicht…
"Was?!", enfuhr es ihm und sein Gegenüber sah ihn ertappt an, bevor er sich in einer abrupten Geste mit seiner freien Hand durch die Haare strich.
"Äh… Ach nichts."
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Ganz langsam aber stetig ebbte der Applaus ab, der einsetzte, nachdem der letzte Ton den Flügel verlassen hatte und in dem großen Saal verstummte. Cyrian schaute in die Menge, in das vor Freude strahlende Antlitz seiner Mutter und die stolzen Gesichter seiner zukünftigen Schwiegereltern. Je länger der Jubel dauerte, umso unwohler wurde ihm, obwohl er diese Art und Länge der Beifallsbekundungen bereits sehr gut kannte und gewohnt war. Heute allerdings hinterließen sie einen fahlen Beigeschmack, da nicht er sondern sein Bruder hier stehen und bejubelt werden sollte. Sein Blick wanderte durch den Raum auf der Suche nach ihm, während er sich erhob und die niedrige Bühne verließ, die extra für diesen Anlass aufgebaut wurde, um zu seiner und Élodys Familie zu gehen. Enttäuscht musste er feststellen, dass er Crispin nirgendwo finden konnte. Wirklich übel konnte er es ihm nicht nehmen, dass er sich nicht unter den momentan Anwesenden befand, auch wenn es ihn gefreut hätte, wenn er ebenfalls zugehört hätte. Allerdings konnte er es verstehen. Wochenlang hatte er sich auf diesen Tag vorbereitet, wollte, dass alles perfekt war, um ihm eine Freude zu bereiten und ihn und sich selbst nicht zu blamieren und kurz vor dem großen Augenblick wurde entschieden, dass die Eltern seiner Verlobten ein anderes Stück zu Ehren dieses Tages hören wollten. Dass er verletzt und frustriert darüber war, war sicherlich noch harmlos ausgedrückt.
"Oh Cyrian-Schatz, du warst wirklich fantastisch. Genauso wie ich mir das vorgestellt habe", kam Yoona lobend und mit demselben glücklichen Lächeln auf den Lippen zu ihm und zog ihn in eine Umarmung. Cyrian erwiderte diese kurz und murmelte ein leises "Danke, Mom", während seine Gedanken noch immer bei seinem kleinen Bruder waren. Er konnte sich nicht genauso über den gelungenen Auftritt freuen, wie seine Mutter. Dafür empfand er die ganze Situation als viel zu ungerecht. Doch er sagte nichts, wollte vor den anderen Gästen keinen schlechten Eindruck hinterlassen und seine Eltern nicht gegen sich aufbringen, nur weil ihm nicht gefiel, was Élodys Familie - vermutlich aus purer Absicht und Berechnung - getan hatte. Diese kam ebenfalls zu ihm, um ihn zu beglückwünschen.
"Das war fabelhaft. Neben deinem ausgezeichneten Verhalten, bist du wirklich äußerst talentiert. Ganz im Gegensatz zu deinem Bruder. Daher bin ich auch sicher, dass es Élody bei dir gut gehen wird und wir unsere Entscheidung nicht bereuen werden."
Eine Welle des Protests baute sich in ihm auf, als er die Worte von Mrs. L'amour hörte, doch auch diesen schluckte er herunter, zwang sich stattdessen ein Lächeln auf die Lippen, während er sich leicht vor ihr verbeugte.
"Das freut mich sehr zu hören, Mrs. L'amour. Wenn Sie mich aber kurz entschuldigen würden."
Cyrian erwähnte nicht, was er vorhatte, schob auch keine Lüge davor oder wartete gar auf ein Einverständnis, als er sich auch schon von ihnen abwandte, um sich stattdessen auf die Suche nach seinem Bruder zu machen. Dies war jedoch nicht der einzige Grund, warum er ging. Er musste einfach kurz weg, da er sonst das Gefühl hatte, vielleicht doch etwas zu sagen, was weder seinen Eltern noch denen seiner Zukünftigen gefallen dürfte. Es nervte ihn gewaltig, wie alle über Crispin sprachen, dachten, er hätte kein Talent für das Spielen auf dem Klavier, denn seiner Meinung nach lagen sie in diesem Punkt vollkommen falsch. Und jedes Mal hatte er alle Mühe, sich zurückzuhalten, nichts zu sagen und seinen Bruder in Schutz zu nehmen, um seine Familie nicht schlecht dastehen zu lassen, da auch ihre Eltern nicht widersprachen, wenn Crispins mangelndes Talent zur Sprache kam.
Er verstand aber auch einfach nicht, wie sie überhaupt darauf kamen. In seinen Augen war sein Bruder sogar sehr viel besser als er. Mithilfe von Notenblättern ein Stück zu spielen, war mit ein wenig Übung nicht besonders schwer. Das brachten viele zustande, solange sie die Noten lesen konnten. Für Crispin waren diese ein Mysterium, was der Grund dafür war, warum keiner anerkannte, was er konnte. Doch war diese Schwäche wirklich ein Makel? Sein Bruder mochte damit nichts anfangen können, wodurch er in Situationen wie der heutigen einen Nachteil hatte, doch genau wie Analphabeten hatte er einen Weg gefunden, damit umzugehen und das Klavier spielen dennoch zu lernen. War es somit also wirklich so schlimm, dass er nicht aus dem Stehgreif ein Stück spielen konnte?
Seines Erachtens nicht, denn wer konnte schon behaupten, dass er so etwas aus der Erinnerung heraus hinbekam? Crispin brauchte nicht lange, um sich eine Melodie zu merken, besaß neben seinem guten Gehör ein ausgezeichnetes Gedächtnis für so etwas und betätigte die Tasten zudem nicht nur plump, damit sie einen Ton von sich gaben, sondern legte jedes Mal seine Gefühle mit hinein. Er war nicht perfekt und auch wenn Cyrian im Gegensatz zu seinem Bruder keine Probleme mit den Notenblättern hatte, konnte er doch stolz behaupten, dass Crispin ihn bereits übertroffen hatte.
Nur sah die Gesellschaft, in der sie sich bewegten, das alles ein wenig anders. Für sie musste man nahezu perfekt sein. Sie hatten ihre Vorstellungen und jeder, der nicht in diese hineinpasste, wurde schräg angesehen und über den wurde - meist hinter dem Rücken - abwertend gesprochen. Menschen, die Dinge anders angingen und dennoch an ihr Ziel kamen, waren nicht gern gesehen und somit hatte er selbst einfach nur Glück, dass er in dieses vorgefertigte Raster passte und den gestellten Anforderungen gerecht wurde. Wie schwer man es andernfalls hatte, sah er jeden Tag an seinem Bruder, der mit dieser Oberflächlichkeit leben musste und darunter litt…
"Cyrian."
Eine sanfte Stimme durchdrang seine Gedanken und als er eine Hand an seinem Arm spürte, deren Finger sich in den Ärmel seines Jacketts krallten, schüttelte er beinahe unmerklich den Kopf, um sich wieder zu fangen und schaute zu der Person, die ihn angesprochen hatte. Élody sah ihn leicht besorgt an. Sie wusste, was er davon hielt, wie über seinen Bruder gesprochen wurde und konnte daher sicher verstehen, warum er das Weite gesucht hatte.
"Was hast du vor?"
"Ich will nur Crispin suchen, damit er nichts anstellt", entgegnete er ihr und ein sanftes, verständnisvolles Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen und strich ihm mit der Hand, mit der sie ihn festgehalten hatte, über den Arm.
"Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich kümmere mich um unsere Gäste."
Mit diesen Worten entfernte sie sich wieder von ihm, lief zurück zu den anderen und Cyrian konnte nicht in Worte fassen, wie dankbar er ihr dafür war. Auch wenn ihre Verlobung und auch die spätere Hochzeit nicht auf Liebe sondern nur auf einem Geschäft zwischen ihren Familien beruhte, so hatte er doch noch Glück mit der Wahl, die seine Eltern getroffen hatten. Schließlich hätte es ihn auch sehr viel schlimmer treffen können.
Um jedoch nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, die er besser dafür nutzen konnte, nach Crispin zu suchen, verscheuchte er auch diese Gedanken, und setzte sich stattdessen in Bewegung.
Cyrian wusste, wo er suchen musste, kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er sich in Situationen wie der heutigen einen ruhigen Ort suchen würde, an dem er ungestört sein und vor sich hin brüten konnte. Das war schon so, als sie noch klein waren. Immer, wenn es Crispin zu viel wurde, hatte er sich abgesetzt, hatte sich eine ruhige Ecke - vorzugsweise eine Fensterbank - gesucht und den Rest der Veranstaltung dort verbracht. Und jedes Mal war er ihm nachgelaufen, wenn er einen passenden Moment gefunden hatte, um ihm Gesellschaft zu leisten und ihn aufzubauen. Ganz besonders, als es noch so aussah, als würde er es nie schaffen, Klavier zu spielen.
Dieses Mal sah es allerdings schlecht aus. Ganz egal, wo er auch nachsah, war nichts von dem Jüngeren zu sehen und er fragte sich schon, ob Crispin wohl einfach abgehauen war. Zutrauen würde er es ihm, vor allem an dem heutigen Abend. Daher steuerte er, nachdem er alles andere abgesucht hatte, den Bereich für die Mitarbeiter an, bei dem er wusste, dass sich dort noch ein Ausgang und vielleicht auch ein Ort befand, an dem er fündig werden könnte. Hätte er bei einer Flucht den Haupteingang benutzt, hätte man ihnen Bescheid gegeben. Darauf bestanden ihre Eltern nach Crispins Fluchtversuch, als dieser gerade einmal fünf Jahre alt war und es tatsächlich geschafft hatte, für mehrere Stunden zu verschwinden. Es war das erste Mal, dass er gesehen hatte, dass sich sowohl seine Mutter als auch sein Vater Sorgen um ihren Jüngsten machten. Seitdem hatte er es zwar nie wieder versucht, doch die Vorsichtsmaßnahme für diesen Fall gab es noch immer, was er selbst wirklich unnötig fand, denn schließlich waren sie keine kleinen Kinder mehr und sein Bruder konnte durchaus auf sich selbst aufpassen. Dennoch hoffte er, dass Crispin auch an diesem Tag nicht verschwunden war, als er die Hintertür erreichte und diese öffnete.
Die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, verwirrte ihn für einige Sekundenbruchteile. Crispin stand vor einem völlig fremden Mann, die Hand an einer Flasche, deren Inhalt er durch die schlechten Lichtverhältnisse nicht erkennen konnte, doch die Form ließ darauf schließen, dass sich Alkohol darin befand.
Auch wenn keiner der beiden bisher zu ihm gesehen hatte, war er sich sicher, dass sie ihn durch die Geräusche der Tür gehört hatten. Bis auf die Autos, die man von weitem über die Hauptstraße fahren hörte, war es in dem kleinen Hinterhof weitestgehend ruhig. Daher machte er sich auch keine weitere Mühe, sich bemerkbar zu machen, bevor er seine Stimme erhob.
"Hier bist du also. Ich hab dich gesucht. Was machst du hier draußen?"
Wachsam behielt er sie im Blick, wobei er diesen vor allem über den Unbekannten wandern ließ, der seiner Kleidung nach zu urteilen, zu keinem der Gäste gehörte. Was machte er also hier hinter dem Gebäude und was wollte er von seinem Bruder? Innerlich ärgerte er sich darüber, dass er nicht schneller war, da er somit nicht wusste, was hier eigentlich vor sich ging. Oder kannte Crispin ihn vielleicht?
Bevor er ihn danach fragen konnte, schaute sein Bruder über die Schulter hinweg zu ihm. Trotz lag in seinem Blick, den er dort schon erwartet hatte, der jedoch nicht ihm galt.
"Wonach sieht es denn aus? Ich hatte keinen Bock mehr, mir das da drinnen noch anzutun! Das Ganze ist die reinste Farce und den Wunsch von Élodys Eltern zu erfüllen, hast du sicher auch ohne mich geschafft."
Augenblicklich senkte Cyrian den Blick ein wenig und presste die Lippen aufeinander. Ja, ihm war bewusst, was sein Bruder von der Verlobung hielt. Das hatte er bereits sehr deutlich gezeigt, als ihm diese Entscheidung während eines Abendessens bei Élodys Familie mitgeteilt wurde. Er musste zugeben, dass er recht hatte, dass es eine ziemliche Farce war, da jeder wusste, warum ihre Eltern diese Hochzeit wollten. Es ging nicht darum, dass er oder seine Verlobte glücklich wurden. Es war egal, was sie füreinander empfanden, und dass sie seit ihrer Kindheit befreundet waren, war lediglich ein glücklicher Zufall. Genauso gut hätten sie sich vollkommen fremd sein können und es wäre dennoch zu dieser Vereinbarung gekommen. Das einzige, was zählte, war der Zusammenschluss der Firmen und das Ansehen in der Oberschicht, denn somit wurde nicht nur das Vermögen gesichert, sondern auch, dass sich niemand von Außerhalb in die Familien schleichen konnte, der eventuell alle blamieren oder sogar ruinieren konnte, wenn etwas komplett schief lief.
Und genau wie an dem Abend war Crispin auch heute das schwarze Schaf, das die Rechnung für all die Oberflächlichkeiten bezahlen musste.
"Es tut mir leid, wie das gelaufen ist. Ich wusste nichts davon, dass sie ihre Meinung noch einmal ändern würden und dich so auflaufen lassen."
Cyrian konnte nichts dafür und doch fühlte er sich beinahe dazu verpflichtet, sich für das Ganze zu entschuldigen. Wirklich richtig fühlte es sich jedoch nicht an, auch wenn er bald ein Teil dieser Familie sein würde, denn es kam ihm so vor, als würde er diese bevorzugen und in Schutz nehmen, während er es ihnen gegenüber bei Crispin nicht schaffte. Was ein weiterer Grund dafür war, dass er ihn gerade nicht ansehen konnte und die Lippen erneut aufeinander presste.
"Wie gesagt, lass gut sein. Wir wissen beide, warum sie das getan haben. Für mich ist der Abend abgehakt."
"Ich weiß…", gab er daraufhin nur von sich, denn ihm war tatsächlich bewusst, dass sie es wegen des Verhaltens seines Bruders getan hatten, was er an dem Abend zeigte, als sie von der Verlobung erfuhren, und zudem gab es dazu auch nichts weiter zu sagen.
Stattdessen lenkte er seinen Blick wieder auf den Unbekannten, der selbst zur Seite sah, als gäbe es dort irgendetwas Interessantes zu sehen.
"Und wer ist das? Kennt ihr euch?"
Als hätte er gehofft, dass man ihn nicht ansprach oder gar bemerkte, zuckte der kleine Schwarzhaarige zusammen und sah ertappt an Crispin vorbei und zu ihm hinüber. Scheinbar wollte er nicht mehr von ihrem Gespräch mitbekommen als nötig, auch wenn dies in ihrer Lage so gut wie unmöglich war. Dennoch hielt er ihm zugute, nichts dazu zu sagen, worüber sie gesprochen hatten, denn andere hätten sich mit Sicherheit eingemischt und ihre Meinung zum Besten gegeben, obwohl sie keine Ahnung hatten, worum es eigentlich ging.
"Wer? Ich?"
"Das ist niemand. Und nein, wir kennen uns nicht", fuhr Crispin dazwischen, bevor er oder der Unbekannte noch etwas sagen konnten. "Aber mir wird das gerade alles zu blöd. Ich verschwinde. Behalt die Flasche. Ich besorg mir irgendwo was anderes."
Bei den letzten beiden Sätzen drehte sich Crispin um und blickte wieder zu der Person vor ihm. Wie bereits angekündigt überließ er ihm den Alkohol, indem er die Flasche los ließ. Anschließend trat er einen Schritt zurück und bevor Cyrian etwas tun oder sagen konnte, wandte sich der andere bereits von ihnen ab und trat den Rückzug an, indem er sich einen Weg an den Müllcontainern vorbei in Richtung der Hauptstraße suchte.
Ein Seufzen entwich ihm, als er ihm nachsah. Damit hätte er wohl früher oder später rechnen müssen und er haderte mit sich, ob er ihm nachlaufen und ihn aufhalten sollte oder nicht. Wobei sich diese Frage wohl gar nicht stellte. Weder konnte er hier einfach wortlos verschwinden, noch würde sich Crispin in seine Entscheidung, den Rest des Abends woanders zu verbringen, reinreden lassen. Doch er wollte ihn auch nicht sich selbst überlassen. Nicht in dieser Situation und schon gar nicht, wenn er tatsächlich an einer anderen Stelle die Chance hatte, hochprozentigen Alkohol aufzutreiben. Er konnte ihn einfach nicht sich selbst überlassen.
Diesem Gedanken folgend, richtete er seinen Blick wieder auf den Mann in der Lederjacke, der vollkommen irritiert zu sein und nicht so ganz zu wissen schien, wie er diese ganze Situation deuten sollte. Verdenken konnte er es ihm nicht, war er hier doch geradewegs in ein kleines Familienproblem hineingestolpert. Bei dem Anblick der Flasche in seinen Händen und der Tatsache, dass er diese Crispin allem Anschein nach abgenommen hatte, kam ihm eine Idee. Cyrian biss sich auf die Unterlippe, da er ganz genau wusste, dass es mit Sicherheit nicht das Klügste war, einen Fremden darum zu bitten, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er es tun konnte. Vielleicht war es aber auch nur seine Sorge um seinen Bruder und darum, was diesem zustoßen könnte, wenn er betrunken durch die Stadt lief, die ihn so fühlen ließ. Aber was hatte er für eine andere Wahl, da er sich gerade nicht selbst um ihn kümmern konnte, auch wenn ihn alles dazu drängte?
Einen Moment haderte er noch mit sich, bevor er alle Bedenken über den Haufen warf, zur Seite schob und die Stille durchbrach, die seit Crispins Abgang in der Gasse entstanden war.
"Auch wenn ihr euch nicht kennt…", begann er, brach kurz ab, um noch einmal kurz darüber nachzudenken, ob es wirklich das richtige war, bevor er weiter sprach. "Könnte ich dich darum bitten, ein Auge auf meinen Bruder zu haben?"
Sofort hatte er die Aufmerksamkeit des anderen, der ihn sichtlich überrascht anblickte. Einige Sekunden verstrichen, bis er den Kopf schüttelte.
"Ich denke nicht, dass ich dafür die richtige Person bin. Wie du schon sagtest, kennen wir uns nicht. Er wollte mir nicht mal seinen Namen verraten. Somit bin ich dafür sicher nicht geeignet. Außerdem… Wieso bist du so sicher, dass ich ihm nichts antun würde?"
Es war, als hätte er ihm in den Kopf geschaut und wusste daher, worüber er sich Gedanken gemacht hatte, aber vermutlich war dies auch nicht verwunderlich. Wer fragte schon einen Wildfremden, ob er auf jemanden aufpassen konnte? Vielleicht war er in diesem Punkt gerade naiv oder dumm, aber irgendetwas sagte ihm, dass sein Gegenüber nichts dergleichen vorhatte, was man einem anderen Menschen aus böser Absicht antun konnte.
"Ich muss gestehen, dass ich diese Bedenken kurzzeitig hatte, aber so wie es aussieht, wolltest du ihn davon abhalten, sich zu betrinken. Wenn du vorgehabt hättest, ihm etwas zu tun, hättest du auch warten können, bis er betrunken gewesen wäre", erwiderte er ihm und ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Damit versuchte er seine eigene Unsicherheit bezüglich seiner Entscheidung zu überspielen und ihm zu zeigen, dass er es ernst meinte. Da er jedoch noch nicht auf alles eingegangen war, fuhr er direkt fort.
"Dass er dir nicht sagen wollte, wie er heißt, ist sehr typisch. Sein Name ist Crispin. Er…"
Cyrian stockte kurz und schaute zu der Gasse, die sein Bruder kurz zuvor entlanggelaufen war, um der Situation zu entfliehen. Eine Spur Bedauern und Traurigkeit legte sich dabei in seinen Blick, als er an ihn dachte.
"Er hat es nicht wirklich leicht und ich befürchte der heutige Abend war einfach zu viel und hat eine Grenze überschritten. Daher wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du ein bisschen auf ihn aufpassen oder ihn vielleicht sogar nach Hause bringen würdest."
Seine Stimme war leiser als zuvor, aber er war sich sicher, dass der andere ihn dennoch gehört hatte, denn als er wieder zu ihm sah, hatte dieser die Augenbrauen zusammengezogen, als müsste er über seine Worte nachdenken. Beinahe rechnete er damit, er würde noch einmal ablehnen, was er nur zu gut verstehen könnte. Er kannte sie nicht, hatte mit der ganzen Situation nichts zu tun und war nicht dazu verpflichtet, auf seine Bitte einzugehen. Sie abzulehnen wäre wohl die logischste Reaktion und doch hoffte er tief in seinem Inneren, dass er sich dafür entschied.
"Ich würde es gerne selbst tun, aber ich kann hier nicht weg. Hier ist unsere Adresse", fügte er noch an und griff in die Brusttasche seines Jacketts, in dem er einige Visitenkarten aufbewahrte. In der heutigen Zeit von Smartphones und Messengerdiensten war es schwer vorstellbar, dass so etwas noch gebraucht wurde, aber gerade die ältere Generation legte noch Wert darauf und seine Eltern hatten ihn oft genug darauf hingewiesen, wie wichtig es war, sich auch mit diesen gut zu stellen. Genau aus diesem Grund trug er während solcher Anlässe immer ein paar davon bei sich, was sich gerade jetzt als positiv herausstellte.
Mit der Karte in der Hand überbrückte er die kurze Distanz und hielt sie ihm entgegen, in der Hoffnung, dass er ihn überzeugt hatte und er nicht ablehnte. Einen endlos langen Augenblick, der sich für Cyrian wirklich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, herrschte Stille zwischen ihnen, während der Kleinere die Karte in seiner Hand musterte. Beinahe befürchtete er schon, dass er sich etwas anderes einfallen lassen musste, doch als er schon alle Hoffnung aufgeben und die Hand zurückziehen wollte, seufzte der andere und nahm ihm das Visitenkärtchen ab.
"Okay, ich mach es. Aber du solltest echt nicht jeden Fremden darum bitten."
Erleichtert über die Antwort erschien ein Lächeln in seinem Gesicht. Ihm war bewusst, dass er recht hatte, aber das änderte nichts daran, dass er froh war, dass Crispin sich nicht alleine irgendwo betrinken würde.
"Weiß ich, aber danke."
Der Unbekannte schüttelte den Kopf, machte sich aber sofort daran, seinem Bruder zu folgen, damit er ihn noch einholen konnte. Cyrian hoffte, dass dieser noch nicht allzu weit gelaufen war und er ihn fand, während er ihm nachsah, bis auch er von der Dunkelheit in der Gasse komplett geschluckt wurde und er ihn dort nicht mehr ausmachen konnte.
Nun selbst einen Seufzer ausstoßend, fuhr er sich mit beiden Händen erst über das Gesicht und dann durch die Haare. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, was er seinen Eltern erzählen würde, denn die Wahrheit wollte er in diesem Fall doch lieber für sich behalten.
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Um seinem Frust über den Abend und darüber, wie dieser verlaufen war, ein Ventil zu geben, trat Crispin gegen eine leere Dose, die jemand achtlos auf den Boden geworfen hatte, anstatt sie in einen der Müllcontainer zu befördern, an denen er vorbei lief. Klappernd kam sie kurz drauf wieder auf dem Boden auf und rollte noch ein kleines Stück darüber, bevor sie liegen blieb und er die Chance nutzte, noch einmal dagegen zu treten, als er sie erreicht hatte. Seine Hände schob er dabei in die Taschen seiner Anzughose, die er gerade genauso verfluchte, wie alles andere, und sie am liebsten loswerden würde. Doch dafür müsste er nach Hause und darauf hatte er ebenso wenig Lust. Vor allem da er dort nichts finden würde, was ihn den ganzen Mist des heutigen Tages vergessen ließ, da sein Vater dafür sorgte, dass sämtlicher Alkohol gut verschlossen war. Zuhause würde er also auch nur nüchtern vor sich hin fluchen können, was das alles nicht angenehmer machte und ihm seinen Wunsch, das alles am liebsten zu vergessen, nicht erfüllte.
"Ist doch alles scheiße…", murrte er und trat wieder gegen die Getränkedose. Dieses Mal jedoch so kräftig, dass sie auf der Straße landete, wo sie vom nächsten Fahrzeug, das vorbei kam, platt gefahren wurde und ihm ein weiteres fluchendes Grummeln entlockte. Dass alles scheiße war, traf es somit nicht einmal ansatzweise, da ihm nun auch diese kurzweilige Beschäftigung abhanden gekommen war. Crispin verfluchte allerdings nicht nur seine und Élodys Familie, sondern irgendwo auch sich selbst. Er hätte einfach niemals zustimmen dürfen, das Stück für seinen Bruder und dessen Verlobte zu spielen - der Wunsch Cyrian eine Freude zu bereiten hin oder her. Wie das ablaufen würde, hätte er sich früher denken können, schließlich wusste er doch, was die Eltern seiner zukünftigen Schwägerin von ihm hielten. Dabei versuchte er sich, so gut es ging, anzupassen und trotzdem war es für niemanden gut genug. Scheinbar nicht mal für seine eigenen Eltern, die zwar vorgaben, ihn zu unterstützen, indem sie ihn zu solchen Anlässen spielen ließen, aber wenn er genau darüber nachdachte, war diese Unterstützung genauso geheuchelt wie alles andere, denn stünden sie tatsächlich hinter ihm, wäre es an diesem Abend vermutlich niemals zu dieser Situation gekommen, dass man ihn derart auflaufen ließ. Eine leise Stimme in ihm flüsterte ihm zu, dass sie es vorher wussten und ihn darauf hätten vorbereiten können. Das hätte zwar nichts daran geändert, dass es ihn verletzt hätte und er enttäuscht darüber gewesen wäre, aber man hätte ihn nicht vor versammelter Mannschaft bloßgestellt.
So über seine eigenen Eltern zu denken, schmerzte zutiefst, aber was sollte er anderes tun, wenn sie sich nicht für ihn einsetzten? Nicht einmal dann, als es ihm verkündet wurde, hatten sie ihm zur Seite gestanden. Der einzige, der sich darum gesorgt hatte, wie es ihm ging, war Cyrian. Wieder einmal und so wie es im Grunde immer war. Wieso nur machte er das alles also weiter brav mit, schluckte seine Proteste und seinen Widerwillen herunter, obwohl es ihm immer schwerer fiel, den folgsamen Sohn zu spielen?
Augenblicklich grub er seine Zähne in seine Unterlippe und kaute darauf herum. Er wusste ganz genau, warum er das tat: Weil ihm nichts anderes übrig blieb und er andernfalls alles verlieren würde. So sehr ihn das alles auch nervte und er am liebsten ausbrechen würde, er hatte keine andere Wahl, als einfach weiterzumachen, denn die geheuchelte Aufmerksamkeit und Liebe seiner Eltern war immer noch besser, als die offene Ablehnung, die er zu spüren bekommen hatte, als er noch jünger war und bevor er seinen eigenen Weg für das Klavier spielen gefunden hatte.
Ein stechender Schmerz zog sich durch seine Brust, als er daran zurückdachte, und er schloss für einen Moment die Augen, während er stehen blieb und den Druck auf seine Unterlippe noch erhöhte, bis er spürte, dass er es übertrieb, da sie aufriss und er den metallischen Geschmack des Blutes im Mund hatte.
"Ach, verdammt…", murmelte und trauerte der Wodkaflasche hinterher, die er dem Unbekannten in der Gasse überlassen hatte. Er hätte sie doch mitnehmen sollen. Irgendwas wäre ihm sicher eingefallen, um sie wieder an sich zu bringen. Doch leider war in dem Moment seiner Flucht, das Gefühl, aus dieser Situation heraus zu müssen, sehr viel stärker, als sein Bedürfnis nach dem Alkohol und nun musste er zusehen, wo er etwas Neues herbekam.
Sein Blick glitt die Straße entlang, wanderte über die kleinen exquisiten Geschäfte, die sich in diesem Stadtteil befanden und die Menschen, die nicht wussten, wohin mit all ihrem Geld, dazu verführten, es für völlig überteuerte und unnötige Sachen auszugeben. Er hatte noch nie wirklich viel davon gehalten, aber heute kamen ihm diese Läden vielleicht zugute, als er einen für Spirituosen aus aller Welt entdeckte. Dass diese womöglich ebenfalls übertrieben viel kosteten, war ihm vollkommen egal, denn erstens hatte inzwischen ohnehin alles geschlossen und selbst wenn nicht, hätte er ohnehin nicht vorgehabt zu bezahlen. Auf diese Weise ein wenig zu rebellieren, fühlte sich dafür viel zu verlockend an, auch wenn es wohl keiner außer dem Besitzer merken würde, wenn er es richtig anstellte. Erfahrung hatte er darin nicht, aber Übung machte den Meister, oder etwa nicht?
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sah er sich um, damit er gefahrlos über die Straße kam, da sich das Geschäft auf der anderen Seite befand, doch bevor er auch nur einen Fuß auf die Fahrbahn setzen konnte, wurde er davon abgehalten, als er plötzlich diese bereits viel zu vertraut klingende tiefe Stimme seinen Namen rufen hörte.
"Crispin? Warte mal."
Verwirrt darüber, wieso der Schwarzhaarige mit der Lederjacke wusste, wie er hieß, hielt er mitten in der Bewegung inne und drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war und aus der ihm der andere gerade entgegenkam.
"Woher…?", setzte er an, als er bei ihm war und wollte ihn schon wegen der Sache mit seinem Namen fragen, als ihm auch schon dämmerte, woher der Wind wehte. Ein Seufzen entwich ihm daraufhin. "Schon klar, mein Bruder… Was willst du?! Hat er dich beauftragt, meinen Bodyguard zu spielen?!"
Jemand anderen konnte er sich nicht vorstellen und es würde Cyrian ähnlich sehen. Crispin verstand, dass er ihm, anders als sonst, nicht nachlaufen konnte, und er wusste auch nicht, ob er das heute überhaupt wollen würde.
Sein Gegenüber zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen nach oben, das ihm zusätzlich zeigte, dass er richtig lag, auch wenn er weder diese noch die darauf folgende verbale Bestätigung gebraucht hätte.
"So in der Art."
Crispin schnaubte, auch wenn er es bereits wusste, denn nur weil er damit wohl hätte rechnen müssen, dass ihn sein Bruder nicht alleine wissen wollte, hieß das nicht, dass es ihm gefiel. Er war immerhin kein kleines Kind mehr.
"Spar es dir! Ich brauch keinen-", wollte er schon protestieren, als ihm mit einem Mal die Flasche mit dem Wodka entgegengehalten wurde.
"Ja, ja, schon klar, du brauchst keinen Bodyguard", beendete er schulterzuckend seinen Satz. "Hier, die kriegst du wieder. Aber dafür bringe ich dich nach Hause."
Überrumpelt und sprachlos sah er ihn an, wusste weder, was er sagen noch tun sollte, da die Situation anders verlief, als er gedacht hätte. Meinte er das wirklich ernst? Seine Augen huschten zwischen der Flasche und dem Gesicht des anderen hin und her, auf der Suche nach einem Hinweis, dass er gerade verarscht wurde. Doch die Flasche wurde weiter in seine Richtung gehalten, damit er sie an sich nahm, und auch sonst konnte er nichts entdecken, was darauf schließen ließ, dass er in eine Falle lief. Dennoch haderte Crispin ein wenig, rang mit sich, ob er es tun sollte, und griff dann zögerlich nach dem Wodka, um ihn an sich zu nehmen.
"Von mir aus. Hauptsache der Abend ist bald vorbei. Aber da du jetzt weißt, wie ich heiße, wäre es nur gerecht, wenn ich es bei dir auch wüsste."
Vielleicht war es eine dumme Idee, darauf einzugehen, und er würde es später bereuen. Zu einhundert Prozent konnte er das aber nicht sagen und im Moment war es ihm auch egal, solange er den Rest des Tages nicht nüchtern verbringen musste und seinen Kopf und seine Gedanken mit dem Alkohol in seinem Blut betäuben konnte.
Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf den Lippen seines Gegenüber, als hätte er eher damit gerechnet, dass er ablehnen würde, und eventuell wäre es auch vernünftiger gewesen, aber er wollte nicht vernünftig sein. Nicht an diesem Abend.
"Mein Name ist August. Na dann, Crispin, lass uns losgehen. Du wohnst immerhin nicht gerade um die Ecke."