Wind Beyond Shadows

Normale Version: Die Blume der Rebellion
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Crispin Cipriano

DIE BLUME DER REBELLION

》Rebellion is when you look society in the face and say
I understand who you want me to be but
I'm going to show you who I actually am.《

》The only way to deal with an unfree world is to become so absolutely free
that your very existence is an act of rebellion.《

》Have you ever realized that when people say you've been changed
it's just because you've stopped living your life their way?《


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“Crispin, warte kurz. Wir müssen reden. Dein Verhalten heute Abend war alles andere als in Ordnung.”
Seufzend hielt der Angesprochene inne, als er die Stimme seiner Mutter hörte, und drehte sich auf dem Absatz der Treppe zu ihr herum. Konnte sie ihn gerade nicht einfach in Ruhe lassen?! Vor allem, weil er ganz genau wusste, worüber sie mit ihm reden wollte. Aus diesem Grund gab er auch keinen Ton von sich, während er seine Mutter mit einer hochgezogenen Augenbraue anblickte. Das einzige, was er an diesem Abend noch wollte, war eine Dusche und sein Bett und dabei am liebsten vergessen, was ihm heute verkündet wurde. Doch diesen Gefallen wollte ihm die Frau, die gerade die letzten Stufen zu ihm hinaufschritt, allem Anschein nach nicht tun.
“Du weißt ganz genau, wie wichtig vorbildliches Verhalten ist. Dein Vater und ich haben lange mit der Familie von Marielle gesprochen, bis sie der Verlobung zugestimmt hatten. Diese Verbindung ist wichtig und du kannst ihr nicht einfach sagen, sie würde dir nicht gefallen.”
Die Stimme seiner Mutter war streng, doch anders kannte er es gar nicht von ihr, weshalb er sich davon nicht beeindrucken ließ. Ihren festen Blick standhaltend, schob er die Hände in die Taschen seiner Anzughose und sah auf sie herab, da sie noch immer zwei Treppenstufen unter ihm stand.
“So habe ich das gar nicht gesagt, aber ich habe auch absolut keinen Bock darüber zu reden. Weder heute noch irgendwann anders. Es bleibt dabei: Ich werde diese arrogante und aufgetakelte Pute nicht heiraten!”
Crispin sah, wie seine Mutter begann, wütend zu werden, als er dieselben Worte nutzte, wie bereits während des Abendessens, nachdem ihm die freudige Nachricht verkündet wurde, doch er wandte sich einfach ab, um endlich in sein Zimmer zu gelangen und aus diesen furchtbar unbequemen Klamotten herauszukommen. Nach etlichen Jahren, in denen er schon maßgeschneiderte Anzüge trug, sollte man meinen, dass er sich daran gewöhnt hatte, aber er konnte dieser Art der Kleidung noch immer nichts abgewinnen. Für ihn war es einfach unbequem und glich beinahe einer Verkleidung, weshalb er jedes Mal froh war, diese wieder los zu werden. Wie Cyrian das Ganze ertrug, war ihm wirklich ein Rätsel, aber vielleicht hatte es sein Bruder aufgegeben, etwas dagegen zu sagen, nachdem er sah, dass es auch bei ihm nichts geholfen hatte, sich darüber zu beschweren.
“Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede! Was ist nur mit dir passiert? Seit Wochen verhältst du dich immer seltsamer. Ich erwarte von dir, dass du dich morgen bei Marielle und ihren Eltern entschuldigst! Hast du mich verstanden?”
Darauf kannst du lange warten, ging es ihm durch den Kopf, doch er sagte nichts mehr dazu, während er weiterlief. Eigentlich hatte er immer das letzte Wort, aber gerade fehlte ihm die Lust auf weitere Diskussionen. Dass er sich bei seiner zukünftigen Verlobten entschuldigte, konnte sie aber dennoch vergessen. Genauso wie die ganze Verlobung und spätere Hochzeit. Sein Leben an der Seite dieser Frau zu verbringen, stand nicht auf der Liste der Dinge, die er unbedingt tun wollte. Nicht nur, dass ihm Marielle nicht gefiel, er hatte schlicht kein Interesse an Frauen, wovon seine Eltern allerdings keine Ahnung hatten. Nicht einmal sein Bruder wusste etwas davon, obwohl er diesem näher stand. Seine Familie würde vermutlich ausflippen, wenn sie davon Wind bekämen, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Und zu einem ganz besonders.
Gerade als er sein Zimmer erreichte und es betrat, schob sich das Bild eines ganz bestimmten Mannes vor sein inneres Auge. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, nachdem er diese hinter sich wieder geschlossen hatte, und schloss die Lider, was dazu führte, dass er das Bild noch viel deutlicher sah. Seidig schwarze Haare, die ihm in die Stirn fielen und bei denen er sich bereits bei ihrem ersten Aufeinandertreffen fragte, ob sie sich unter seinen Fingern wohl auch so weich anfühlen würden, wie sie aussahen und worauf er bis heute keine Antwort hatte. Schmale, dunkle Augen, die ihn unweigerlich an eine Katze erinnerten und bei denen er mitunter das Gefühl hatte, darin zu versinken. Ganz besonders wenn das Licht nur spärlich darauf fiel und sie noch sehr viel dunkler, beinahe schwarz wirkten. Beides stand im Kontrast zu der hellen, porzellanartigen Haut und den feinen Zügen, die ihm etwas leicht Feminines gaben. Allerdings sollte man sich davon und seiner eher zierlichen Gestalt nicht täuschen lassen, denn Kraft besaß er auf jeden Fall.
Crispin biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen noch mehr zusammen, als sein Herz begann schneller zu schlagen und in ihm das Bedürfnis aufkam, zu ihm zu gehen. Es würde den Abend auf jeden Fall aufwerten, der bisher kaum schlimmer hätte sein können und auch wenn er vor ein paar Minuten eigentlich nur noch ins Bett wollte, wurde der Drang doch immer größer, sich aus seinem Zimmer zu schleichen und August einen Besuch abzustatten.
Seine Mutter hatte recht, wenn sie sagte, er hätte sich in den letzten Wochen verändert. Wobei das nicht zu einhundert Prozent stimmte, denn es war lediglich so, dass er nun nicht mehr nur innerlich gegen die Regeln und Ketten rebellierte, denen er durch seine Familie und ihrem gesellschaftlichen Stand unterworfen war. Es ging ihm schon sehr viel länger gehörig gegen den Strich, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Genauso wie die Oberflächlichkeit, welche die besser betuchten Menschen an den Tag legten und zu denen neben seinen Eltern auch jene von Marielle gehörten - ihre eigene Wenigkeit ebenfalls inbegriffen. Lange Zeit hatte er nur nichts gesagt, weil er als Kind bereits gespürt hatte, wie es war, das schwarze Schaf zu sein. Damals hatte er noch nicht erkannt, dass die Liebe seiner Eltern von dem abhängig war, wie gut er in ihr Weltbild passte, und hatte aus diesem Grund alles dafür getan, um sie wiederzubekommen, nachdem er sie aufgrund seines mangelnden Talents, was das Lesen von Noten betraf, so gut wie verloren hatte.
Aus heutiger Sicht war es absurd, sich derart an etwas zu klammern, dass von Bedingungen abhängig war, obwohl die Liebe der Eltern doch genau das nicht sein sollte, aber zum damaligen Zeitpunkt wusste er es nicht besser und neben seinem Bruder waren sie nun einmal seine wichtigsten Bezugspersonen. Inzwischen verstand er, dass es im Grunde keinen Sinn machte, sich darum zu bemühen, diese Art der Aufmerksamkeit zu behalten, da er sich für sie in eine Form pressen musste, die er nun einmal nicht war und der Anzug, in dem er steckte, war da nur der Anfang. Erst durch August war ihm das vollends klar geworden, bei dem er sich nicht verbiegen brauchte, damit er von ihm akzeptiert wurde. Eigentlich war es traurig, dass er von einer fremden, außenstehenden Person in wenigen Wochen mehr Akzeptanz erfuhr, als von seiner eigenen Familie - und das bereits seit ihrem ersten Aufeinandertreffen, an das er sich noch sehr gut erinnern konnte.

Feiern, Benefizveranstaltungen, geschäftliche Essen und andere Anlässe, zu denen sich die gehobene Gesellschaft traf - wie er all das doch hasste. Die Verlobung seines eigenen Bruders machte da keinen Unterschied und doch wollte er an diesem Tag - wie immer zu solchen Ereignissen - eigentlich gute Miene zum bösen Spiel machen. Die Betonung lag auf eigentlich, denn gerade begann seine sorgsam aufgebaute Fassade zu bröckeln, als ihm seine Mutter eröffnete, dass nicht er an diesem Abend zu Ehren des Anlasses am Flügel sitzen und spielen würde, sondern Cyrian. Dabei war es seit Wochen geplant, dass er das übernahm und etwa genau so lange hatte er das Stück, welches sich Élodys Familie gewünscht hatte, geübt, damit er es so spielen konnte, wie es sich alle vorstellten. Es war nicht so, dass er diese Mühe vor allem für seinen Bruder nicht gerne auf sich genommen hatte, um ihm eine Freude zu bereiten, und doch ließ diese Entscheidung das Fass gerade überlaufen. Laut seiner Mutter hätten sich die Eltern von Cyrians Zukünftiger spontan für ein anderes Stück entschieden, dass besser zum Anlass passen würde und da das Notenlesen für ihn noch immer ein Buch mit sieben Siegeln war, war er dafür nicht mehr der geeignete Pianist.
“Das war doch alles geplant…”, murmelte er so leise, dass es kein anderer hören konnte, bevor er sich etwas lauter an seine Mutter wandte, die scheinbar auf eine Reaktion seinerseits wartete. “Macht doch einfach, was ihr wollt!”
Mit diesen Worten wollte er sich an ihr vorbei schieben, doch eine Hand griff nach dem Ärmel seines Jacketts und hielt ihn damit zurück.
“Warte kurz, Pino...”
“Lass gut sein, Cyr. Élodys Eltern haben ihre Meinung geändert und somit bin ich da raus. In solchen Fällen bist und bleibst du eben der Talentiertere von uns beiden.”
Ohne sich zu ihm umzudrehen und zu ihm zu schauen, entriss Crispin seinem Bruder seinen Arm und entfernte sich sowohl von ihm als auch dem Rest seiner Familie. Bisher hatte es ihn nur wenig und selten gestört, dass er kein Talent für das Lesen der Noten hatte und es somit einen gewissen Mehraufwand für ihn bedeutete, wenn er auf solchen Veranstaltungen spielen sollte, da er es nun einmal aus dem Gedächtnis tun musste. Doch in der Regel half ihm Cyrian dabei, indem er ihm das Ganze ein paar mal vorspielte, bis er sich sicher war, sich die Tonfolge gemerkt zu haben und das klappte auch ganz gut. Die anderen Familien der Oberschicht - besonders die, mit denen seine Eltern häufiger zu tun hatten und denen sie, zumindest oberflächlich gesehen, näher standen - wussten um sein kleines Handicap. So auch Élodys Familie. Aus diesem Grund war er sich auch sicher, dass sie es geplant hatten, ihn heute dermaßen bloßzustellen - nicht zuletzt, weil er wusste, dass sie etwas gegen ihn hatten, seit er bei der Verkündung der Verlobung das Ganze als Farce bezeichnet hatte, weil er wusste, dass es nur darum ging, engere Geschäftsbeziehungen eingehen und diese nach Außen hin besser präsentieren zu können. Und sowohl Cyrian als auch Élody machten bei diesem Spiel mit, obwohl sie sich nicht liebten und lediglich gute Freunde waren.
Doch auch wenn es ihn sonst nicht ganz so sehr störte, schmerzte es gerade auf diese Art und Weise ersetzt zu werden und vor Augen geführt zu bekommen, dass er trotz seines Talents eben immer einen Makel haben würde, der es ihm unmöglich machte, spontan auf solche Änderungen reagieren zu können. Er würde immer im Schatten seines Bruders stehen, egal, was er tat. Diesem machte er keine Vorwürfe, denn er konnte nichts dafür, dass alle in ihm den perfekten Sohn und Pianisten sahen. Zudem unterstützte er ihn, wo er nur konnte und er wäre heute wohl nicht so gut, wenn er diese Unterstützung und den Ehrgeiz, so gut wie Cyrian zu werden, nicht gehabt hätte.
Für diesen Abend war seine Laune dennoch im Keller und er hatte auch keine Lust mehr, so zu tun, als wäre es anders. Crispin war sich sicher, dass nichts mehr etwas daran ändern und seine Stimmung wieder heben konnte. Um ihn trotzdem noch einigermaßen erträglich zu gestalten, bahnte er sich seinen Weg direkt zu der kleinen Bar, an der sich die Gäste neben dem Champagner, den die Kellner verteilten, auch noch individuelle Cocktails mixen lassen konnten. Sein Interesse lag allerdings weniger bei diesen Longdrinks, als eher bei den alkoholischen Grundlagen, die dafür genutzt wurden. Als er an der Bar ankam, warf er einen prüfenden Blick über seine Schulter, um zu sehen, ob ihn jemand beobachtete, denn zu seinem Glück war im Moment auch kein Barkeeper zu sehen, der ihn von seinem Plan abhalten könnte, weil er eigentlich noch zu jung war. Doch auch von den anderen Anwesenden schenkte ihm keiner Beachtung und er entließ erleichtert die angehaltene Luft aus seinen Lungen.
Ihm war bewusst, dass er sich beeilen sollte, wenn er nicht wollte, dass sich daran nicht doch noch etwas änderte, weshalb er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn richtete. Er beugte sich über die Theke, um zu schauen, ob dort nicht die eine oder andere Flasche in seiner Reichweite stand und auch in diesem Punkt war das Glück auf einer Seite, denn unterhalb des Tresens, auf dem er sich abstützte, erspähte er diverse angefangene Spirituosen. Ohne groß nachzudenken oder genauer hinzuschauen, griff er nach einer von ihnen und förderte eine Flasche mit einer klaren durchsichtigen Flüssigkeit zutage, die sich als Wodka entpuppte. Da es Crispin gerade ziemlich egal war, womit er sich betrank und er einfach nur vergessen wollte, wie das heute alles gelaufen war, gab er sich damit zufrieden und entfernte sich wieder von der Bar, bevor er doch noch erwischt wurde. Aus diesem Grund verschwendete er auch keine weitere Zeit und schlich sich in den Bereich, der eigentlich für die Mitarbeiter vorgesehen war, um dort nach dem Hinterausgang zu suchen.
Nur wenig später stieß er die Tür auf und landete in einer kleinen Gasse. Große Müllcontainer säumten den Weg entlang des Gebäudes und versperrten die Sicht auf die Hauptstraße, die nach der Geräuschkulisse zu urteilen, jedoch nicht weit entfernt lag. Einzelne Zigarettenstummel lagen auf dem Boden herum und Crispin verzog leicht das Gesicht. Die Sauberkeit, die dem Besitzer im Inneren der Räumlichkeiten wichtig war, schien außerhalb hingegen keine allzu große Rolle zu spielen. Allerdings war dieser Ort im Normalfall auch nicht für die Augen der Besucher gedacht. Da er aber auch nicht wieder reingehen wollte, um sich dort eine Ecke zu suchen, in der er ungestört war, beschloss er, hier zu bleiben und setzte sich auf die einzelne Stufe. Dass sein Anzug dabei dreckig wurde, war ihm herzlich egal. Seine Eltern würden zwar mit Sicherheit an die Decke gehen, aber auch das konnte ihn gerade nicht weniger interessieren. Das Teil landete nach diesem Abend ohnehin in der Reinigung und warum sollte man den Mitarbeitern dort nicht ein wenig Arbeit verschaffen und diesem ganzen Aufwand überhaupt mal einen Grund geben?
Da er nicht weiter darüber nachdenken und sich allgemein keinen Kopf mehr um irgendwas, was den Abend betraf, machen wollte, öffnete er die Flasche, die er noch immer in den Händen hielt. Sofort lag der starke Geruch des Alkohols in der Luft und stieg ihm unweigerlich in die Nase, sodass er ein weiteres Mal kurzzeitig das Gesicht verzog. Es war nicht so, dass er nicht ein ums andere mal schon zu so etwas gegriffen hatte, wenn ihm alles über den Kopf wuchs, aber daran gewöhnt war er deswegen noch lange nicht. Daher brauchte er einen Augenblick, bis der penetrante Geruch nicht mehr ganz so unangenehm war. Sein Körper bereitete sich allerdings schon auf das gleich folgende brennende Gefühl im Hals vor, indem es ihn daran erinnerte, wie es war. Es glich beinahe der Empfindung, wenn man an etwas saures zu essen oder zu trinken dachte und sich die Geschmacksnerven alleine bei der Erinnerung daran zusammenzogen.
“Augen zu und durch”, murmelte er, wohl wissend, dass der erste Schluck immer der schlimmste war und es mit jedem weiteren besser wurde. Gerade als er die Öffnung der Flasche an seine Lippen setzen wollte, hörte er das Fauchen einer Katze und das Umstürzen irgendwelcher Gegenstände, die er anhand des Klangs nicht genau benennen konnte. Crispins Blick huschte direkt in die Richtung, aus der der Lärm kam und spähte in die Dunkelheit. Die Gasse war nur spärlich beleuchtet, weshalb es ihm schwer fiel, etwas zu erkennen. Daher wollte er das Ganze schon damit abtun, dass es womöglich einfach die Katze war, die etwas umgeworfen hatte.
“Fuck!”
Dieser leise Fluch ließ ihn seine Vermutung wieder verwerfen und er versuchte noch einmal etwas zu erkennen, was jedoch auch beim zweiten Anlauf fehlschlug.
“Wer ist da?! Komm gefälligst raus und zeig dich!”
Dass es vielleicht keine gute Idee war, einen provokanten Unterton in seine Stimme zu legen, war ihm durchaus bewusst. Schließlich hatte er keine Ahnung, wer sich da in seiner Nähe aufhielt, aber es war ihm gerade ziemlich egal, ob das Ärger bedeuten konnte oder nicht. Allerdings vergingen einige Momente, in denen sich nichts weiter tat und er wollte schon genervt noch einmal etwas sagen. Sicherlich wäre es besser, es einfach auf sich beruhen zu lassen und eventuell wieder nach drinnen zu gehen, doch alleine bei dem Gedanken, sich wieder mit seinen Eltern und den restlichen Gästen auseinanderzusetzen, sträubte sich alles in ihm. Im Grunde wollte er an diesem Abend niemanden mehr von ihnen sehen, auch wenn er wusste, dass es zumindest bei seiner Familie nicht so einfach umzusetzen war. Mit diesem Gedanken musste er sich gerade aber auch nicht weiter beschäftigen, da sich die Person endlich dazu entschied, seiner Aufforderung nachzukommen und sich langsam von der Dunkelheit in das Licht einer in der Nähe stehenden Laterne bewegte. Dabei sah er, dass es sich um einen Mann handelte. Dieser zupfte sich etwas aus den Haaren, was er nicht erkennen konnte, aber mit Sicherheit während des kleinen Zwischenfalls dort hinein geraten war. Crispin behielt ihn im Blick, musterte ihn von oben bis unten und musste zugeben, dass er nichts dagegen hätte, die Kleidung mit ihm zu tauschen, auch wenn das ein überflüssiger Gedanke war. Dennoch konnte er nichts dagegen tun, dass er sich in seinen Kopf schlich. Wenn man bedachte, dass er in Klamotten steckte, die er im Grunde hasste, und die seines Gegenüber dagegen recht bequem aussahen, konnte man ihm das wohl auch nicht verdenken. Zwar war er kein Freund von Lederjacken, aber im Gegensatz zu einem Anzug war alles besser.
“Bist du dafür nicht noch zu jung?”
Die tiefe Stimme seines Gegenübers holte ihn aus seiner Betrachtung und seinen Überlegungen, doch er brauchte einen kurzen Moment, bis er begriff, was er meinte. Dafür folgte er dem Blick der dunklen Augen, die in der relativ dunklen Gasse beinahe schwarz wirkten und auf der Flasche in seinen Händen lagen. Er selbst zog die Augenbrauen zusammen und schaute wieder auf.
“Was geht dich das an?!”, schnaubte er abfällig. “So wie du aussiehst, bezweifle ich, dass du zu dieser ach so tollen Gesellschaft dazugehörst, die sich da drinnen gerade selbst feiert. Somit kann dir das vollkommen am Arsch vorbei gehen!”
Crispin hasste es, bevormundet zu werden, und dabei war es egal, ob es sich um seine Eltern, Lehrer oder andere Personen handelte. Gerade bei ersteren schluckte er seinen Missmut darüber in der Regel herunter, aber bei dem Schwarzhaarigen, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand und durch seine sitzende Position auf ihn herabsah, würde er dies mit Sicherheit nicht tun. Verlieren konnte er immerhin nichts, wenn er ihn gegen sich aufbrachte und was er von ihm dachte, war ihm egal. Redete er sich zumindest ein, denn eigentlich störte es ihn, dass jeder wirklich immer nur das sah, was er ihnen zeigte. Der einzige, der sein wahres Ich hinter seiner Fassade kannte, war sein Bruder. Alle anderen machten sich nicht die Mühe und stempelten ihn lieber ab und steckten ihn in irgendeine Schublade.
“Da hast du mich wohl erwischt”, zog der andere seine Aufmerksamkeit wieder zu ihm und bestätigte damit das Offensichtliche, bevor er ihn versuchte zu belehren. “Und du siehst aus, als wolltest du vor der erwähnten Gesellschaft fliehen. Wobei dir das Zeug sicher wenig dabei helfen wird. Das einzige, was du riskierst, ist ein Kater.”
Ohne mit der Wimper zu zucken, überbrückte er den Abstand bis zu Crispin, der bei dieser Aussage ein weiteres Mal schnaubte. Bevor er allerdings zu einer Erwiderung ansetzen konnte, wurde ihm die Flasche aus der Hand gerissen und der Unbekannte entfernte sich anschließend wieder einige Schritte von ihm.
“Hey, gib die gefälligst wieder her! Was interessiert es dich überhaupt?! Wir kennen uns nicht mal!”
Für einen kleinen Augenblick hatte Crispin das Gefühl, als hätte er den anderen überrascht, denn seine Augen weiteten sich ein wenig. Vielleicht bildete er sich das Ganze aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse aber auch nur ein und seine Augen spielten ihm einen Streich, da die Reaktion wenn dann auch nur einen Sekundenbruchteil andauerte. Stattdessen sah ihn der Schwarzhaarige ungerührt an und machte keine Anstalten, auf seine Forderung einzugehen, sodass er seine Flasche wiederbekommen konnte.
"Stimmt wohl, aber das ändert nichts daran, dass du dafür noch viel zu jung bist", entgegnete er ihm und bestätigte damit seine Vermutung, dass er wohl nicht vorhatte, seiner Aufforderung nachzukommen. Wieso musste sich das Leben an diesem Abend eigentlich mal wieder so dermaßen gegen ihn stellen? Erst die Aktion von Élodys Familie, die spontan entschieden, dass sie doch lieber ein anderes Musikstück zu Ehren der Verlobung ihrer Tochter mit seinem Bruder hören wollten, sodass es nicht anders ging, als dass dieser das übernahm. Und nun war es ihm nicht einmal vergönnt, diesen Abend mit Alkohol ein wenig erträglicher zu gestalten, nur weil irgendein dahergelaufener Typ der Meinung war, er wäre zu jung dafür. War er im Grunde zwar auch, aber das spielte für ihn gerade überhaupt keine Rolle.
Seine Laune sank spontan noch ein wenig tiefer, wobei er bis eben nicht geglaubt hatte, dass dies überhaupt möglich war.
"Bullshit! Außerdem ist das immer noch mein Leben!", ließ er nicht locker, da er nicht einmal ansatzweise vor hatte, sich in diesem Punkt gerade bevormunden zu lassen - schon gar nicht von einem Wildfremden, der ihn überhaupt nicht kannte und somit überhaupt kein Recht dazu hatte. "Und jetzt gib die wieder her!"
Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen - und weil Crispin nicht glaubte, dass diese genau wie seine letzten Wirkung zeigen würden - erhob er sich und überbrückte die kurze Distanz, die der andere zwischen sie gebracht hatte.
Ohne zu zögern, griff er nach der Wodkaflasche, musste aber schnell feststellen, dass der Griff des Unbekannten kräftiger war, als es den Anschein machte. Daher hielt er inne, musterte ihn noch einmal, während er direkt vor ihm stand. Neben der Tatsache, dass er ihn locker um einen Kopf überragte, wirkte er im Allgemeinen recht schmächtig und absolut nicht muskulös, weshalb es ihn noch sehr viel mehr überraschte, dass er die Flasche so entschlossen festhielt. Wobei sich Crispin in Erinnerung rufen musste, dass Stärke nicht zwingend etwas mit dem Körperbau und dem offensichtlichen Erkennen von Muskeln zu tun haben musste. Wäre dem so, müsste jeder Bodybuilder nur so vor Kraft strotzen, doch vermutlich bekamen die meisten von denen nicht einmal ein Glas ohne Hilfe auf, da ihre Muskeln lediglich auf Hormonen statt auf wirklichem Training beruhten.
Allerdings trug diese Erkenntnis nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte, genauso wie die Worte des anderen, die er zu hören bekam.
"Nichts da. Die bleibt bei mir."
Crispin wollte schon etwas darauf erwidern, ihn erneut daran erinnern, dass sie sich nicht kannten und es ihm somit herzlich egal sein konnte, wenn er sich mit dem Wodka betrank. Jedoch lenkte ihn ein leicht süßlicher Duft, der mit einem Mal in der Luft hing und ihn merklich umgab, erfolgreich davon ab. Vanille, schoss es ihm durch den Kopf, während er den anderen weiter ansah und sein Blick dabei an den dunklen Augen hängen blieb. Der Geruch erinnerte ihn an Vanille.
"Wie heißt du eigentlich?"
Durch den Duft komplett abgelenkt und durch die Tatsache, dass dieser ein seltsames Gefühl in ihm auslöste, das er weder zu deuten noch zu benennen wusste, brauchte er einen Augenblick, bis er begriff, was der andere eigentlich gerade von ihm wollte. Überrumpelt und irritiert, weil er damit so gar nicht gerechnet hatte, sah er ihn mehrere Sekunden einfach nur an, bis er endlich seine Sprache wiederfand, wobei er gleichzeitig seine Augenbrauen zusammenzog.
"Das werde ich dir ganz gewiss nicht sagen! Aber was willst du hier eigentlich?! Du wirkst nicht, als würdest du in diese Gegend gehören."
Schon im ersten Moment, als er ihn dank der Straßenlaterne erkennen konnte, war ihm dies aufgefallen. In der Gegend, in der sie sich befanden, verkehrte vor allem die gehobene Gesellschaft. Die Leute, die man hier zu Gesicht bekam, trugen somit Maßanzüge und Designerkleider, aber ganz gewiss keine Skinny Jeans und Lederjacken. Mit diesem Outfit zählte sein Gegenüber eher zu den zwielichtigen Gestalten, die jedes Mitglied der Oberschicht mit Abscheu ansehen würde.
Crispin hasste diese Oberflächlichkeit schon seit einer gefühlten Ewigkeit, aber um nicht alles zu verlieren, was er hatte, hielt er die Klappe und ertrug es - auch wenn es nicht immer einfach war.
Mit seiner eigenen Frage schien er nun jedoch auch den anderen aus dem Konzept gebracht zu haben, denn dieser sah ihn überrascht an.
"Hmm…? Also… Ich hatte hier einen Auftrag. Ich bin Kammerjäger", entgegnete er ihm, nachdem er sich offensichtlich wieder gefangen hatte. Dabei wirkte er, als meinte er das tatsächlich ernst. Ungläubig und skeptisch sah Crispin ihn an. War das sein ernst? Glaubte er wirklich, dass er ihm das abkaufen würde? Abschätzig ließ er seinen Blick noch einmal über ihn wandern, um schon alleine damit zu zeigen, was er von dieser Aussage hielt, und schnaubte leise, als er an dessen Gesicht und besonders den dunklen Augen wieder ankam.
"Pah! Natürlich und ich bin der Kaiser von China!"
"Soweit ich mich erinnere, wirkt der in einem Anzug weniger gut gebaut."
Die Stimme des anderen war nur leise, fast nicht zu hören, weshalb Crispin nicht wusste, ob er sich nicht vielleicht verhört hatte. Doch wenn nicht…
"Was?!", enfuhr es ihm und sein Gegenüber sah ihn ertappt an, bevor er sich in einer abrupten Geste mit seiner freien Hand durch die Haare strich.
"Äh… Ach nichts."


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Ganz langsam aber stetig ebbte der Applaus ab, der einsetzte, nachdem der letzte Ton den Flügel verlassen hatte und in dem großen Saal verstummte. Cyrian schaute in die Menge, in das vor Freude strahlende Antlitz seiner Mutter und die stolzen Gesichter seiner zukünftigen Schwiegereltern. Je länger der Jubel dauerte, umso unwohler wurde ihm, obwohl er diese Art und Länge der Beifallsbekundungen bereits sehr gut kannte und gewohnt war. Heute allerdings hinterließen sie einen fahlen Beigeschmack, da nicht er sondern sein Bruder hier stehen und bejubelt werden sollte. Sein Blick wanderte durch den Raum auf der Suche nach ihm, während er sich erhob und die niedrige Bühne verließ, die extra für diesen Anlass aufgebaut wurde, um zu seiner und Élodys Familie zu gehen. Enttäuscht musste er feststellen, dass er Crispin nirgendwo finden konnte. Wirklich übel konnte er es ihm nicht nehmen, dass er sich nicht unter den momentan Anwesenden befand, auch wenn es ihn gefreut hätte, wenn er ebenfalls zugehört hätte. Allerdings konnte er es verstehen. Wochenlang hatte er sich auf diesen Tag vorbereitet, wollte, dass alles perfekt war, um ihm eine Freude zu bereiten und ihn und sich selbst nicht zu blamieren und kurz vor dem großen Augenblick wurde entschieden, dass die Eltern seiner Verlobten ein anderes Stück zu Ehren dieses Tages hören wollten. Dass er verletzt und frustriert darüber war, war sicherlich noch harmlos ausgedrückt.
"Oh Cyrian-Schatz, du warst wirklich fantastisch. Genauso wie ich mir das vorgestellt habe", kam Yoona lobend und mit demselben glücklichen Lächeln auf den Lippen zu ihm und zog ihn in eine Umarmung. Cyrian erwiderte diese kurz und murmelte ein leises "Danke, Mom", während seine Gedanken noch immer bei seinem kleinen Bruder waren. Er konnte sich nicht genauso über den gelungenen Auftritt freuen, wie seine Mutter. Dafür empfand er die ganze Situation als viel zu ungerecht. Doch er sagte nichts, wollte vor den anderen Gästen keinen schlechten Eindruck hinterlassen und seine Eltern nicht gegen sich aufbringen, nur weil ihm nicht gefiel, was Élodys Familie - vermutlich aus purer Absicht und Berechnung - getan hatte. Diese kam ebenfalls zu ihm, um ihn zu beglückwünschen.
"Das war fabelhaft. Neben deinem ausgezeichneten Verhalten, bist du wirklich äußerst talentiert. Ganz im Gegensatz zu deinem Bruder. Daher bin ich auch sicher, dass es Élody bei dir gut gehen wird und wir unsere Entscheidung nicht bereuen werden."
Eine Welle des Protests baute sich in ihm auf, als er die Worte von Mrs. L'amour hörte, doch auch diesen schluckte er herunter, zwang sich stattdessen ein Lächeln auf die Lippen, während er sich leicht vor ihr verbeugte.
"Das freut mich sehr zu hören, Mrs. L'amour. Wenn Sie mich aber kurz entschuldigen würden."
Cyrian erwähnte nicht, was er vorhatte, schob auch keine Lüge davor oder wartete gar auf ein Einverständnis, als er sich auch schon von ihnen abwandte, um sich stattdessen auf die Suche nach seinem Bruder zu machen. Dies war jedoch nicht der einzige Grund, warum er ging. Er musste einfach kurz weg, da er sonst das Gefühl hatte, vielleicht doch etwas zu sagen, was weder seinen Eltern noch denen seiner Zukünftigen gefallen dürfte. Es nervte ihn gewaltig, wie alle über Crispin sprachen, dachten, er hätte kein Talent für das Spielen auf dem Klavier, denn seiner Meinung nach lagen sie in diesem Punkt vollkommen falsch. Und jedes Mal hatte er alle Mühe, sich zurückzuhalten, nichts zu sagen und seinen Bruder in Schutz zu nehmen, um seine Familie nicht schlecht dastehen zu lassen, da auch ihre Eltern nicht widersprachen, wenn Crispins mangelndes Talent zur Sprache kam.
Er verstand aber auch einfach nicht, wie sie überhaupt darauf kamen. In seinen Augen war sein Bruder sogar sehr viel besser als er. Mithilfe von Notenblättern ein Stück zu spielen, war mit ein wenig Übung nicht besonders schwer. Das brachten viele zustande, solange sie die Noten lesen konnten. Für Crispin waren diese ein Mysterium, was der Grund dafür war, warum keiner anerkannte, was er konnte. Doch war diese Schwäche wirklich ein Makel? Sein Bruder mochte damit nichts anfangen können, wodurch er in Situationen wie der heutigen einen Nachteil hatte, doch genau wie Analphabeten hatte er einen Weg gefunden, damit umzugehen und das Klavier spielen dennoch zu lernen. War es somit also wirklich so schlimm, dass er nicht aus dem Stehgreif ein Stück spielen konnte?
Seines Erachtens nicht, denn wer konnte schon behaupten, dass er so etwas aus der Erinnerung heraus hinbekam? Crispin brauchte nicht lange, um sich eine Melodie zu merken, besaß neben seinem guten Gehör ein ausgezeichnetes Gedächtnis für so etwas und betätigte die Tasten zudem nicht nur plump, damit sie einen Ton von sich gaben, sondern legte jedes Mal seine Gefühle mit hinein. Er war nicht perfekt und auch wenn Cyrian im Gegensatz zu seinem Bruder keine Probleme mit den Notenblättern hatte, konnte er doch stolz behaupten, dass Crispin ihn bereits übertroffen hatte.
Nur sah die Gesellschaft, in der sie sich bewegten, das alles ein wenig anders. Für sie musste man nahezu perfekt sein. Sie hatten ihre Vorstellungen und jeder, der nicht in diese hineinpasste, wurde schräg angesehen und über den wurde - meist hinter dem Rücken - abwertend gesprochen. Menschen, die Dinge anders angingen und dennoch an ihr Ziel kamen, waren nicht gern gesehen und somit hatte er selbst einfach nur Glück, dass er in dieses vorgefertigte Raster passte und den gestellten Anforderungen gerecht wurde. Wie schwer man es andernfalls hatte, sah er jeden Tag an seinem Bruder, der mit dieser Oberflächlichkeit leben musste und darunter litt…
"Cyrian."
Eine sanfte Stimme durchdrang seine Gedanken und als er eine Hand an seinem Arm spürte, deren Finger sich in den Ärmel seines Jacketts krallten, schüttelte er beinahe unmerklich den Kopf, um sich wieder zu fangen und schaute zu der Person, die ihn angesprochen hatte. Élody sah ihn leicht besorgt an. Sie wusste, was er davon hielt, wie über seinen Bruder gesprochen wurde und konnte daher sicher verstehen, warum er das Weite gesucht hatte.
"Was hast du vor?"
"Ich will nur Crispin suchen, damit er nichts anstellt", entgegnete er ihr und ein sanftes, verständnisvolles Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen und strich ihm mit der Hand, mit der sie ihn festgehalten hatte, über den Arm.
"Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich kümmere mich um unsere Gäste."
Mit diesen Worten entfernte sie sich wieder von ihm, lief zurück zu den anderen und Cyrian konnte nicht in Worte fassen, wie dankbar er ihr dafür war. Auch wenn ihre Verlobung und auch die spätere Hochzeit nicht auf Liebe sondern nur auf einem Geschäft zwischen ihren Familien beruhte, so hatte er doch noch Glück mit der Wahl, die seine Eltern getroffen hatten. Schließlich hätte es ihn auch sehr viel schlimmer treffen können.
Um jedoch nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, die er besser dafür nutzen konnte, nach Crispin zu suchen, verscheuchte er auch diese Gedanken, und setzte sich stattdessen in Bewegung.
Cyrian wusste, wo er suchen musste, kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er sich in Situationen wie der heutigen einen ruhigen Ort suchen würde, an dem er ungestört sein und vor sich hin brüten konnte. Das war schon so, als sie noch klein waren. Immer, wenn es Crispin zu viel wurde, hatte er sich abgesetzt, hatte sich eine ruhige Ecke - vorzugsweise eine Fensterbank - gesucht und den Rest der Veranstaltung dort verbracht. Und jedes Mal war er ihm nachgelaufen, wenn er einen passenden Moment gefunden hatte, um ihm Gesellschaft zu leisten und ihn aufzubauen. Ganz besonders, als es noch so aussah, als würde er es nie schaffen, Klavier zu spielen.
Dieses Mal sah es allerdings schlecht aus. Ganz egal, wo er auch nachsah, war nichts von dem Jüngeren zu sehen und er fragte sich schon, ob Crispin wohl einfach abgehauen war. Zutrauen würde er es ihm, vor allem an dem heutigen Abend. Daher steuerte er, nachdem er alles andere abgesucht hatte, den Bereich für die Mitarbeiter an, bei dem er wusste, dass sich dort noch ein Ausgang und vielleicht auch ein Ort befand, an dem er fündig werden könnte. Hätte er bei einer Flucht den Haupteingang benutzt, hätte man ihnen Bescheid gegeben. Darauf bestanden ihre Eltern nach Crispins Fluchtversuch, als dieser gerade einmal fünf Jahre alt war und es tatsächlich geschafft hatte, für mehrere Stunden zu verschwinden. Es war das erste Mal, dass er gesehen hatte, dass sich sowohl seine Mutter als auch sein Vater Sorgen um ihren Jüngsten machten. Seitdem hatte er es zwar nie wieder versucht, doch die Vorsichtsmaßnahme für diesen Fall gab es noch immer, was er selbst wirklich unnötig fand, denn schließlich waren sie keine kleinen Kinder mehr und sein Bruder konnte durchaus auf sich selbst aufpassen. Dennoch hoffte er, dass Crispin auch an diesem Tag nicht verschwunden war, als er die Hintertür erreichte und diese öffnete.
Die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, verwirrte ihn für einige Sekundenbruchteile. Crispin stand vor einem völlig fremden Mann, die Hand an einer Flasche, deren Inhalt er durch die schlechten Lichtverhältnisse nicht erkennen konnte, doch die Form ließ darauf schließen, dass sich Alkohol darin befand.
Auch wenn keiner der beiden bisher zu ihm gesehen hatte, war er sich sicher, dass sie ihn durch die Geräusche der Tür gehört hatten. Bis auf die Autos, die man von weitem über die Hauptstraße fahren hörte, war es in dem kleinen Hinterhof weitestgehend ruhig. Daher machte er sich auch keine weitere Mühe, sich bemerkbar zu machen, bevor er seine Stimme erhob.
"Hier bist du also. Ich hab dich gesucht. Was machst du hier draußen?"
Wachsam behielt er sie im Blick, wobei er diesen vor allem über den Unbekannten wandern ließ, der seiner Kleidung nach zu urteilen, zu keinem der Gäste gehörte. Was machte er also hier hinter dem Gebäude und was wollte er von seinem Bruder? Innerlich ärgerte er sich darüber, dass er nicht schneller war, da er somit nicht wusste, was hier eigentlich vor sich ging. Oder kannte Crispin ihn vielleicht?
Bevor er ihn danach fragen konnte, schaute sein Bruder über die Schulter hinweg zu ihm. Trotz lag in seinem Blick, den er dort schon erwartet hatte, der jedoch nicht ihm galt.
"Wonach sieht es denn aus? Ich hatte keinen Bock mehr, mir das da drinnen noch anzutun! Das Ganze ist die reinste Farce und den Wunsch von Élodys Eltern zu erfüllen, hast du sicher auch ohne mich geschafft."
Augenblicklich senkte Cyrian den Blick ein wenig und presste die Lippen aufeinander. Ja, ihm war bewusst, was sein Bruder von der Verlobung hielt. Das hatte er bereits sehr deutlich gezeigt, als ihm diese Entscheidung während eines Abendessens bei Élodys Familie mitgeteilt wurde. Er musste zugeben, dass er recht hatte, dass es eine ziemliche Farce war, da jeder wusste, warum ihre Eltern diese Hochzeit wollten. Es ging nicht darum, dass er oder seine Verlobte glücklich wurden. Es war egal, was sie füreinander empfanden, und dass sie seit ihrer Kindheit befreundet waren, war lediglich ein glücklicher Zufall. Genauso gut hätten sie sich vollkommen fremd sein können und es wäre dennoch zu dieser Vereinbarung gekommen. Das einzige, was zählte, war der Zusammenschluss der Firmen und das Ansehen in der Oberschicht, denn somit wurde nicht nur das Vermögen gesichert, sondern auch, dass sich niemand von Außerhalb in die Familien schleichen konnte, der eventuell alle blamieren oder sogar ruinieren konnte, wenn etwas komplett schief lief.
Und genau wie an dem Abend war Crispin auch heute das schwarze Schaf, das die Rechnung für all die Oberflächlichkeiten bezahlen musste.
"Es tut mir leid, wie das gelaufen ist. Ich wusste nichts davon, dass sie ihre Meinung noch einmal ändern würden und dich so auflaufen lassen."
Cyrian konnte nichts dafür und doch fühlte er sich beinahe dazu verpflichtet, sich für das Ganze zu entschuldigen. Wirklich richtig fühlte es sich jedoch nicht an, auch wenn er bald ein Teil dieser Familie sein würde, denn es kam ihm so vor, als würde er diese bevorzugen und in Schutz nehmen, während er es ihnen gegenüber bei Crispin nicht schaffte. Was ein weiterer Grund dafür war, dass er ihn gerade nicht ansehen konnte und die Lippen erneut aufeinander presste.
"Wie gesagt, lass gut sein. Wir wissen beide, warum sie das getan haben. Für mich ist der Abend abgehakt."
"Ich weiß…", gab er daraufhin nur von sich, denn ihm war tatsächlich bewusst, dass sie es wegen des Verhaltens seines Bruders getan hatten, was er an dem Abend zeigte, als sie von der Verlobung erfuhren, und zudem gab es dazu auch nichts weiter zu sagen.
Stattdessen lenkte er seinen Blick wieder auf den Unbekannten, der selbst zur Seite sah, als gäbe es dort irgendetwas Interessantes zu sehen.
"Und wer ist das? Kennt ihr euch?"
Als hätte er gehofft, dass man ihn nicht ansprach oder gar bemerkte, zuckte der kleine Schwarzhaarige zusammen und sah ertappt an Crispin vorbei und zu ihm hinüber. Scheinbar wollte er nicht mehr von ihrem Gespräch mitbekommen als nötig, auch wenn dies in ihrer Lage so gut wie unmöglich war. Dennoch hielt er ihm zugute, nichts dazu zu sagen, worüber sie gesprochen hatten, denn andere hätten sich mit Sicherheit eingemischt und ihre Meinung zum Besten gegeben, obwohl sie keine Ahnung hatten, worum es eigentlich ging.
"Wer? Ich?"
"Das ist niemand. Und nein, wir kennen uns nicht", fuhr Crispin dazwischen, bevor er oder der Unbekannte noch etwas sagen konnten. "Aber mir wird das gerade alles zu blöd. Ich verschwinde. Behalt die Flasche. Ich besorg mir irgendwo was anderes."
Bei den letzten beiden Sätzen drehte sich Crispin um und blickte wieder zu der Person vor ihm. Wie bereits angekündigt überließ er ihm den Alkohol, indem er die Flasche los ließ. Anschließend trat er einen Schritt zurück und bevor Cyrian etwas tun oder sagen konnte, wandte sich der andere bereits von ihnen ab und trat den Rückzug an, indem er sich einen Weg an den Müllcontainern vorbei in Richtung der Hauptstraße suchte.
Ein Seufzen entwich ihm, als er ihm nachsah. Damit hätte er wohl früher oder später rechnen müssen und er haderte mit sich, ob er ihm nachlaufen und ihn aufhalten sollte oder nicht. Wobei sich diese Frage wohl gar nicht stellte. Weder konnte er hier einfach wortlos verschwinden, noch würde sich Crispin in seine Entscheidung, den Rest des Abends woanders zu verbringen, reinreden lassen. Doch er wollte ihn auch nicht sich selbst überlassen. Nicht in dieser Situation und schon gar nicht, wenn er tatsächlich an einer anderen Stelle die Chance hatte, hochprozentigen Alkohol aufzutreiben. Er konnte ihn einfach nicht sich selbst überlassen.
Diesem Gedanken folgend, richtete er seinen Blick wieder auf den Mann in der Lederjacke, der vollkommen irritiert zu sein und nicht so ganz zu wissen schien, wie er diese ganze Situation deuten sollte. Verdenken konnte er es ihm nicht, war er hier doch geradewegs in ein kleines Familienproblem hineingestolpert. Bei dem Anblick der Flasche in seinen Händen und der Tatsache, dass er diese Crispin allem Anschein nach abgenommen hatte, kam ihm eine Idee. Cyrian biss sich auf die Unterlippe, da er ganz genau wusste, dass es mit Sicherheit nicht das Klügste war, einen Fremden darum zu bitten, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er es tun konnte. Vielleicht war es aber auch nur seine Sorge um seinen Bruder und darum, was diesem zustoßen könnte, wenn er betrunken durch die Stadt lief, die ihn so fühlen ließ. Aber was hatte er für eine andere Wahl, da er sich gerade nicht selbst um ihn kümmern konnte, auch wenn ihn alles dazu drängte?
Einen Moment haderte er noch mit sich, bevor er alle Bedenken über den Haufen warf, zur Seite schob und die Stille durchbrach, die seit Crispins Abgang in der Gasse entstanden war.
"Auch wenn ihr euch nicht kennt…", begann er, brach kurz ab, um noch einmal kurz darüber nachzudenken, ob es wirklich das richtige war, bevor er weiter sprach. "Könnte ich dich darum bitten, ein Auge auf meinen Bruder zu haben?"
Sofort hatte er die Aufmerksamkeit des anderen, der ihn sichtlich überrascht anblickte. Einige Sekunden verstrichen, bis er den Kopf schüttelte.
"Ich denke nicht, dass ich dafür die richtige Person bin. Wie du schon sagtest, kennen wir uns nicht. Er wollte mir nicht mal seinen Namen verraten. Somit bin ich dafür sicher nicht geeignet. Außerdem… Wieso bist du so sicher, dass ich ihm nichts antun würde?"
Es war, als hätte er ihm in den Kopf geschaut und wusste daher, worüber er sich Gedanken gemacht hatte, aber vermutlich war dies auch nicht verwunderlich. Wer fragte schon einen Wildfremden, ob er auf jemanden aufpassen konnte? Vielleicht war er in diesem Punkt gerade naiv oder dumm, aber irgendetwas sagte ihm, dass sein Gegenüber nichts dergleichen vorhatte, was man einem anderen Menschen aus böser Absicht antun konnte.
"Ich muss gestehen, dass ich diese Bedenken kurzzeitig hatte, aber so wie es aussieht, wolltest du ihn davon abhalten, sich zu betrinken. Wenn du vorgehabt hättest, ihm etwas zu tun, hättest du auch warten können, bis er betrunken gewesen wäre", erwiderte er ihm und ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Damit versuchte er seine eigene Unsicherheit bezüglich seiner Entscheidung zu überspielen und ihm zu zeigen, dass er es ernst meinte. Da er jedoch noch nicht auf alles eingegangen war, fuhr er direkt fort.
"Dass er dir nicht sagen wollte, wie er heißt, ist sehr typisch. Sein Name ist Crispin. Er…"
Cyrian stockte kurz und schaute zu der Gasse, die sein Bruder kurz zuvor entlanggelaufen war, um der Situation zu entfliehen. Eine Spur Bedauern und Traurigkeit legte sich dabei in seinen Blick, als er an ihn dachte.
"Er hat es nicht wirklich leicht und ich befürchte der heutige Abend war einfach zu viel und hat eine Grenze überschritten. Daher wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du ein bisschen auf ihn aufpassen oder ihn vielleicht sogar nach Hause bringen würdest."
Seine Stimme war leiser als zuvor, aber er war sich sicher, dass der andere ihn dennoch gehört hatte, denn als er wieder zu ihm sah, hatte dieser die Augenbrauen zusammengezogen, als müsste er über seine Worte nachdenken. Beinahe rechnete er damit, er würde noch einmal ablehnen, was er nur zu gut verstehen könnte. Er kannte sie nicht, hatte mit der ganzen Situation nichts zu tun und war nicht dazu verpflichtet, auf seine Bitte einzugehen. Sie abzulehnen wäre wohl die logischste Reaktion und doch hoffte er tief in seinem Inneren, dass er sich dafür entschied.
"Ich würde es gerne selbst tun, aber ich kann hier nicht weg. Hier ist unsere Adresse", fügte er noch an und griff in die Brusttasche seines Jacketts, in dem er einige Visitenkarten aufbewahrte. In der heutigen Zeit von Smartphones und Messengerdiensten war es schwer vorstellbar, dass so etwas noch gebraucht wurde, aber gerade die ältere Generation legte noch Wert darauf und seine Eltern hatten ihn oft genug darauf hingewiesen, wie wichtig es war, sich auch mit diesen gut zu stellen. Genau aus diesem Grund trug er während solcher Anlässe immer ein paar davon bei sich, was sich gerade jetzt als positiv herausstellte.
Mit der Karte in der Hand überbrückte er die kurze Distanz und hielt sie ihm entgegen, in der Hoffnung, dass er ihn überzeugt hatte und er nicht ablehnte. Einen endlos langen Augenblick, der sich für Cyrian wirklich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, herrschte Stille zwischen ihnen, während der Kleinere die Karte in seiner Hand musterte. Beinahe befürchtete er schon, dass er sich etwas anderes einfallen lassen musste, doch als er schon alle Hoffnung aufgeben und die Hand zurückziehen wollte, seufzte der andere und nahm ihm das Visitenkärtchen ab.
"Okay, ich mach es. Aber du solltest echt nicht jeden Fremden darum bitten."
Erleichtert über die Antwort erschien ein Lächeln in seinem Gesicht. Ihm war bewusst, dass er recht hatte, aber das änderte nichts daran, dass er froh war, dass Crispin sich nicht alleine irgendwo betrinken würde.
"Weiß ich, aber danke."
Der Unbekannte schüttelte den Kopf, machte sich aber sofort daran, seinem Bruder zu folgen, damit er ihn noch einholen konnte. Cyrian hoffte, dass dieser noch nicht allzu weit gelaufen war und er ihn fand, während er ihm nachsah, bis auch er von der Dunkelheit in der Gasse komplett geschluckt wurde und er ihn dort nicht mehr ausmachen konnte.
Nun selbst einen Seufzer ausstoßend, fuhr er sich mit beiden Händen erst über das Gesicht und dann durch die Haare. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, was er seinen Eltern erzählen würde, denn die Wahrheit wollte er in diesem Fall doch lieber für sich behalten.


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Um seinem Frust über den Abend und darüber, wie dieser verlaufen war, ein Ventil zu geben, trat Crispin gegen eine leere Dose, die jemand achtlos auf den Boden geworfen hatte, anstatt sie in einen der Müllcontainer zu befördern, an denen er vorbei lief. Klappernd kam sie kurz drauf wieder auf dem Boden auf und rollte noch ein kleines Stück darüber, bevor sie liegen blieb und er die Chance nutzte, noch einmal dagegen zu treten, als er sie erreicht hatte. Seine Hände schob er dabei in die Taschen seiner Anzughose, die er gerade genauso verfluchte, wie alles andere, und sie am liebsten loswerden würde. Doch dafür müsste er nach Hause und darauf hatte er ebenso wenig Lust. Vor allem da er dort nichts finden würde, was ihn den ganzen Mist des heutigen Tages vergessen ließ, da sein Vater dafür sorgte, dass sämtlicher Alkohol gut verschlossen war. Zuhause würde er also auch nur nüchtern vor sich hin fluchen können, was das alles nicht angenehmer machte und ihm seinen Wunsch, das alles am liebsten zu vergessen, nicht erfüllte.
"Ist doch alles scheiße…", murrte er und trat wieder gegen die Getränkedose. Dieses Mal jedoch so kräftig, dass sie auf der Straße landete, wo sie vom nächsten Fahrzeug, das vorbei kam, platt gefahren wurde und ihm ein weiteres fluchendes Grummeln entlockte. Dass alles scheiße war, traf es somit nicht einmal ansatzweise, da ihm nun auch diese kurzweilige Beschäftigung abhanden gekommen war. Crispin verfluchte allerdings nicht nur seine und Élodys Familie, sondern irgendwo auch sich selbst. Er hätte einfach niemals zustimmen dürfen, das Stück für seinen Bruder und dessen Verlobte zu spielen - der Wunsch Cyrian eine Freude zu bereiten hin oder her. Wie das ablaufen würde, hätte er sich früher denken können, schließlich wusste er doch, was die Eltern seiner zukünftigen Schwägerin von ihm hielten. Dabei versuchte er sich, so gut es ging, anzupassen und trotzdem war es für niemanden gut genug. Scheinbar nicht mal für seine eigenen Eltern, die zwar vorgaben, ihn zu unterstützen, indem sie ihn zu solchen Anlässen spielen ließen, aber wenn er genau darüber nachdachte, war diese Unterstützung genauso geheuchelt wie alles andere, denn stünden sie tatsächlich hinter ihm, wäre es an diesem Abend vermutlich niemals zu dieser Situation gekommen, dass man ihn derart auflaufen ließ. Eine leise Stimme in ihm flüsterte ihm zu, dass sie es vorher wussten und ihn darauf hätten vorbereiten können. Das hätte zwar nichts daran geändert, dass es ihn verletzt hätte und er enttäuscht darüber gewesen wäre, aber man hätte ihn nicht vor versammelter Mannschaft bloßgestellt.
So über seine eigenen Eltern zu denken, schmerzte zutiefst, aber was sollte er anderes tun, wenn sie sich nicht für ihn einsetzten? Nicht einmal dann, als es ihm verkündet wurde, hatten sie ihm zur Seite gestanden. Der einzige, der sich darum gesorgt hatte, wie es ihm ging, war Cyrian. Wieder einmal und so wie es im Grunde immer war. Wieso nur machte er das alles also weiter brav mit, schluckte seine Proteste und seinen Widerwillen herunter, obwohl es ihm immer schwerer fiel, den folgsamen Sohn zu spielen?
Augenblicklich grub er seine Zähne in seine Unterlippe und kaute darauf herum. Er wusste ganz genau, warum er das tat: Weil ihm nichts anderes übrig blieb und er andernfalls alles verlieren würde. So sehr ihn das alles auch nervte und er am liebsten ausbrechen würde, er hatte keine andere Wahl, als einfach weiterzumachen, denn die geheuchelte Aufmerksamkeit und Liebe seiner Eltern war immer noch besser, als die offene Ablehnung, die er zu spüren bekommen hatte, als er noch jünger war und bevor er seinen eigenen Weg für das Klavier spielen gefunden hatte.
Ein stechender Schmerz zog sich durch seine Brust, als er daran zurückdachte, und er schloss für einen Moment die Augen, während er stehen blieb und den Druck auf seine Unterlippe noch erhöhte, bis er spürte, dass er es übertrieb, da sie aufriss und er den metallischen Geschmack des Blutes im Mund hatte.
"Ach, verdammt…", murmelte und trauerte der Wodkaflasche hinterher, die er dem Unbekannten in der Gasse überlassen hatte. Er hätte sie doch mitnehmen sollen. Irgendwas wäre ihm sicher eingefallen, um sie wieder an sich zu bringen. Doch leider war in dem Moment seiner Flucht, das Gefühl, aus dieser Situation heraus zu müssen, sehr viel stärker, als sein Bedürfnis nach dem Alkohol und nun musste er zusehen, wo er etwas Neues herbekam.
Sein Blick glitt die Straße entlang, wanderte über die kleinen exquisiten Geschäfte, die sich in diesem Stadtteil befanden und die Menschen, die nicht wussten, wohin mit all ihrem Geld, dazu verführten, es für völlig überteuerte und unnötige Sachen auszugeben. Er hatte noch nie wirklich viel davon gehalten, aber heute kamen ihm diese Läden vielleicht zugute, als er einen für Spirituosen aus aller Welt entdeckte. Dass diese womöglich ebenfalls übertrieben viel kosteten, war ihm vollkommen egal, denn erstens hatte inzwischen ohnehin alles geschlossen und selbst wenn nicht, hätte er ohnehin nicht vorgehabt zu bezahlen. Auf diese Weise ein wenig zu rebellieren, fühlte sich dafür viel zu verlockend an, auch wenn es wohl keiner außer dem Besitzer merken würde, wenn er es richtig anstellte. Erfahrung hatte er darin nicht, aber Übung machte den Meister, oder etwa nicht?
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sah er sich um, damit er gefahrlos über die Straße kam, da sich das Geschäft auf der anderen Seite befand, doch bevor er auch nur einen Fuß auf die Fahrbahn setzen konnte, wurde er davon abgehalten, als er plötzlich diese bereits viel zu vertraut klingende tiefe Stimme seinen Namen rufen hörte.
"Crispin? Warte mal."
Verwirrt darüber, wieso der Schwarzhaarige mit der Lederjacke wusste, wie er hieß, hielt er mitten in der Bewegung inne und drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war und aus der ihm der andere gerade entgegenkam.
"Woher…?", setzte er an, als er bei ihm war und wollte ihn schon wegen der Sache mit seinem Namen fragen, als ihm auch schon dämmerte, woher der Wind wehte. Ein Seufzen entwich ihm daraufhin. "Schon klar, mein Bruder… Was willst du?! Hat er dich beauftragt, meinen Bodyguard zu spielen?!"
Jemand anderen konnte er sich nicht vorstellen und es würde Cyrian ähnlich sehen. Crispin verstand, dass er ihm, anders als sonst, nicht nachlaufen konnte, und er wusste auch nicht, ob er das heute überhaupt wollen würde.
Sein Gegenüber zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen nach oben, das ihm zusätzlich zeigte, dass er richtig lag, auch wenn er weder diese noch die darauf folgende verbale Bestätigung gebraucht hätte.
"So in der Art."
Crispin schnaubte, auch wenn er es bereits wusste, denn nur weil er damit wohl hätte rechnen müssen, dass ihn sein Bruder nicht alleine wissen wollte, hieß das nicht, dass es ihm gefiel. Er war immerhin kein kleines Kind mehr.
"Spar es dir! Ich brauch keinen-", wollte er schon protestieren, als ihm mit einem Mal die Flasche mit dem Wodka entgegengehalten wurde.
"Ja, ja, schon klar, du brauchst keinen Bodyguard", beendete er schulterzuckend seinen Satz. "Hier, die kriegst du wieder. Aber dafür bringe ich dich nach Hause."
Überrumpelt und sprachlos sah er ihn an, wusste weder, was er sagen noch tun sollte, da die Situation anders verlief, als er gedacht hätte. Meinte er das wirklich ernst? Seine Augen huschten zwischen der Flasche und dem Gesicht des anderen hin und her, auf der Suche nach einem Hinweis, dass er gerade verarscht wurde. Doch die Flasche wurde weiter in seine Richtung gehalten, damit er sie an sich nahm, und auch sonst konnte er nichts entdecken, was darauf schließen ließ, dass er in eine Falle lief. Dennoch haderte Crispin ein wenig, rang mit sich, ob er es tun sollte, und griff dann zögerlich nach dem Wodka, um ihn an sich zu nehmen.
"Von mir aus. Hauptsache der Abend ist bald vorbei. Aber da du jetzt weißt, wie ich heiße, wäre es nur gerecht, wenn ich es bei dir auch wüsste."
Vielleicht war es eine dumme Idee, darauf einzugehen, und er würde es später bereuen. Zu einhundert Prozent konnte er das aber nicht sagen und im Moment war es ihm auch egal, solange er den Rest des Tages nicht nüchtern verbringen musste und seinen Kopf und seine Gedanken mit dem Alkohol in seinem Blut betäuben konnte.
Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf den Lippen seines Gegenüber, als hätte er eher damit gerechnet, dass er ablehnen würde, und eventuell wäre es auch vernünftiger gewesen, aber er wollte nicht vernünftig sein. Nicht an diesem Abend.
"Mein Name ist August. Na dann, Crispin, lass uns losgehen. Du wohnst immerhin nicht gerade um die Ecke."

Crispin Cipriano

Die offensichtliche Änderung in seinem Verhalten, die seine Mutter erwähnte, begann mit dieser Begegnung. Unter anderen Umständen wäre Crispin wohl niemals bereit gewesen, sich von einem Fremden nach Hause bringen zu lassen, doch an diesem Abend warf er alle Bedenken über den Haufen. Vermutlich spielte vieles in diese Entscheidung hinein und ohne auch nur einen dieser Punkte hätte er ganz anders reagiert. Angefangen bei der Tatsache, dass sein eigener Bruder August darum gebeten hatte, ein Auge auf ihn zu haben, damit er nicht in Schwierigkeiten geriet und der Schwarzhaarige tatsächlich darauf eingegangen war. Weiter damit, dass dieser ihm seinen Wodka zurückgab und er sich somit nichts anderes besorgen musste, was ihm einiges an Aufwand ersparte und nicht zuletzt, weil er sich den Ausgang der Feier ganz anders vorgestellt hatte, als sie schlussendlich für ihn verlaufen war. Die Änderung des Klavierstücks durch Élodys Familie und der fehlende Rückhalt in dieser Situation durch seine eigenen Eltern, sodass er vor allen anderen Anwesenden regelrecht bloßgestellt wurde, hatte einfach eine Grenze bei ihm übertreten. In zerrissener Kleidung, die er weit angenehmer als die lästigen Anzüge fand, auf der Verlobungsfeier zu erscheinen, hätte wohl nicht minder Aufmerksamkeit erregt, wäre aber definitiv weniger peinlich für ihn gewesen. Ganz im Gegenteil. Er hätte die versnobte Oberschicht eindrucksvoll vorgeführt und gezeigt, wie oberflächlich sie doch alle waren, weil sie von der Kleidung auf den Charakter schlossen.
Wäre er genau so ein arroganter Snob wie sie, hätte er August in dem Hinterhof keines weiteren Blickes gewürdigt und wäre auch nicht auf dessen Angebot eingegangen. Im Nachhinein betrachtet, wäre ihm dadurch einiges entgangen, denn an diesem Abend blieb es nicht dabei, dass er ihn nur nach Hause brachte. Nachdem sie am Haus seiner Familie ankamen, saßen sie noch eine gefühlte Ewigkeit auf den Stufen vor dem Eingang und hatten sich über Gott und die Welt unterhalten, bis das Auto seiner Eltern ankündigte, dass der andere besser verschwand. Und obwohl er vorgehabt hatte, sich nur noch dem Alkohol hinzugeben, um für eine begrenzte Zeit alles zu vergessen, genoss er das Gespräch mit dem Älteren ungemein, sodass er beinahe bereute, völlig vergessen zu haben, ihn nach seiner Nummer oder zumindest nach seiner Adresse zu fragen, um in Kontakt zu bleiben.
Zu seinem Glück war dieses Aufeinandertreffen mit August nicht das einzige, denn es dauerte nicht lange, bis dieser sich eines nachts ganz klischeehaft unter seinem Fenster blicken ließ und ihn dazu überredete, sich rauszuschleichen und somit seinem Gefängnis zumindest für kurze Zeit zu entkommen. Es klang verlockend. Zu verlockend für Crispin, um nicht darauf einzugehen und diesem Treffen folgten viele weitere. Der andere zeigte ihm, wie er das Brechen von Regeln mit etwas angenehmen verband und gab ihm gleichzeitig das Gefühl, akzeptiert zu werden, ohne dass er ihm etwas vorspielen musste, was er überhaupt nicht war.
Allerdings endete das alles vor einer Woche, nachdem er einfach für ein Wochenende in die Berge entführt wurde, weil August anschließend für einige Tage beruflich unterwegs war. Die Sache mit dem Kammerjäger hatte er ihm nie abgekauft, doch der andere beharrte darauf, genau das zu tun. Im Grunde war es ihm aber auch egal, als was er arbeitete, denn im Gegensatz zu den anderen, mit denen er sonst zwangsweise zu tun hatte, machte es für ihn keinen Unterschied, ob jemand seinen Lebensunterhalt als Schichtarbeiter in einer Fabrik verdiente oder es sich in der Chefetage eines erfolgreichen Unternehmens gemütlich machte. Wobei er ersteres rein aus menschlicher Sicht vermutlich doch bevorzugen würde, weil ein einfacher Arbeitnehmer nicht so abgehoben wäre wie der Vorstand einer Firma.
Daher fragte er irgendwann auch nicht weiter, auch wenn es ihn durchaus neugierig machte und interessierte, aber wenn August nicht darüber reden wollte, musste er das wohl oder übel akzeptieren und schlussendlich wollte er sich wegen einer solchen Belanglosigkeit, die für ihn keine tragende Rolle spielte, auch nicht die gemeinsame Zeit mit ihm kaputt machen, die er jedes Mal aufs Neue in vollen Zügen genoss. Dies war auch der Grund, warum er nicht lange überlegen musste, als ihn der andere zu einem gemeinsamen Wochenende einlud, bevor er einwilligte.
Der einzige, der etwas von diesem Ausflug wusste, war sein Bruder und auch wenn dieser anfangs strikt dagegen war, das für sich zu behalten, willigte er irgendwann doch ein, als ihm klar wurde, dass Crispin diese Auszeit brauchte. Die Konsequenzen, die aus Hausarrest und Taschengeldentzug bestanden, nahm er dafür gerne in Kauf. Die gestrichene monatliche finanzielle Zuwendung seiner Eltern machte ihm nichts aus, da er noch mehr als genug davon besaß, um nicht gleich auf dem Trockenen zu sitzen. Und der Hausarrest? Den ertrug er gezwungenermaßen und hielt sich nur daran, weil August keine Zeit für ihn hatte.
Bei diesem Gedanken angelte Crispin sein Handy aus der Hosentasche, um nach dem Datum zu schauen. Erleichtert stellte er fest, dass er den katastrophalen Abend selbst ohne Alkohol noch weit angenehmer gestalten konnte, als er bisher verlaufen war. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er an die Möglichkeit dachte, zu August zu verschwinden und Zeit mit ihm zu verbringen. Bisher hatte er immer darauf gewartet, dass dieser bei ihm auftauchte, denn obwohl er wusste, wo er wohnte, hatte er bis jetzt doch vermieden zu ihm zu gehen. Wenn es nach seiner Mutter ging, erkannte man anhand der Wohnsituation einer Person, deren gesellschaftlichen Stand und die finanzielle Situation. Beides war ihm egal und doch versuchte er ihre Treffen in dieser Hinsicht so neutral wie möglich zu halten.
Ein Klopfen an der Tür in seinem Rücken erinnerte ihn daran, dass er seine Mutter einfach auf der Treppe hatte stehen lassen und das obwohl er wusste, wie sehr sie das hasste, woran sie ihn auch im nächsten Moment erneut erinnerte.
"Wir waren noch nicht fertig mit unserem Gespräch und ich dulde ein solches Verhalten von dir nicht. Du wirst dich sowohl bei Marielle als auch ihren Eltern morgen so höflich wie möglich entschuldigen. Mir ist egal, ob das an deinem Ego kratzt und du deinen Stolz dafür herunterschlucken musst - Du wirst es tun! Haben wir uns da verstanden? Ich lasse nicht zu, dass du die harte Arbeit von deinem Vater und mir kaputt machst, nur weil du offenbar der Meinung bist, jetzt deine Trotzphase auszuleben."
Crispin ballte die Hände zu Fäusten und presste seine Kiefer aufeinander, bis sie begannen zu schmerzen, während er das Gezeter seiner Mutter über sich ergehen ließ. Offensichtlich hatte sie inzwischen gemerkt, dass er rebellierte, nur die Gründe dafür schien sie nicht einmal ansatzweise zu begreifen. Es war weder sein Ego noch eine jugendliche Trotzphase, die ihn sich dagegen sträuben ließ, eine Entschuldigung auszusprechen. Wofür auch? Er hatte lediglich die Wahrheit und seine Meinung gesagt. Diese war nicht in hübsche und einschleimende Worte verpackt, die das Ganze abmildern sollten, denn er hielt nichts davon, durch die Blume zu reden, nur weil sein Gegenüber die Wahrheit anders nicht vertrug. Wer damit und mit seiner Art nicht klar kam, hatte Pech. Nur weil einige ein zartes Gemüt hatten, würde er sich nicht ändern. Nicht mehr. Er hatte sich viel zu lange in eine Form pressen lassen.
Die Ansprache seiner Mutter brachte ihn allerdings dazu, seine Idee, noch zu August zu gehen, wirklich in die Tat umzusetzen, da er dringend Abstand und Ablenkung von all dem brauchte.
"Crispin, antworte mir gefälligst!", hörte er sie ein weiteres Mal durch die Tür, was seinen Entschluss nur noch festigte.
"Ich geh' schlafen."
Mehr sagte er zu dem Ganzen nicht, denn genau wie kurz zuvor an der Treppe hatte er keine Lust, weiter darüber zu diskutieren. Er würde ihrem Willen nach einer Entschuldigung nicht nachkommen und es war ihm auch herzlich egal, was Marielle und deren Familie nun von ihm hielten. Er hatte sich bereits bei Cyrians zukünftigen Schwiegereltern unbeliebt gemacht, da spielte es keine große Rolle, ob er das auch noch bei einer weiteren tat. Vor allem da eine Hochzeit mit diesem Barbiepüppchen nicht in Frage kam. Somit wäre es für ihn auch ein Vorteil, wenn sie aufgrund seines Verhaltens die Verlobung platzen ließen.
"Gut, aber wir reden morgen beim Frühstück noch einmal darüber", war alles, was er noch zu hören bekam, bevor ihre Schritte, die sich entfernten und dabei immer leiser wurden, ankündigten, dass sie ihn nun endlich in Ruhe ließ. Zumindest bis zum nächsten Tag. Dennoch blieb er noch einen Moment gegen die Tür gelehnt stehen, um wirklich sicher sein zu können, dass sie nicht noch einmal zurückkam. Als dies auch einige Minuten später nicht geschah, griff er neben sich nach dem Schlüssel, der im Türschloss steckte und drehte diesen, um abzuschließen und zu verhindern, dass jemand ungefragt in sein Zimmer kam. Anschließend ließ er den kleinen Gegenstand in seiner Hosentasche verschwinden und stieß sich ab, um hinüber zum Fenster zu laufen. Dieses schob er auf und steckte den Kopf heraus, um zu sehen, ob die Luft rein war, da er nicht Gefahr laufen wollte, dass einer der Nachbarn mitbekam, was er hier tat, und es seinen Eltern steckte. Nach dem Wochenendausflug könnte er sich sonst auf eine Strafpredigt gefasst machen, die sich gewaschen hatte - inklusive einer entsprechenden Strafe. Da sein Zimmer jedoch nicht zur Hauptstraße hinausging, sondern zum gepflegten Hinterhof und dadurch nichts zu sehen war, setzte er sich erst auf das Fensterbrett und hangelte sich dann zu dem Rankgitter, das sich nah genug an seinem Fenster befand und bis zum Boden reichte, um daran hinunterzuklettern und sich auf den Weg zum angenehmen Teil des Abends zu machen.

Die Fahrt mit der U-Bahn bis zu der Station, an der er schlussendlich aussteigen musste, war die Hölle, da er dummerweise seine Kopfhörer zuhause hatte liegen lassen und es ihm somit nicht möglich war, seine Umwelt mit Hilfe von Musik auszublenden. Dies führte dazu, dass ihm eine ältere kleine Frau darüber vorschwärmte, wie schön sie es doch fand, einen hübschen jungen Mann wie ihn in einem Anzug zu sehen, da er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich vor seiner Flucht noch umzuziehen. Zusätzlich bedauerte sie, dass die meisten seines Alters eher in viel zu weiten Sachen herumliefen und nur Unsinn machten. Wenn sie wüsste, ging es ihm durch den Kopf, bis es ihm zuviel wurde und er ihr unmissverständlich klar machte, wie sehr er diese Verkleidung eigentlich hasste und ebenfalls viel lieber in zu weiter und zerrissener Kleidung herumlaufen würde, anstatt sich in einen maßgeschneiderten Anzug zu zwängen. Das empörte Gesicht der Frau hellte seine Stimmung allerdings nicht einmal ansatzweise auf. Dafür war seine Laune zu sehr im Keller und er hatte das Gefühl, dass an diesem Abend auch nur noch einer etwas daran ändern konnte.

Trotz der Gewissheit, dass August von seinem beruflichen Auftrag wieder zurück sein müsste, und seiner Entschlossenheit, ihm einen Besuch abzustatten, blieb Crispin einen Moment vor dem kleinen Stadthaus stehen, das sich unweit der U-Bahnstation befand, sodass der Fußweg von dort nicht zu weit ausfiel. Er haderte mit sich und leise Zweifel regten sich in ihm, ob der andere überhaupt wollte, dass er hier auftauchte. Zwar hatte dieser ihm seine Adresse genannt, doch das war, bevor er ihm mitgeteilt hatte, dass er ihn nicht besuchen würde und ihm auch erklärte, warum er diese Entscheidung getroffen hatte. Würde er sich also darüber freuen, wenn er diese nun änderte und bei ihm klingelte?
Unsicher biss er sich auf die Unterlippe. Jetzt wieder nach Hause zu fahren, lag nicht in seinem Interesse und ein großer Teil von ihm sehnte sich danach, den Schwarzhaarigen wiederzusehen. So ganz konnte er sich nicht erklären, warum dem so war, aber er fühlte sich wohl, wenn er in seiner Nähe war. Er musste sich bei ihm nicht verbiegen, keine Vorsicht bei seinen Worten walten lassen, um niemanden damit auf die Füße zu treten - vor allem da er davon absolut nichts hielt. Stattdessen konnte er seine Meinung und seine Gedanken ungefiltert aussprechen. Etwas, das sonst beinahe unmöglich war, wenn er nicht ständig den Zorn seiner Mutter auf sich ziehen wollte. Der einzige andere, bei dem er dies tun konnte, war Cyrian, der ihn dafür genauso wenig verurteilte wie August und doch zog es ihn gerade eher zu Letzterem als zu seinem Bruder.
Daher schob er auch alle Bedenken beiseite und lief die Treppe immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend hinauf. Vor der Haustür angekommen drückte er auf die Klingel und wartete. In der Zwischenzeit warf er einen prüfenden Blick über die Schulter. Er befand sich noch immer in einem Stadtviertel, in dem es gut möglich war, dass ihn Bekannte seiner Familie zu sehen bekamen. Von dem Ärger, den er sich damit einhandeln könnte, einmal abgesehen, wollte er niemanden dieser oberflächlichen Gestalten sehen. Nicht heute Abend und am liebsten nie wieder, aber da dies nicht ging, wollte er zumindest sicher gehen, dass es für den heutigen Tag zutraf.
Während er mit den Augen die Straße nach bekannten Gesichtern absuchte, hörte er mit einem Mal eine erstaunte, aber doch sehr vertraute Stimme, die sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
"Cris?"
Crispin unterbrach seine Suche und sah zurück zur Tür, in der August stand und ihn perplex ansah. Damit, dass er erstaunt war, hatte er schon gerechnet. Wenn jemand einen Besuch aus welchem Grund auch immer von vornherein ausschloss, ging man sicher nicht davon aus, dass besagte Person plötzlich bei einem auf der Matte stand.
"Wieso-"
"Kann ich reinkommen?", fuhr er ihm ins Wort, bevor dieser seine Frage vollständig formulieren konnte. Vermutlich wollte er eh nur wissen, warum er plötzlich hier war, aber das wollte er nicht vor der Haustür besprechen, wo jeder Passant etwas davon mitbekommen konnte. August schien sich dadurch allerdings kurz fangen zu müssen, denn es dauerte einen Augenblick, bis er reagierte und zur Seite trat.
"Ja, natürlich. Komm rein."
Erleichtert, keine Zurückweisung erhalten zu haben, wie ein Teil von ihm gefürchtet hatte, trat er über die Schwelle und die Anspannung, die er bis eben nicht einmal bewusst wahrgenommen hatte, wich aus seinem Körper. Nachdem August die Tür hinter ihm wieder geschlossen hatte, folgte er ihm ins Wohnzimmer. Seine Schuhe auszuziehen, ersparte er sich, auch wenn es höflich und normal gewesen wäre. Stattdessen sah er sich sowohl in dem kleinen Flur als auch in dem Raum um und bereute beinahe, nicht schon eher einmal hierher gekommen zu sein, als er das Klavier neben dem Fenster entdeckte. Er hatte bisher nicht einmal gewusst, dass der Schwarzhaarige eins besaß, obwohl er bereits am ersten Abend erwähnt hatte, dass er selbst spielte, nachdem sich Crispin im bereits leicht angetrunkenen Zustand über die Situation auf der Verlobungsfeier ausgelassen hatte.
Schon damals hatte diese Erkenntnis das Bedürfnis in ihm geweckt, den anderen einmal spielen zu hören, doch da sie sich seitdem nie irgendwo getroffen hatten, wo dies möglich gewesen wäre, war er bislang nicht in den Genuss gekommen. Vielleicht änderte sich dies aber in den nächsten Stunden…
"Bist du wieder von einem Termin mit deiner Familie abgehauen?", wurde er aus seinen Überlegungen geholt und sein Blick ging erst zu August, der ihn kurz musterte und anschließend zu der offenen Küche lief, die direkt am Wohnzimmer anschloss und lediglich durch eine kleine Theke mit Barhockern abgegrenzt wurde, bevor er an sich hinabsah. Ein frustriertes Seufzen entwich ihm und er machte es sich auf dem Sofa bequem, das genauso gemütlich aussah, wie der Rest, des Hauses, den er bisher gesehen hatte. Es war einfach etwas ganz anderes zu seinem Zuhause, das eher einer dieser Katalogeinrichtungen Konkurrenz machte, bei deren Anblick man sich fragte, ob dort überhaupt jemand wohnte oder es nur dem Vorzeigen des eigenen Vermögens diente. Daher legte er auch seine Beine hoch, um es sich noch ein wenig bequemer zu machen - ungeachtet dessen, dass er noch immer seine Schuhe trug und den Sofastoff eventuell dreckig machte.
"Schön wäre es, aber das ging leider nicht. Wobei es wohl besser gewesen wäre, direkt von dort zu verschwinden, anstatt erst, als wir wieder zu Hause waren…"
Neugierig beobachtete Crispin vom Sofa aus, was August in der Küche veranstaltete, als er bemerkte, dass dieser dort herumkramte und offensichtlich etwas suchte. Viel konnte er aufgrund seiner eher liegenden Position nicht erkennen, aber er wollte sich auch nicht aufsetzen. Vermutlich würde er auch dann nicht viel mehr sehen, da der andere ihm den Rücken zugewandt hatte und mit seinem Körper komplett verdeckte, was er tat. Die Geräusche, die zu hören waren, ließen allerdings darauf schließen, dass er etwas zu Trinken organisierte, was ihm trotz des mehr als nur mies gelaufenen Abends ein schwaches Lächeln auf die Lippen zauberte, weil er es genau so von ihm kannte und - wenn er ganz ehrlich war - auch jedes Mal aufs Neue genoss. Es war einfach etwas anderes, ob man von Hausangestellten mit solchen beinahe banalen Dingen versorgt wurde, die es taten, weil es zu ihrem Job gehörte und sie damit ihr Geld verdienten oder aus Fürsorge um einen anderen.
Was ihm August allerdings nur wenige Augenblicke später brachte und auf den Tisch vor ihm stellte, erstaunte ihn dann doch. Er hatte damit gerechnet, eine Cola oder etwas ähnliches zu bekommen, aber nicht mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die sich in dem Glas befand und bei der er sich sicher war, dass es sich dabei um Whisky handelte.
"Du gibst mir freiwillig harten Alkohol?", fragte er daher nach, um wirklich sicher zu gehen, dass er sich nicht irrte und es am Ende doch etwas vollkommen anderes war, was er nur nicht zuordnen konnte. Bevor er allerdings eine Antwort erhielt, griff der Schwarzhaarige nach seinen Beinen und schob sie mit Bestimmtheit von seinem Sofa, was ihm ein leises Grummeln entlockte. Nicht einmal bequem kann man es sich machen, ging es ihm durch den Kopf, auch wenn er durchaus wusste, dass es sich nicht gehörte, mit Straßenschuhen auf der Couch zu liegen. Um keine Diskussion vom Zaun zu brechen, beließ er es jedoch bei seiner Reaktion und setzte sich stattdessen richtig hin, sodass August neben ihm Platz hatte, der dies auch sofort nutzte.
"Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen. Aber mehr als das bekommst du nicht", bekam er als Antwort zu hören und auch wenn er damit seine Bestätigung hatte, dass es sich bei dem Inhalt des Glases tatsächlich um Whisky handelte, hätte er mit dem zweiten Satz wohl rechnen müssen, denn auch wenn sie sich noch nicht sehr lange kannten, so wusste er doch, dass August es nicht gerne sah, wenn er sich betrank.
"Spielverderber…", ließ er sich daher nicht nehmen, leise murrend zu erwidern, während sein Blick von dem Getränk auf dem Tisch zu ihm wanderte und musternd über ihn glitt. Anders als sonst wirkte er ziemlich ausgelaugt, als hätte seine Arbeit mehr geschlaucht als gewöhnlich. "Außerdem siehst du nicht besser aus. War der Auftrag so schwer?"
Auch wenn er dem anderen nicht glaubte, dass dieser als Kammerjäger arbeitete - und so fertig wie er aussah, schon gleich gar nicht - fragte er danach, denn irgendwie hatte er die Hoffnung, dass sich August doch irgendwann einmal verplapperte und er seinen wahren Beruf herausfand. An sich war es ihm egal, womit er sein Geld verdiente, und somit sollte man meinen, dass er es auch einfach so hinnehmen könnte, doch die Neugier war stärker und im Grunde war der Schwarzhaarige selbst schuld. Es war so offensichtlich, dass er log und das machte es nur interessanter für ihn, die Wahrheit herauszufinden.
Jedoch tat ihm August den Gefallen nicht und seine Antwort blieb eher schwammig als tatsächlich etwas zu verraten.
"Hm?", gab er nur von sich und sah überrascht zu ihm, als wäre er kurzzeitig gar nicht richtig anwesend gewesen. Doch der Moment dauerte nicht lange, bis er sich wieder fing und leicht das Gesicht verzog. "Relativ. Es war… eine ziemliche Plage, sonst nichts. Du bist aber sicher nicht hier, um mich nach meiner Arbeit zu fragen. Erzählst du mir also, was passiert ist, dass du hier überraschend auftauchst?"
Der kurze Augenblick, in dem der andere mitten im Satz gezögert hatte, war Crispin nicht entgangen, doch wirklich darauf eingehen konnte er nicht, denn durch die Frage des Schwarzhaarigen wurde seine Konzentration wieder sehr deutlich auf den Grund seines Erscheinens gelenkt, den er jetzt, wo er hier war, am liebsten einfach vergessen hätte. So einfach machte es ihm August aber natürlich nicht und wenn er spät abends bei ihm vor der Tür stand, obwohl er von Anfang an gesagt hatte, dass dies nicht passieren würde, hatte er wohl jedes Recht darauf, ihn danach zu fragen. Daher war es nun an ihm, das Gesicht zu verziehen.
Um ein wenig Zeit zu schinden, weil er noch nicht ganz wusste, wie er das Thema anschneiden sollte, beugte er sich nach vorn und in Richtung seines Glases, das er an sich nahm und einen großen Schluck daraus nahm. Ein Fehler, wie sich nicht einmal Sekunden später herausstellte. Die Flüssigkeit brannte in seinem Hals und er schüttelte sich leicht, da der hohe Alkoholgehalt für seinen Körper doch ein wenig unerwartet kam. Diese Reaktion gab ihm noch einen weiteren Moment, in dem er sich Gedanken über seine Worte machen konnte. Als dies jedoch nicht dabei half, entschied er sich, es einfach frei heraus und ohne einen ganzen Blumenstrauß drum herum zu sagen. Um den heißen Brei herumzureden lag ihm ohnehin nicht und er hielt auch nichts davon.
"Das war der wohl beschissenste Abend, den ich jemals erlebt hab. Den übertrifft selbst Cyrians Verlobung nicht und die verlief schon miserabel…", begann er mit einem Blick in die Richtung des anderen, der sich mit Sicherheit auch noch sehr gut daran erinnerte - und das nicht nur, weil es erst wenige Wochen her war. Als er daran dachte, dass die beiden Abende aber zumindest dasselbe Thema hatten, seufzte er frustriert und fuhr sich mit seiner freien Hand durch die Haare, während er sich wieder mit dem Rücken in die Sofapolster sinken ließ.
"Mir wurde heute mitgeteilt, wen ich heiraten soll, sobald ich achtzehn bin…"
Stille legte sich über sie. Es handelte sich dabei allerdings nicht um die angenehme Sorte. Die Art Schweigen, die sich nicht unangenehm anfühlte, weil man sich auch ohne Worte verstand oder beide Seiten diese Zeit der Ruhe einfach nur genossen. Nein, diese war kalt und lastete schwer auf den Schultern und dem Gemüt, sodass es schon nach nur ein paar Sekunden begann, ungemütlich zu werden, bis sie nach mehreren Minuten beinahe ins Unerträgliche ging. Mit jeder Sekunde, die ab diesem Punkt verging, wurde Crispin immer unruhiger und nervöser. August hatte noch kein Wort zu dem Ganzen gesagt und es war schwer für ihn, zu deuten, was in dem anderen vorging. Im ersten Augenblick wirkte er, als wäre der Schwarzhaarige überrascht, sodass er vermutete, dass er einfach nicht so ganz wusste, was er sagen sollte.
Nachempfinden konnte er das gut, denn auch er hatte einen entsetzlich langen Moment gebraucht, bis er begriff, was ihm da genau während des Abendessens eröffnet wurde. Dabei hätte er früher oder später damit rechnen müssen, da er ganz genau wusste, dass seine Eltern in solchen Dingen gerne die Entscheidungsgewalt hatten, um die Kontrolle zu behalten. Sie mochten keine Überraschungen und es sollte am besten immer nach ihrer Nase gehen, damit das saubere Image der Familie keinen Schaden nahm. Und wenn etwas doch einmal nicht nach Plan lief - so wie es bei seiner Unfähigkeit des Noten lesens war - wurde sich etwas Neues überlegt, um das Ganze zu vertuschen. In seinem Fall hieß das, dass er dennoch die Noten beim öffentlichen Spielen vor sich liegen haben musste, obwohl er mit ihnen nichts anfangen konnte. Nur damit keiner Verdacht bezüglich seines Makels schöpfte.
Wie sie reagieren und was sie tun würden, wenn sie herausfänden, dass er sich weder aus Marielle noch aus anderen Frauen etwas machte, konnte er sich daher nur lebhaft vorstellen. Mit Sicherheit würden sie dennoch versuchen, ihn in eine heterosexuelle Ehe zu zwingen und ihnen wäre dabei vollkommen egal, ob er darunter litt oder nicht. Hauptsache die gute Außenwirkung blieb erhalten.
Genau dies war auch ein Grund, warum er hier war: Weil er das im Gegensatz zu Cyrian alles nicht mitmachen wollte und sich ein wenig Rückendeckung von August erhoffte, der von solchen Praktiken genauso wenig hielt wie er. Natürlich würde er sich freuen, wenn auch sein Bruder hinter ihm stehen würde, wenn es hart auf hart kam und er sich im schlimmsten Fall gegen seine Eltern stellte, aber er wusste auch, wie schwer es diesem fiel. Noch zu genau war ihnen beiden vor Augen, was passiert war, als er nicht mehr in die Form passte, welche die beiden für sie vorgesehen hatten und auch wenn sie sich so ähnlich sahen, dass es Leute gab, die sie verwechselten, waren sie doch sehr unterschiedlich und obwohl er sich mitunter wünschte, dass ihn auch seine andere wichtigste Bezugsperson vor ihrer Familie verteidigte, so konnte er es Cyrian doch nicht allzu übel nehmen, dass er es nicht tat, da er selbst so lange die Füße still gehalten hatte.
"Und wie hast du darauf reagiert?", ließ August nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er wie auf heißen Kohlen saß, endlich etwas von sich hören und Crispin fiel ein Stein vom Herzen, dass er ihn nicht länger zappeln ließ. Es war nicht die Reaktion, die er sich erhofft hatte, aber nur weil sie noch nicht kam, hieß das nicht, dass sich das nicht noch ändern könnte, sodass er sich keine Sorgen machte. Zur Beantwortung der Frage entfuhr ihm zunächst ein abfälliges Schnauben, was alleine wohl schon sehr viel darüber aussagte, was er von dem Ganzen hielt, selbst wenn man es vorher noch nicht wusste.
"Na wie schon?! Ich hab klar und deutlich gesagt, dass ich diese arrogante und aufgetakelte Pute nicht heiraten werde. Das einzige, worauf es meine Eltern vermutlich mal wieder abgesehen haben, ist eine gute Partie für ihre Firma, aber das können sie sowas von vergessen. Genauso, dass ich mich morgen dafür entschuldige, sie vor ihren Eltern blamiert zu haben."
August zog einen Mundwinkel nach oben - eine Geste, die er schon so gut kannte und er wusste auch ganz genau, worauf sich diese bezog. Seit sie sich kannten, hatte er nie ein Blatt vor den Mund genommen und ausgesprochen, was er dachte. Es war eine Erfahrung, für die er dem anderen äußerst dankbar war, da Ehrlichkeit und unverblümte Worte in der Oberschicht in der Regel nicht besonders gut ankamen. Dort sprach man lieber hinter dem Rücken schlecht über einen anderen, während man ihm vorne herum Honig ums Maul schmierte.
Das schiefe Grinsen des Schwarzhaarigen war jedoch schneller wieder verschwunden, als er schauen konnte und gemeinsam mit diesem Verschwinden spürte er, dass die Stimmung kippte und etwas vollkommen verkehrt lief. Wenn man ihn fragte, woher diese Gewissheit kam, könnte er es wohl nicht beantworten, denn er konnte dieses Gefühl an nichts bestimmtem festmachen. Dass er damit richtig lag, zeigte sich aber bereits im nächsten Augenblick, als der andere ihn mit einem Blick bedachte, den er nicht deuten konnte, und zu einer Antwort ansetzte.
"Vielleicht solltest du dich wirklich entschuldigen und auch die Hochzeit nicht sofort abweisen. Ich denke, es wäre nicht gut, dich mit deiner Familie komplett zu überwerfen."
"Was?!"
Fassungslos starrte Crispin zu dem Schwarzhaarigen neben sich, da er nicht glauben konnte, was dieser eben gesagt hatte. Er hatte sich verhört, oder? Er musste sich verhört haben, denn er war sich sicher, dass August niemals so etwas sagen würde. So oft hatten sie über die Vorgehensweisen in der Oberschicht gesprochen und er wusste, wie der andere darüber dachte, denn in diesem Punkt waren sie auf einer Wellenlänge. Oder zumindest glaubte er das, denn da August nichts weiter sagte, seine Aussage nicht korrigierte, wurde ihm langsam bewusst, dass dieser ihn nicht verarschen wollte.
"Ist das dein Ernst?! Ich dachte, du findest diesen ganzen arrangierten Ehe-Kram genauso ätzend wie ich und dann höre ich sowas ausgerechnet von dir?!"
Für einen kurzen Augenblick meinte er zu sehen, wie August doch mit sich haderte und ein Teil von ihm hoffte, dass er ihm gleich sagte, dass er sich nur einen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Einen schlechten Scherz, keine Frage, aber es wäre immer noch sehr viel besser, als die Gewissheit, dass er wirklich meinte, was er gerade zu hören bekam. Doch auch in diesem Fall irrte er sich und sein Unterbewusstsein spielte ihm lediglich einen Streich, denn der Blick des anderen lag fest auf ihm. Nichts von dem vermeintlichen Zögern war darin zu sehen. Crispin versuchte, sich auf das gefasst zu machen, was gleich folgen würde, doch konnte er das überhaupt, denn immerhin war er von einem ganz anderen Verlauf dieses Treffens ausgegangen.
"Das stimmt auch so, aber ich meine es nur gut", setzte August an und suchte bei ihm offensichtlich nach Verständnis für seine Worte, doch die würde er keinesfalls finden. Auch nicht unter dem Deckmantel, dass er es nur gut meinte. Gerade er sollte wissen, dass er diesen vorgeschobenen Grund schon viel zu oft zu hören bekam, da seine Eltern diesen auch gerne nutzten, um ihre eigentlichen Beweggründe dahinter zu verstecken, in der Hoffnung, dass man so nicht merkte, dass es ihnen wie so oft nur um oberflächliche Dinge und keinesfalls um das Wohlergehen von anderen - insbesondere ihrer eigenen Kinder - ging. Dem Schwarzhaarigen schien dies ebenfalls klar zu werden, denn er setzte zu einer weiteren Erklärung an.
"Ja, deine Eltern sind oberflächlich und interessieren sich ganz offensichtlich nur dafür, wie sie noch besser da stehen können, aber es ist trotzdem nicht gut, sie gegen dich aufzubringen. Du bist noch so jung und ein Stück weit auf sie angewiesen, sodass es falsch wäre, das alles abzulehnen. Vor allem weil man nie weiß, was das Leben noch alles mit sich bringt. Die Hochzeit wäre also auch eine gewisse Sicherheit für dich."
"So ein Bullshit!", platzte es aus ihm heraus, noch immer unfähig zu glauben, dass der andere es ernst meinte.
Abrupt stellte Crispin sein Glas zurück auf den Tisch, da er nicht wusste, was er andernfalls damit tun würde, wenn er es in der Hand behielt, und sprang auf, um Abstand zwischen sie beide zu bringen. Ein winziger Teil von ihm hatte immer noch die Hoffnung, dass es sich nur um einen makaberen Spaß oder einen Albtraum handelte, doch dies wurde gerade zunichte gemacht, sodass er es nicht aushielt, weiter neben ihm zu sitzen. Er spürte, wie etwas in ihm zerbrach, als ihm vollends klar wurde, dass August nicht hinter ihm stand und ihn nicht unterstützte. Stattdessen fiel er ihm regelrecht in den Rücken und die Erkenntnis, dass alles, was er ihm bisher vielleicht erzählt hatte, die Gewissheit, dass der andere seine Meinung teilte, lediglich eine große Lüge war, zogen ihm den Boden unter den Füßen weg.
Crispin ballte beide Hände zu Fäusten, als der Schmerz immer stärker wurde. Der Blick aus den dunklen Augen des anderen lag dabei auf ihm und er wünschte sich noch immer, dass er alles zurücknahm, denn wenn nicht, hatte er gerade die einzige außenstehende Person verloren, der er vertraute.
Doch es kam nichts. Kein Wort, keine Reaktion.
August blieb auf dem Sofa sitzen und wirkte nicht so, als wollte er in den nächsten Augenblicken Anstalten machen, etwas daran zu ändern. Viel mehr schien er darauf zu warten, dass er etwas dazu sagte und durch die Wut, die sich dadurch in ihm sammelte und die den Schmerz für einen Moment unterdrückte, fing er sich genug, um ihm diesen letzten Gefallen zu tun.
"Du bist nicht viel älter als ich und kommst offensichtlich sehr gut alleine zurecht. Warum sollte das bei mir anders sein? Und außerdem warst du doch derjenige, der mir gezeigt hat, was es bedeutet, auszubrechen und einfach mal zu tun, was man will, ohne dabei auf die Konsequenzen zu achten. Warum hast du das getan, wenn du nun der Meinung bist, dass ich doch besser nach den Regeln meiner Eltern spielen soll?!"
Mit jedem Wort, das er aussprach, bröckelte seine Wut, denn der Schmerz suchte sich neue Wege, um an die Oberfläche zu kommen und unterwanderte damit das Gefühl, das ihm gerade ein wenig half und das er willkommen geheißen hatte. Es tat weh, zu wissen, dass er belogen wurde, denn er hatte dem anderen jedes Wort geglaubt. Crispin hatte ihm vertraut und das obwohl er damit für gewöhnlich Probleme hatte, weil er in der Regel davon ausging, dass nette Worte ohnehin nicht ernst gemeint waren und nur als Fassade dienten. Bei August war es von Anfang an anders. Seit dem Gespräch bei ihm zu Hause auf der Treppe hatte er das Gefühl, dass der Schwarzhaarige sein Vertrauen verdient hatte. Schon seit diesem Zeitpunkt fühlte es sich für ihn an, als wäre ihr Aufeinandertreffen nicht einfach nur ein Zufall gewesen und das obwohl er sonst nichts von diesem Gerede über Schicksal und dergleichen hielt.
Doch so wie es aussah, hatte ihn sein Gefühl betrogen und er war auf ihn hereingefallen. Nur ein Grund dafür wollte ihm nicht einfallen und die Frage war, ob er überhaupt eine ehrliche Antwort darauf bekommen würde - oder besser gesagt, ob er jeglicher Erklärung überhaupt noch trauen konnte. Aus diesem Grund wandte er sich auch von August ab, der keinerlei Reaktion von sich gab und stumm auf dem Sofa saß. Er ertrug es nicht länger, ihn anzusehen, denn mit jeder Sekunde schmerzte es mehr, zu wissen, dass er ihn belogen hatte.
"Weißt du was?!", durchbrach er die Stille, die sich auf eine unangenehme Art und Weise über sie gelegt hatte. "Vergiss es einfach! Vermutlich war es doch ein Fehler, hierher zu kommen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so in dir getäuscht habe und bin eigentlich hergekommen, weil ich dachte, du stehst hinter mir. So kann man sich irren…"
Zum Ende hin wurde seine Stimme immer leiser, doch Crispin war sich sicher, dass der andere es dennoch verstanden hatte, denn nicht einmal die Geräusche der Straße drangen großartig in die Wohnung, sodass es vollkommen ruhig war. So ruhig, dass er beinahe glaubte, man könnte hören, wie sein Herz genauso wie sein Vertrauen einen tiefen Riss bekamen, denn für ihn war gerade die Entscheidung gefallen, dass das Kapitel August wirklich nur das war: ein kurzes Kapitel in seinem Leben, das nun vorbei war. Ganz egal, wie sehr er sich auch wünschte, es wäre anders und ganz egal, für wie unmöglich ein Teil von ihm es gerade hielt, damit abschließen zu können.
Da er allerdings auch nicht wieder einknicken und noch einmal zu ihm sehen wollte, setzte er sich in Bewegung und lief Richtung Tür, die er ohne zu zögern öffnete und somit aus der Wohnung des Schwarzhaarigen verschwand.

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Mit einem lauten Knallen fiel die Tür hinter Crispin ins Schloss und August zuckte leicht zusammen, während sein Blick weiterhin auf die Stelle gerichtet war, wo er ihn aus den Augen verloren hatte. Diese Reaktion - sein Zusammenzucken - lag jedoch nicht an dem Geräusch, sondern an dem Gefühl der Endgültigkeit, das es mit sich brachte. Ganz so, als hätte er gerade das kaputt gemacht, dass erst dabei war, zwischen ihnen zu entstehen. Wie eine Blume, deren Blattspitzen im Frühling aus dem Boden schauten und von einem unaufmerksamen Menschen zertrampelt wurden. Dabei war er der Mensch, seine Worte, die er an den Jüngeren gerichtet hatte, der Fuß, den er unbedacht auf den Boden setzte und der Grund, der dazu führte, dass der andere ausgerechnet zu ihm kam, um sich von den Geschehnissen des Abends abzulenken, darüber zu reden und sich von ihm vielleicht auch ein wenig Rückhalt bezüglich seiner Entscheidung zu holen, das zarte Pflänzchen, auf das er dabei getreten war.
Es vergingen etliche Minuten, in denen er regungslos da saß und sich das Gespräch mit dem Schüler immer wieder durch den Kopf gehen ließ. Er fragte sich, ob er etwas anderes hätte sagen und ihm beipflichten sollen oder ob es richtig war, es nicht zu tun. Es fiel ihm absolut nicht leicht, so mit ihm zu reden und er hatte geahnt, was passieren würde, wenn er es tat. Crispin war wie eine streunende Katze, die sich einen Ort wünschte, den sie als Zuhause bezeichnen konnte. Einen Ort, an dem er sich geborgen fühlte und August spürte, dass er in den letzten Wochen genau dieser Zufluchtsort für ihn geworden war. Ihn nun so vor den Kopf zu stoßen, schmerzte, aber es war die richtige Entscheidung, oder nicht?
Sein Verstand sagte ihm, dass er damit nichts falsch gemacht hatte. Ganz im Gegenteil. Es war ohnehin schon ein Fehler, so viel Zeit mit ihm zu verbringen, doch sein Egoismus war stärker. Schon von der ersten Sekunde an war er fasziniert von dem Schwarzhaarigen, der sich von niemandem etwas sagen ließ und damit seine eigene nicht ganz so regelkonforme Seite ansprach. Er wollte ihn bei sich haben - alle Regeln und Konsequenzen zum Trotz - und das obwohl er ganz genau wusste, dass er ihn somit in etwas hineinzog, von dem er am besten nichts wusste. Dass Crispin noch nicht herausgefunden hatte, dass er weit mehr als nur seinen wahren Beruf vor ihm versteckte, war wohl nur der Tatsache geschuldet, dass er nicht weiter nachgebohrt hatte, denn er war zweifelsohne intelligent genug, um es herauszufinden und seine kläglichen Versuche, sich herauszureden, waren kaum ein Hindernis, um dies zu verhindern.
Ob er am Ende geglaubt hätte, dass es mehr als nur die Menschen als intelligente Lebewesen gab, diese - wie der eine oder andere Dämon gerne zu sagen pflegte - nicht am Ende der Nahrungskette standen, und er selbst zu der Fraktion der Engel gehörte, konnte er nicht sagen, doch die Gefahr war viel zu groß, dass er überhaupt etwas von dieser übernatürlichen Welt erfuhr, die es versteckt zwischen der normalen gab. Daher war es viel zu egoistisch von ihm, sein Vertrauen zu gewinnen und für ihn ein Freund zu werden, wo er doch wusste, dass er das nicht durfte. Jedoch spürte er bereits den herben Verlust, den seine Entscheidung, die er bis heute vor sich hergeschoben hatte und schon viel eher hätte treffen sollen, mit sich brachte und er spürte den Drang in sich, ihm nachzulaufen und alles zurückzunehmen, doch er musste sich zurückhalten. Es war vernünftiger so. Es war richtig.
"Es ist besser so für ihn…", murmelte er leise, während er sich für einen Moment nach vorn beugte und seine Hände in den Haaren vergrub, wohl wissend, dass er sich gerade selbst belog. Auch wenn er bedachte, dass es nicht ungefährlich für Crispin wäre, zu erfahren, dass es übernatürliche Wesen gab, war es für diesen mit Sicherheit nicht besser so. August hatte sein Vertrauen zerstört. Ein zerbrechliches Gebilde, das bei dem kleinsten Windhauch wie ein Kartenhaus zusammenfiel und so sehr er auch versuchte, sich einzureden, dass er richtig gehandelt hatte, half es nichts dabei, dass er sich schuldig fühlte, weil er dem Jüngeren, der ohnehin kaum jemandem vertraute, so etwas angetan hatte. Der einzige, für den die jetzige Situation so besser war, war er und kein anderer.
Ein gequälter Laut kam August über die Lippen, da sein Herz und sein Kopf miteinander konkurrierten und es keinen eindeutigen Sieger gab. Er haderte mit sich und seiner Entscheidung und wusste einfach nicht, was er tun sollte. Da er sich jedoch gut genug kannte und sich selbst nicht über den Weg traute, weil er ganz genau wusste, wie schwach ihn Crispin machte, griff er nach dem Glas mit dem Whisky und leerte es in einem einzigen Zug, bei dem er anschließend das Gesicht verzog, da es doch ein bisschen viel auf einmal war. Der Alkohol brannte im Hals, doch er war für einen Moment eine willkommene Ablenkung.
Er wollte nicht länger darüber nachdenken, denn wenn er das tat, wusste er nicht, ob er nicht doch noch einknickte und den Jüngeren aufsuchte, um sich bei ihm zu entschuldigen, in der Hoffnung, so wieder etwas von dem reparieren zu können, was er gerade zerstört hatte - wenn das überhaupt möglich war. Um allerdings genau das zu verhindern, stand er auf, brachte das Glas zurück in die Küche, wo er es lediglich in die Spüle stellte und machte sich anschließend auf den Weg zu seinem Schlafzimmer.
Im Flur hielt er inne, als er einen Zettel auf der Kommode liegen sah. Er wusste bereits, was darauf geschrieben stand und doch nahm er ihn noch einmal in die Hand, um die Zeilen erneut zu lesen:

August, mein Bruder.
Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Der Hohe Rat will in einer Woche noch einmal über deinen Fall entscheiden und es sieht ganz so aus, als würden sie dich bald begnadigen.
Du solltest dir also besser nichts zu Schulden kommen lassen.
Aspen


Genau diese Nachricht, die er bei seiner Rückkehr von seiner letzten Jagd auf einen Dämon gefunden hatte, war ein weiterer Grund, warum es besser war, wenn Crispin und er keinen Kontakt mehr hatten. Er stand so kurz vor der Erreichung seines Ziels, in den Himmel zurückkehren zu können und all seine Fähigkeiten wiederzubekommen. So lange hatte er darauf hingearbeitet, hatte versucht, sich so gut es ging, auf der Erde zurechtzufinden und nicht allzu sehr aufzufallen. Er hatte sich sogar in der Universität eingeschrieben - auch wenn er in diesem Punkt das Notwendige mit seinen eigenen Interessen verbunden hatte - während er möglichst jeden Auftrag annahm und damit jeden Dämon jagte, den er mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten töten konnte. Somit wäre es fahrlässig, das alles für einen Jugendlichen und die Freundschaft zu diesem aufs Spiel zu setzen.
Lüge…, flüsterte ihm eine leise Stimme zu und August hatte alle Mühe, nicht auf sie zu hören, denn würde er dies tun, müsste er sich nicht nur eingestehen, dass es spätestens seit dem gemeinsamen Wochenende mit Crispin nicht mehr nur freundschaftliche Gefühle waren, die er für ihn empfand, sondern auch, dass es durchaus sehr verlockend war, für ihn alles hinzuschmeißen. Seit seinem Dasein als Engel gab es niemanden, der dies geschafft hatte. Er fühlte sich wohl bei dem Jüngeren und alleine bei der Erinnerung an dessen Lächeln war er bereit, zu vergessen, was er alles durchgemacht hatte, um so weit zu kommen, dass er den Status eines gefallenen Engels hinter sich lassen konnte und wieder aufstieg.
Doch wie sollte er sich für Crispin und damit für ein Leben auf der Erde entscheiden, wenn er nicht einmal mit Bestimmtheit wusste, dass es dem anderen genauso ging wie ihm? Dass der andere gerne bei ihm war und er eine besondere Stellung bei diesem einnahm, stand außer Frage. Sein Auftauchen an diesem Abend und damit die Tatsache, dass er seinen eigenen Vorsatz, ihn nicht zu Hause zu besuchen, gebrochen hatte, sprachen deutlich dafür. Ob er sich allerdings genauso zu ihm hingezogen fühlte, wie er es bei dem Schwarzhaarigen tat, war fraglich und wenn dem nicht so war, stünde er nicht nur ohne die Möglichkeit auf eine Rückkehr in sein Zuhause da, sondern womöglich auch ohne dem anderen und dann hätte er wirklich gar nichts mehr.
Somit war es absolut vernünftig, sich für das zu entscheiden, wo er sicher war, dass er es auch erreichen konnte, auch wenn sein Herz bei diesem Gedanken ganz anderer Meinung war und heftig rebellierte. August hatte jedoch keine Kraft mehr, um sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen. Die letzte Jagd hatte ihn geschlaucht und er wollte einfach nur noch in sein Bett. Aus diesem Grund legte er den Zettel zurück auf die Kommode und setzte seinen Weg in sein Schlafzimmer fort, um sich dort in sein Bett unter die Decke zu kuscheln, ohne sich zuvor noch die Mühe zu machen, seine Sachen zu wechseln.

Crispin Cipriano

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Äußerst unschlüssig stand Crispin im Hinterhof des Apartmenthauses, in dem er lebte, unsicher, ob er wirklich wieder hinaufklettern sollte, um sich ins Bett zu legen und zu versuchen, etwas Schlaf zu finden. Auf der einen Seite wollte er endlich aus seinen Klamotten raus und sich etwas bequemeres anziehen, aber auf der anderen Seite wusste er, dass ihm vermutlich die Decke auf den Kopf fiel, sobald ihn die Stille seines Zimmers umfing. Gerade nach diesem Abend würde er wohl nur schwer bis gar keine Ruhe finden und daran war zu einem großen Teil August Schuld.
Noch immer fragte er sich, wie er sich so in dem anderen hatte täuschen können. Er war fest davon ausgegangen, dass er hinter ihm stand und ihn unterstützte. Immerhin hatte er ihm in den letzten Wochen geholfen, teilweise aus seinem goldenen Käfig auszubrechen und einmal zu tun, was er wollte, ohne dass er sich verbiegen musste. Doch so wie es aussah, war das alles nur schöner Schein und er hatte mehr in das Verhalten des Schwarzhaarigen hineininterpretiert, als eigentlich da war.
Ein schmerzhafter Stich zog sich bei der Erinnerung an ihr Gespräch und dessen Verlauf durch sein Herz und er presste die Lippen aufeinander. Gleichzeitig ballte er beide Hände zu Fäusten, während er ernsthaft darüber nachdachte, sich noch irgendwo etwas alkoholisches zu trinken zu besorgen. Hochprozentig, wenn möglich, denn den Whisky, den er schon bei seiner Ankunft bei August bitter nötig hatte, wünschte er sich nun noch viel mehr herbei.
Bevor er allerdings dazu kam, sich zu entscheiden, hörte er mit einem Mal Stimmen, die sich dem Hinterhof näherten und die er eindeutig einem wohlhabenden älteren Pärchen zuordnen konnte, das ebenfalls in dem Gebäude wohnte und somit wohl als Nachbarn bezeichnen konnte. Und so, wie es sich anhörte, suchten sie ihren kleinen Bettvorleger - einen kleinen Pekinesen, der sich fantastisch mit dem Chihuahua seiner Mutter verstand. Schon wenn er nur an die beiden Fußhupen dachte - denn größer waren sie nun einmal nicht - verzog er das Gesicht. Beide hatten etwas gegen ihn, ohne dass er sagen konnte, warum, aber im Moment interessierte ihn das auch nicht besonders. Viel wichtiger war es, dass er von seinen Nachbarn nicht gesehen wurde, wodurch sie ihm seine Entscheidung wohl oder übel abnahmen, ob er hinauf in sein Zimmer kletterte oder nicht.
Als er hörte, dass sie immer näher kamen und er besser keine Zeit mehr verlieren sollte, schüttelte er kurz den Kopf, um sich auf den Aufstieg zu konzentrieren, bevor er sich dem Rankgitter näherte und nach oben kletterte.
Sein Fenster stand noch immer offen, was nur bedeuten konnte, dass seine Eltern noch keinen Verdacht geschöpft hatten, dass er weg war, da sie andernfalls womöglich versucht hätten, in sein Zimmer zu kommen. Auf dem Rückweg hatte er nicht sonderlich darauf geachtet, ob ihn jemand sehen könnte, der ihn kannte, und ihnen somit Bescheid geben könnte. Doch als er durchs Fenster schlüpfte und noch einmal zu der Stelle hinunter sah, an der er bis eben gestanden hatte und nun der kleine Bettvorleger seiner Nachbarn ausgiebig auf dem Boden schnüffelte, hörte er eine Stimme hinter sich, die leicht verschlafen klang.
"Pino?"
Der Angesprochene zuckte zusammen und wandte sich um. Auch wenn er erkannt hatte, um wen es sich handelte, brauchte er einen Augenblick, um sich zu fangen, da er einfach nicht damit gerechnet hatte.
"Cyr? Was machst du in meinem Bett?", war das erste, was ihm in den Sinn kam, nachdem er es geschafft hatte. Cyrian hingegen setzte sich auf und schlug die Decke zurück, mit der er bedeckt war, sodass Crispin erkennen konnte, dass er zusätzlich auch noch sein momentanes Schlaf-Shirt trug.
"Dich decken, was sonst?", murmelte er als Antwort, nachdem er einmal ausgiebig gegähnt hatte, und rieb sich über die Augen. “Mom ist ziemlich sauer auf dich. Warum muss ich dir wohl nicht sagen. Aus diesem Grund kam sie schon häufiger hierher, um zu schauen, ob du noch da bist, und wenn sie mitbekommen hätte, dass abgeschlossen ist, hätte sie dir die Hölle heiß gemacht. Ich hab mein Schild an meine Tür gehangen, damit sie denken, ich würde lernen. Dabei stören sie mich in der Regel nicht und dann hab ich mich für dich ausgegeben. Du kannst froh sein, dass selbst Mom und Dad uns nicht auseinanderhalten können, wenn wir es drauf anlegen", erklärte er ihm weiter den Grund dafür, dass er hier war. Für einen kurzen Augenblick war Crispin tatsächlich verwirrt über diese Tatsache, doch nun begriff auch er es.
Ein Seufzen kam ihm über die Lippen. Er hatte seinem Bruder gerade tatsächlich einiges zu verdanken, denn sowohl seine Mutter als auch sein Vater hassten es, wenn er sein Zimmer abschloss, was auch erst der Fall war, seit er sich mit August traf, auch wenn er es zumindest nicht nur dann tat, sondern auch, wenn er da war und einfach nur seine Ruhe haben wollte. Andernfalls hätten sie jedes Mal sofort gewusst, wenn er abwesend war und so konnte er sich zumindest damit herausreden, dass er einfach nur keine Lust hatte, mit ihnen zu reden. Seit dem gemeinsamen Wochenende mit dem anderen waren sie in dem Punkt allerdings noch skeptischer und ließen sich immer wieder etwas neues einfallen, um herauszubekommen, ob er sich in seinem Zimmer befand oder nicht. Im Grunde würde es ihn nicht wundern, wenn sie genau wie Cyrian bereits einen weiteren Schlüssel für die Tür hatten, um sie aufzubekommen, sollten sie diese das nächste Mal verschlossen vorfinden, ohne dass er eine Reaktion von sich gab.
“Danke, dass du eingesprungen bist. Das hat mir vermutlich jede Menge Ärger erspart.”
“Nicht nur vermutlich, sondern sehr wahrscheinlich", erwiderte sein Bruder prompt und Schweigen breitete sich über sie aus. Crispin musste dazu nichts weiter sagen, denn sie wussten beide, dass er recht hatte. Besonders nach diesem Abend hätte ihm seine Mutter wohl wirklich sprichwörtlich die Hölle heiß gemacht und auch wenn er inzwischen auf die Predigten seiner Eltern pfiff, die bei ihm in ein Ohr hinein und aus dem anderen wieder herauskamen, ohne dass davon etwas hängen blieb, konnte er doch gut und gerne darauf verzichten, seine Zeit damit zu verschwenden, sich die inzwischen immer gleichen Phrasen anzuhören.
“Du warst wieder mit ihm unterwegs, oder?”, holte ihn Cyrian aus seinen Gedanken über die möglichen Konsequenzen, wenn seine Abwesenheit jemand anders als sein Bruder entdeckt hätte. Er seufzte und fuhr sich durch die Haare, während er zu ihm sah.
“Ja, und wenn schon. Nach dem katastrophalen Abend brauchte ich Ablenkung.”
Durch die fehlende Helligkeit der Deckenlampe spiegelte sich lediglich das schwache Licht der Stadt und des Mondes in den Augen des anderen, wodurch sie noch dunkler wirkten und für einen Moment hatte Crispin das Gefühl, August säße vor ihm. Doch sein Unterbewusstsein spielte ihm einen Streich. Nach dem, was er ihm vor nicht einmal einer Stunde gesagt hatte, würde er nicht bei ihm auftauchen. Vermutlich tat er es nie wieder und wenn es nach ihm ging, war das auch gut so.
Redete er sich zumindest ein, denn die Erinnerung an das Gesagte und den Verlauf des Abends schnürten ihm die Brust zusammen.
Um sich das seinem Bruder gegenüber nicht anmerken zu lassen, wandte er sich ab und schloss das Fenster, da ihm der kühle Wind, der hineinwehte, langsam unter die Kleidung kroch und ihm eine Gänsehaut bescherte. Crispin konnte nicht behaupten, dass er sonderlich temperaturempfindlich war, doch der ganze Tag und vor allem die letzten Stunden waren in vielerlei Hinsicht nervenaufreibend und setzten ihm zu. Er fühlte sich mental ausgelaugt und müde, sodass er empfindlicher war - und das nicht nur in physischer Hinsicht. Was auch jeder zu spüren bekommen würde, der in diesem Moment etwas Falsches sagte. Nur sein Bruder bildete in diesem Punkt eine Ausnahme, was dieser auch nutzte, als er auf seine Erklärung bezüglich seines Verschwindens reagierte.
“Sonst hast du die Ablenkung im Klavier spielen gesucht und nicht darin, unsere Eltern gegen dich aufzubringen und vielleicht alles aufs Spiel zu setzen, was wir haben.”
Crispin schnaubte augenblicklich, doch bevor er etwas darauf erwiderte, schüttelte er das Jackett von seinen Schultern und schlüpfte auch noch aus dem Rest seiner Kleidung, die er gebündelt und unordentlich auf seinen Schreibtischstuhl warf, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass sie zerknitterte. Sobald der Anzug in der Reinigung war, interessierte das ohnehin niemanden mehr, auch wenn er sich denken konnte, dass er sich dazu dennoch etwas anhören durfte, sobald seine Mutter oder sein Vater das Ganze zu Gesicht bekamen. Im Moment war das für ihn aber nicht wichtig und er setzte sich neben Cyrian auf das Bett, dessen Matratze unter seinem Gewicht leicht nachgab.
"Was haben wir denn?!", fragte er ihn mit einem leicht abwertenden Tonfall, der jedoch nicht seinem Bruder galt, bevor er die Frage selbst beantwortete. "Einen goldenen Käfig, in dem es nur Regeln gibt und wir nach ihrer Pfeife tanzen müssen.”
Cyrian senkte daraufhin für ein paar Sekunden den Blick, um seinem auszuweichen. Diese Reaktion reichte ihm bereits, um zu wissen, dass ein Teil des anderen genauso dachte, wie er - nur mit dem Unterschied, dass er sich nicht traute, es auszusprechen.
“Aber es ist im Grunde alles, was wir haben.”
“Das reicht mir aber nicht mehr…”, entgegnete er und erntete dafür einen verständnisvollen Blick seines Bruders.
Wer sollte es auch besser verstehen, als er? Ihre Welt war dieselbe: oberflächlich, lieblos und gespickt mit den unmöglichsten Anforderungen, die man zu erfüllen hatte. Cyrian hatte lediglich das Glück, das ihm Letzteres leichter fiel und er somit nicht ganz so viel Gegenwind ertragen musste. Am Ende war er in seiner freien Entfaltung aber genauso eingeschränkt wie Crispin und es machte keinen großen Unterschied, wie gut sie sich in dieser Welt schlugen. Sie war für sie beide pures Gift.
“Ich will dich auch gar nicht verurteilen. Ich mache mir nur Sorgen und will es verstehen... Du magst ihn mehr als nur einen Freund und deswegen willst du sie nicht heiraten, oder?”, durchbrach Cyrian die Stille, die sich nach seinen Worten über sie gelegt hatte, und überraschte ihn damit. Seine Augen weiteten sich und er sah ihn einen endlos langen Moment einfach nur an, während sein Kopf verarbeitete, worauf sein Bruder gerade hinaus wollte. Doch wieso überraschte es ihn eigentlich, dass er ihn so etwas fragte? Immerhin kannte er ihn weit besser, als jeder andere das von sich behaupten konnte. Was er mit seinen Worten allerdings andeuten wollte, sorgte dafür, dass sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog, ohne dass er es wollte oder etwas dagegen tun konnte.
Um es dem anderen nicht zu zeigen, schnaubte er jedoch ein weiteres Mal und entschied sich dafür, diesen Punkt zu übergehen, da er über August gerade eigentlich gar nicht nachdenken wollte.
“Red keinen Unsinn! Sie ist einfach genauso oberflächlich wie alle anderen auch und ich hab keinen Bock für das Ansehen unserer Familie und ein paar Geschäftsbeziehungen verkauft zu werden! Ich bin nicht wie du, Cyr. Ich verstehe nicht, wie du das einfach hinnehmen kannst. Wobei du vermutlich noch Glück hast, da du mit Élody befreundet bist und sie keine ganz so arrogante Ziege ist.”
Einen bedeutungsschweren Moment lang sah Cyrian ihn einfach nur an. Sie beide wussten, dass er recht hatte und sie lediglich für die Interessen ihrer Eltern missbraucht und verkauft wurden, als wären sie deren Eigentum, mit dem sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Schon seit er von der geplanten und arrangierten Ehe seines Bruders erfuhr, wehrte sich etwas heftig in ihm dagegen, dies ebenfalls zu akzeptieren und er wünschte sich, der andere würde es ebenfalls so sehen und sich dagegen auflehnen. Doch so war er nicht und auch das wusste er.
“Ich bin mir dessen bewusst, dass du nicht wie ich bist. Wenn ich ehrlich bin, beneide ich dich ein wenig um deine kleine Rebellion und vorhin hast du mir, was Marielle betrifft, aus der Seele gesprochen", sprach Cyrian weiter, wobei sich ein trauriges Lächeln in seinem Gesicht zeigte, was ihn die Lippen zusammenpressen ließ. Die Bedeutung hinter den Worten machte ihm mehr zu schaffen, als sie ihn im Grunde überraschten. Genauso wie es sein Bruder damit tat, dass er das Thema, welches er gerne umgangen hätte, nicht fallen ließ. "Das ist aber noch keine Antwort darauf, ob du mehr für ihn empfindest.”
Crispin hatte keine Ahnung, was er vor allem auf Letzteres antworten sollte, denn dafür müsste er darüber nachdenken und jeder Gedanke, der sich mit August befasste, schmerzte. Was wohl schon ein Indiz dafür wäre, dass sein Bruder zu einem gewissen Grad recht hatte, doch das machte das alles nicht wirklich besser. Daher konzentrierte er sich wieder einmal vor allem auf das unverfängliche Thema.
“Du könntest das genauso wie ich. Du müsstest dich nur für dich selbst mal genauso einsetzen, wie du es für mich mitunter tust."
Er wusste, dass Cyrian selbst über sich dachte, dass er das nicht tat, weil er ihn vor seinen Eltern und anderen nicht verteidigte, aber dem war nicht so. Auf seine Weise tat er es dennoch. Jedes Mal, wenn er für ihn log oder ihn wie diesen Abend deckte, indem er sich einfach für ihn ausgab, damit er keinen Stress bekam, setzte er sich für ihn ein und dafür war ihm Crispin dankbar, da es ihm so schon einige Moralpredigten seiner Eltern ersparte.
"Aber was August angeht…", begann er, wusste aber immer noch nicht so richtig, was er dazu sagen sollte, weshalb er das erste von sich gab, was ihm in den Sinn kam. "Das ist absoluter Blödsinn!”
“Ist es das wirklich?", fragte Cyrian direkt, wobei er nicht wusste, worauf sich der andere genau bezog. Einen Verdacht hatte er durchaus und der hatte nichts damit zu tun, dass sie in vielen Punkten so unterschiedlich wie Tag und Nacht waren. "Also absoluter Blödsinn”, fügte er zum besseren Verständnis hinzu und Crispin fühlte sich in seiner Vorahnung bestätigt.
Zudem war ihm klar, dass er nun nicht mehr um eine Antwort herum kam. Dafür durchschaute ihn sein Bruder viel zu schnell. Einen Moment lang sah er ihn daher einfach nur an, bevor er sich mit einem frustrierten Seufzen nach hinten auf die Matratze fallen ließ und sich mit einer Hand durch die Haare fuhr.
“Ich weiß es doch auch nicht verdammt…”
Etwas anderes konnte er ihm dazu tatsächlich nicht sagen, denn er hatte keine Ahnung, was das zwischen August und ihm war - wobei die Betonung wohl wirklich auf war lag. Dieser Abend hatte alles verändert, auch wenn er selbst am gestrigen Tag nicht gewusst hätte, was er für den anderen empfand.
Es war einfach kompliziert, denn auf der einen Seite war er gerne bei ihm. Er konnte einfach er sein, ohne sich verbiegen und im nächsten Moment befürchten zu müssen, dass das von ihm verlangt wurde. Wenn er bei August war, fühlte er sich viel mehr zu Hause und angekommen, als er es hier jemals getan hatte, als wüsste sein Unterbewusstsein etwas, das er nicht sah. Zudem war da eine Anziehung und das, wenn er ehrlich war, schon seit der ersten Begegnung, die er sich nicht erklären konnte, außer damit, dass-
Der Gedanke fand ein abruptes Ende, als Crispin neben sich eine Bewegung spürte und seinen Kopf in die Richtung drehte, nur um zu sehen, dass sich sein Bruder im Schneidersitz neben ihn gesetzt hatte und ihn mit einem Blick musterte, den er nicht deuten konnte. Ob er daher froh war, dass der andere seinen Gedankengang unterbrochen hatte, wusste er nicht, denn auch wenn er oftmals sagen konnte, was in Cyrian vorging, war er gerade ratlos. Zudem hatte er keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde, wenn ihn sein Gefühl bezüglich August nicht trog - auch wenn es bei diesem im Speziellen wohl keine Rolle mehr spielte.
“Also ich hätte kein Problem damit, wenn es so wäre. Nur Mom und Dad würden ausflippen", wurde er überrascht und er spürte, wie ihm eine Last von den Schultern fiel, von der er bis eben nicht einmal wusste, dass sie da war. Sollte es ihn aber wirklich wundern? Immerhin war Cyrians Einstellung zu vielem, was in der Oberschicht verkehrt lief, genau wie seine - nur dass dieser sie vor anderen außer ihm nicht offen aussprach.
“Als ob mich das interessiert!”, schnaubte er abfällig, denn was seine Eltern von seiner Neigung hielten, war ihm tatsächlich ziemlich egal, und auf dem Gesicht seines Bruders zeigte sich sofort ein breites Grinsen, das die Stimmung ein wenig auflockerte.
“Hab ich mir fast gedacht.”
Crispin begann ebenfalls zu grinsen, auch wenn der Abend eigentlich nur wenig bis gar nichts Erfreuliches zu bieten hatte, doch nach all dem, was passiert war, war es ein angenehmes Gefühl, wieder einmal vor Augen geführt zu bekommen, dass er sich auf seinen Bruder voll und ganz verlassen konnte - selbst wenn alle anderen Stricke reißen sollten.
Die positive Stimmung, die sich durch den unverbrüchlichen Rückhalt, den er zumindest von einer Person bekam, gebildet hatte, verschwand allerdings schlagartig, als er hörte, wie sich die Tür öffnete. Im Grunde konnten es nur zwei Leute sein und auf beide hatte er gerade keine Lust, weshalb er sich nicht einmal die Mühe machte, sich aufzusetzen oder sich gar etwas überzuziehen. Der Blick des anderen hingegen ging in die Richtung des Störenfrieds und das kurze Hinüberhuschen mit diesem zu ihm, sagte ihm deutlich, wer da gerade ihre Unterhaltung unterbrach.
“Cyrian-Schatz, was machst du denn hier? Ich dachte, du würdest lernen”, erklang die Stimme seiner Mutter, die ihre Überraschung nicht ganz unterdrücken konnte. Als wäre es ein Unding, dass sein Bruder vielleicht einfach einmal eine Pause machte, um ungestört Zeit mit ihm zu verbringen. Das Schatz, welches sie an dessen Namen hing, versetzte ihm einen Stich. Obwohl er es nicht anders kannte, verletzte es ihn doch immer wieder aufs Neue, da es ihm zeigte, wie ungleich sie eigentlich behandelt wurden, denn ein Crispin-Schatz bekam er nie zu hören. Wobei er inzwischen auch nicht mehr wusste, ob er darauf wirklich noch Wert legte.
“Habe ich auch. Ich brauchte nur eine kurze Pause”, erweiterte Cyrian genau das, was er sich bereits gedacht hatte, als würden sie sich ihre Gedanken mitunter teilen. Beinahe hätte sich seine Mundwinkel zu einem schwachen Schmunzeln verzogen, doch er konnte es gerade so noch unterdrücken. Der erneute Klang von Yoonas Stimme half ihm dabei zusätzlich.
"Oh ja, natürlich. Das ist vollkommen in Ordnung. Und du…", begann sie und Crispin wusste ganz genau, dass er gemeint war, denn der wohlwollende Tonfall, den sie ihrem ältesten Sohn gegenüber anschlug, gefror in seine Richtung beinahe zu Eis.
Eigentlich hatte er keine Lust, darauf zu reagieren, aber er wusste nur zu gut, dass sie wohl nicht weiter reden würde, solange er keine Regung von sich gab. Aus diesem Grund überstreckte er seinen Hals so weit, bis er sie - wenn auch auf dem Kopf - ansehen konnte und registrierte, dass sie die Augenbrauen verärgert zusammengezogen hatte.
"Du solltest die Nacht besser nutzen und über das schlafen, was du heute getan hast. Du weißt, was dein Vater und ich morgen von dir erwarten."
Natürlich musste sie wieder mit diesem Thema anfangen, weshalb er deutlich genervt seufzte. Etwas dazu sagen, wollte er nicht, auch wenn seine Mutter auf eine Antwort von ihm wartete. Im Grunde hatte er seinen Standpunkt bereits während des Abendessens und der Verkündung der erfreulichen Nachricht klar gemacht und daran hatte sich bis jetzt nichts geändert. Auch wenn das Kapitel August Geschichte war und es somit niemanden gab, der ihn einfach mal aus seinem goldenen Käfig holte, dachte er nicht daran, zu dem mehr oder weniger braven Sohn zurückzukehren, der er vor der Begegnung mit dem Schwarzhaarigen war. Dafür hatte er die Freiheit zu sehr genossen, um diese wieder aufzugeben, sodass er immer wieder durch das Loch in seinem Gefängnis schlüpfen und diese auskosten würde.
Dass er zumindest nichts erwidern wollte, wurde nach einigen langen und schweigsamen Augenblicken auch Yoona klar. Ihr Blick wanderte dennoch beinahe abwertend über ihn, da er immer noch lediglich in seinen Shorts halb auf dem Bett lag.
"Und zieh dir gefälligst etwas an”, gab sie noch von sich, bevor sie auf dem Absatz kehrt machte und das Zimmer wieder verließ.
Ob sie Dad wohl jemals nackt gesehen hat?, schoss es Crispin durch den Kopf. Nur wenige Sekundenbruchteile später verzog er angewidert das Gesicht, denn das wollte er sich dann doch nicht zu genau vorstellen. Dass da was gelaufen sein muss, war vollkommen klar, doch bei seinen Eltern wollte er solche Bilder nicht in seinem Kopf haben, die er mit Sicherheit nicht wieder los wurde.
Sein Bruder half ihm glücklicherweise unbewusst dabei, das Ganze wieder zu verdrängen, indem er ihm einen fragenden Blick zuwarf. Kurzzeitig dachte er, es läge an seiner Reaktion gerade, doch diese hatte er gar nicht mitbekommen, sodass es sich nur um die Ansprache seiner Mutter handeln konnte. Crispin rollte mit den Augen, um ihm schon alleine damit zu zeigen, was er davon hielt.
“Sie will, dass ich mich bei Marielle für vorhin entschuldige. Aber das kann sie sowas von vergessen!”
“Sie machen dir sicher das Leben zur Hölle, wenn du die Verlobung platzen lässt und dich nicht entschuldigst", wandte der andere ein, doch zwischen den Zeilen konnte er bereits heraushören, dass diesem klar war, dass ihn das nicht kümmern würde. Nicht nachdem er sich immer weiter von dem Bild eines vorbildlichen Sohnes entferne, das sie im Kopf hatten.
“Und?! Das ist noch lange kein Grund, einzuknicken und mich für etwas zu entschuldigen, was der Wahrheit entspricht. Wenn sie die nicht erträgt, ist das nicht mein Problem.”
Statt einer Rüge oder eines erbosten Blickes, den er wohl von jedem anderen auf diese Aussage hin kassiert hätte, erntete er lediglich ein Lächeln seiner Bruders, der schon sehr lange wusste, dass er zumindest innerlich gegen all die Vorschriften, Anforderungen und Wertvorstellungen ihrer Eltern rebellierte, für die das etwas völlig Neues war, dass er sich so quer stellte. Eine Erwiderung folgte nicht, musste es auch nicht, denn es war alles zu dem Thema gesagt und über die Konsequenzen seiner Entscheidung konnte er sich auch später noch Gedanken machen.
Ein leises Seufzen drang an sein Ohr, was ihn dazu brachte, sich doch wieder aufzusetzen und Cyrian mit einem fragenden Ausdruck anzusehen. Was nun kam, hätte er sich aber wohl denken können.
“Ich sollte wohl wirklich noch etwas lernen, bevor ich schlafen gehe.”
Ungläubig hob er eine Augenbraue und sein Blick huschte für einen Moment zu seinem Wecker, dessen Digitalanzeige auch im Dunkeln zu sehen war und inzwischen nach Mitternacht anzeigte.
"Um die Zeit noch?"
Crispin wusste, dass sein Bruder teilweise bis spät in die Nacht lernte, denn auch wenn ihn alle für ein Wunderkind hielten, war er weit davon entfernt, eines zu sein. Damit wollte er die Leistung des anderen keineswegs schmälern, doch das, was er bisher erreicht hatte, hatte nichts mit dem zu tun, was man bei dem Begriff Wunder im Kopf hatte. Er arbeitete hart dafür und wenn er ihn nicht ein ums andere mal dazu bringen würde, an sich zu denken und sich einfach mal etwas Ruhe zu gönnen, würde sich sein Bruder wohl die Nächte dafür um die Ohren schlagen.
“Bleibt mir etwas anderes übrig?”, bestätigte ihm Cyrian, dass er auch heute mal wieder Gefahr lief, genau das zu tun. Eine Tatsache, die er so nicht hinnehmen wollte, da sein Bruder schon in der letzten Nacht ewig an einer Hausarbeit saß, weil er tagsüber durch die Klavierstunden keine Zeit dafür hatte. Er selbst fühlte sich noch relativ wach und schon vor ihrem Gespräch war ihm klar, dass er kein Auge zubekommen würde, was sich seitdem auch nicht geändert hatte.
“Ja, durchaus. Ich werde vermutlich noch nicht schlafen können und mich ans Klavier setzen. Da unsere Eltern noch wach sind, wird sie das nicht stören. Wenn du noch nicht schlafen willst, könntest du also anfangen, auch ein wenig zu rebellieren und mir Gesellschaft leisten. Ich muss für nächste Woche ohnehin noch dieses eine nervige Stück üben.”
Cyrians Miene hellte sich sofort auf, die bereits gezeigt hatte, dass er eigentlich überhaupt keine Lust hatte, sich über die Geschichte Frankreichs im 14. Jahrhundert zu setzen und seinen Aufsatz weiterzuschreiben - was Crispin nur zu gut verstand, da er mit der so weit zurückliegenden Vergangenheit partout nichts anfangen konnte.
“Oder mit anderen Worten: Du willst, dass ich dir die eine oder andere Passage noch einmal vorspiele", bekam er mit einem verschmitzten Lächeln als Antwort, das sich nur im Gesicht seines Bruders zeigte, wenn er ihn bei etwas ertappt hatte. Tatsächlich brauchte er ein wenig Hilfe dabei, denn auch wenn er das Stück im Grunde konnte, rutschte er an einigen Stellen doch immer wieder in seine eigene Interpretation hinein.
“Ich könnte es, wenn meine Version des Ganzen erlaubt wäre. Aber es muss ja unbedingt haargenau so gespielt werden, wie es da steht”, grummelte er, was das Lächeln seines Bruders nur noch breiter werden ließ.
"Okay, ich helfe dir, aber vorher solltest du dir wirklich etwas überziehen, bevor unsere Haushälterin noch einen Herzinfarkt bekommt."

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Einige Tage später…

"Dannazione!", fluchte Crispin, als sich die Glasscherbe in seine Haut bohrte, und eine tiefe Wunde in der Innenfläche seiner Hand hinterließ. Sofort drückte er die andere auf die Verletzung, doch das half nicht viel und das Blut sickerte langsam, aber stetig weiter heraus und über seine Haut, bis es auf den Boden tropfte und dort den anderen Scherben inklusive der, die dafür verantwortlich war, Gesellschaft leistete. Etwas anderes kam ebenfalls angelaufen und beschnüffelte das Missgeschick. Als er Princess sah, die so tat, als hätte sie nichts getan, knurrte er leise, was sie aufblicken und laut bellend wieder davonlaufen ließ.
"Verfluchter Köter…", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, denn nur wegen dem kleinen Chihuahua hatte er das Glas überhaupt fallen lassen, da sie mal wieder der Meinung war, ihm zeigen zu müssen, wie wenig sie offensichtlich von ihm hielt. Das einzig Gute an den Schmerzen in seiner Hand war, dass sie präsenter waren, als die in seinem Kopf und diese somit zurückdrängten. Dankbar war er ihr dafür dennoch nicht, denn die Schmerztablette, die er eigentlich nehmen wollte, hätte das früher oder später ebenfalls erledigt und das ohne einem tiefen Schnitt, der eine ganze Weile bei jeder Bewegung der Hand weh tun würde.
Da es nicht half, die Wunde nur mit seiner Hand abzudecken, sah sich Crispin um und schnappte sich das erstbeste, was er finden konnte: ein Geschirrtuch. Dieses angelte er sich vom Griff der Backofentür und drückte es auf die Verletzung. Zischend schloss er die Augen und verzog das Gesicht, da der Schmerz für einige Sekunden noch einmal an Intensität zunahm. Lange würde ihm das Handtuch jedoch auch keinen Schutz bieten. Mal ganz davon abgesehen, dass er an diesem Abend unmöglich mit einem Geschirrtuch um der Hand zu der Veranstaltung zu Ehren des Hochzeitstages seiner Großeltern gehen und am Klavier sitzen konnte, weshalb er sich nach einem kurzen Blick auf die Scherben auf dem Boden von diesen abwandte und die Küche verließ, um seine Hand zu versorgen. Das Glas konnte auch ihre Haushälterin wegräumen. Eine Schnittwunde reichte ihm für diesen Tag vollkommen aus.

Nachdem er die Verletzung verbunden und zusätzlich noch eine Schmerztablette genommen hatte, verließ Crispin das Badezimmer wieder - und hätte sich beinahe die nächste Blessur zugezogen. Sein Blick war auf den Verband um seine Hand geheftet und er strich mit den Fingern immer wieder darüber, auch wenn das für die Wundheilung vermutlich keine so gute Idee war, doch der Schmerz, den er damit hervorrief, war angenehmer und erträglicher als der in seinem Kopf. Dadurch passte er allerdings nicht auf, als er sich auf den Weg in sein Zimmer machte, sodass er nicht bemerkte, dass sein Vater vor der Tür zu diesem stand und offensichtlich auf ihn wartete. Erst in der letzten Sekunde sah er ihn aus dem Augenwinkel heraus und konnte stoppen, bevor er in ihn hineinlief.
"Crispin", begann er und schaute für einen Moment auf die verletzte Hand seines Sohnes. Dieser ließ sie sofort sinken, auch wenn Nevio ihm bereits wieder ins Gesicht sah.
"Ich weiß, wie ich heiße. Also spuck aus, was du willst!"
Sein Tonfall war scharf und eigentlich konnte er sich ganz genau denken, warum sein Vater vor ihm stand. In den Augen seiner Eltern war die Entschuldigung an Marielle und deren Familie schließlich noch immer fällig, denn an seiner Einstellung zu diesem Thema hatte sich nichts geändert: Er würde sich für nichts entschuldigen, bei dem er sich im Recht fühlte und schon gar nicht bei Leuten, wie diesen oberflächlichen Gestalten, die offensichtlich die Wahrheit nicht ertrugen. Da konnten ihm seine Eltern noch so oft ein Ultimatum dafür stellen und mit Konsequenzen drohen, wenn er es nicht tat. Nach so vielen Jahren, in denen er nach ihrer Pfeife tanzte, hatte er die Nase voll davon.
"So fängst du gar nicht erst an, mit mir zu reden, junger Mann. Damit wir uns da verstanden haben."
Innerlich rollte Crispin mit den Augen, ließ es aber, es auch wirklich zu tun, da er eigentlich nur in sein Zimmer wollte, um sich auf den Abend vorzubereiten, da er für diesen etwas geplant hatte, bei dem die Anwesenden vermutlich aus allen Wolken fallen würden. Dafür musste sein Plan aber perfekt sein, auch wenn er mit der verletzten Hand nun reichlich eingeschränkt war. Eine Spur Trotz legte er dennoch in seinen Blick, um seinem Vater zu zeigen, was er davon hielt und dass er sich nicht mehr in sein Verhalten hineinreden ließ. Der andere erwiderte ihn fest und als Crispin bereits fragen wollte, ob das heute noch was wurde, dass er mit der Sprache herausrückte, tat Nevio genau das.
"Das nachher ist ein wirklich sehr wichtiger Termin. Vor allem für deine Großeltern. Ich weiß nicht, was momentan dein Problem ist, dass du dich so daneben benimmst und scheinbar unsere ganze Erziehung vergisst, aber versau das heute Abend nicht. Marielle und ihre Eltern werden als zukünftige Mitglieder der Familie ebenfalls anwesend sein und ich will nicht nur, dass du dich von deiner besten Seite zeigst, sondern dich auch bei ihnen für deine ausfallenden Worte letzte Woche entschuldigst. Haben wir uns da verstanden?"
Zukünftige Mitglieder der Familie.
Wenn er das schon hörte. Es war vollkommen egal, was er wollte, und sowohl sein Vater als auch seine Mutter schienen nicht einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er die Hochzeit auch noch mitten vor dem Altar platzen lassen könnte - auch wenn er nicht vorhatte, es überhaupt soweit kommen zu lassen. Alleine bei der Vorstellung, neben diesem eingebildeten Barbiepüppchen zu stehen, während seine und ihre Familie beinahe vor Freude darüber platzten, wurde ihm schlecht. Bei seinem Bruder mochte es klappen, dass er sich ihren Regeln unterwarf, aber er machte da ganz bestimmt nicht mit und er hatte vor, dass sie es spätestens heute Abend endlich einmal bemerkten. Gefallen würde es ihnen nicht, dass da war ihm vollkommen klar, doch das war ihm egal.
"Ja, ich hab es begriffen. Ich bin immerhin nicht blöd! Lässt du mich jetzt durch?! Ich muss für nachher noch etwa vorbereiten."
Seine Stimme klang noch immer trotzig, da er sich nicht die Mühe machte, auch nur halbwegs wie der brave Sohn zu klingen, den sich seine Eltern wünschten, was wohl auch seinem Vater nicht entging, der ihn skeptisch ansah. Eine für Crispin gefühlte Ewigkeit rührte er sich keinen Millimeter vom Fleck und zog stattdessen leidlich die Augenbrauen zusammen. Durch diese Reaktion erwartete er schon regelrecht, dass er noch etwas zu sagen hatte, was dieses Mal jedoch schneller geschah, als zuvor.
"Ich hoffe für dich, dass es auch die Entschuldigung an Marielle beinhaltet. Andernfalls werden die Konsequenzen härter ausfallen, als die letzten Male."
Für einige Sekunden lag Nevios Blick noch auf seinem Sohn, mit dem er seine Worte noch unterstreichen und ihnen Nachdruck verleihen wollte, bevor er endlich den Weg frei machte und die Treppe hinunter ins Erdgeschoss lief. Crispin sah ihm kurz nach und rollte mit den Augen. Wenn er glaubte, dass er ihm damit Angst machte, war er schief gewickelt. Ein kleiner Teil von ihm fragte sich zwar, welche Folgen sein Vorhaben nach sich ziehen könnte, doch es änderte nichts daran, dass er es durchziehen würde. Alles war besser, als weiter in diesem goldenen Käfig zu leben und die Klappe zu halten, nur damit man nicht negativ auffiel.
Da er allerdings noch jede Menge vorzubereiten hatte, wischte er die Gedanken an die möglichen Auswirkungen beiseite, denn die halfen ihm wenig und würden ihn nur behindern. Stattdessen wandte er sich von der Treppe ab und betrat sein Zimmer, dessen Tür er hinter sich abschloss. Er konnte Störungen nicht gebrauchen. Selbst die von seinem Bruder nicht, den er aus der ganzen Sache heraushalten wollte. Für diesen war es besser, wenn er von der ganzen Aktion nichts wusste, da er sich nur zu viele Sorgen machen würde. Das hatte ihm ihr Gespräch vor einer Woche deutlich gezeigt und genau das wollte er nicht.
Den Schlüssel ließ er daher dieses Mal auch im Schloss stecken, um zu verhindern, dass Cyrian seinen eigenen benutzte, um hereinzukommen, bevor er sich seinen Laptop schnappte, der auf seinem Schreibtisch lag, und mit diesem zum Fenster hinüber lief. Die breite Fensterbank war einer seiner Lieblingsorte, ganz besonders, wenn er nachdenken musste, weshalb er sich dafür entschied, auch seine Rede für den heutigen Abend genau dort zu schreiben. Zumindest hatte er dies vor, denn als er an seinem Bett vorbei war, bemerkte er etwas auf dem Fensterbrett, was dort noch nicht lag, als er sein Zimmer verlassen hatte: eine weiße Feder.
Stirnrunzelnd legte Crispin sein Notebook ab und griff danach. Wer hatte diese dorthin gelegt und vor allem: von was war sie? Für eine normale Vogelfeder war sie viel zu groß. Zumindest was die heimischen Vögel betraf, die hier lebten, denn selbst die Länge der Schwanzfedern eines Weißkopfseeadlers überstieg dieses Exemplar. Nachdenklich drehte er sie in seinen Händen und fuhr mit den Fingern durch die weiche Struktur. Ein schmerzhaftes Ziehen machte sich dabei in seinem Herzen breit und er musste unwillkürlich an August denken. Doch das war absoluter Blödsinn! Wie sollte dieser in sein Zimmer gekommen sein und warum sollte er ihm ausgerechnet eine weiße Feder aufs Fensterbrett legen? Mal davon abgesehen, dass es keinen Sinn machte, dass er hier auftauchte. Seit ihrer Auseinandersetzung hatte er nichts mehr von dem anderen gehört und er glaubte auch nicht mehr, dass sich an daran noch etwas änderte. Was auch immer das zwischen ihnen war, es war vorbei…
Vorbei…
Sich dies immer wieder vorsagend, schloss er die Lider und ließ die Feder sinken. Er sollte sich auf das konzentrieren, was er vorhatte, anstatt etwas nachzuhängen, dass wohl niemals sein sollte und nur ein kurzer Abschnitt in seinem Leben war, selbst wenn dieser alles darin auf den Kopf gestellt und verändert hatte. Es war vorbei.
Minuten vergingen, in denen er sich diese Tatsache immer wieder vor Augen hielt, bevor er diese wieder öffnete, die Feder beiseite legte und sich endlich daran machte, seine Rede zu schreiben, die er für den heutigen Abend brauchte und die auch in öffentlicher Hinsicht womöglich alles für ihn ändern würde. Zu seinem Glück begann die Tablette inzwischen zu wirken, sodass ihn die Kopschmerzen nicht davon abhielten, seinem Vorhaben umzusetzen. Seine verletzte Hand würde dies schon mehr als genug tun.

So gut sich Crispin während des Schreibens des Textes auch von der Feder, die in seiner Reichweite lag, und den seltsamen Gedanken an August, die diese auslöste, auch ablenken konnte, sie kamen zurück, sobald er den letzten Punkt setzte und sein Kopf nicht mehr damit beschäftigt war, die richtigen Worte zu finden. Und auch die ganze Zeit danach ließen sich die Überlegungen und das schmerzhafte Ziehen, das erneut auftauchte, nur äußerst schwer verdrängen. Als wollte ihm sein Unterbewusstsein zeigen, dass die ganze Sache nicht so abgehakt war, wie er sich das gerne einredete. Dabei konnte er das auch jetzt wenig gebrauchen, als die Treppen zum Eingang des Hotels hinauf lief, in dem die Veranstaltung zu Ehren des 50. Hochzeitstages seiner Großeltern stattfand.
Er war bereits ordentlich spät dran, da der Besuch beim Friseur und auch die Auswahl seines Anzugs für den heutigen Anlass länger gedauert hatten, als er dachte. Die U-Bahn, die ihn gerade so noch rechtzeitig hierher brachte, hatte er zudem nur knapp geschafft, sodass seine Laune durch den Stress rapide sank und schon jetzt stark Richtung Null tendierte. Der erstaunte und leicht missbilligende Blick des Portiers, an dem er vorbeikam, machte es da keineswegs besser.
"Glotz nicht so!", fuhr er ihn beim Vorbeigehen an, sodass er ertappt zusammenzuckte und zur Seite sah. Davon bekam er jedoch schon gar nichts mehr mit, da er sich bereits weiter seinen Weg bahnte. Dabei fiel ihm auf, dass sich immer wieder Leute zu ihm herumdrehten und anschließend die Köpfe zusammensteckten, um leises zu tuscheln.
"Es ist doch immer dasselbe", grummelte er kaum hörbar vor sich hin, denn er wusste ganz genau, warum sie ihn anstarrten. Nachdem er den wichtigsten Teil seiner Vorbereitungen beendet hatte, war er zu dem übergegangen, den jeder schon auf den ersten Blick sehen würde: seine Haarfarbe. Seine Eltern waren darauf bedacht, dass sowohl Cyrians als auch seine Haare immer klassisch schwarz waren, aber auf diese Regel pfiff er am heutigen Tag ebenfalls. Obwohl man ihm selbst beim Friseur davon abriet, sie in so kurzer Zeit sowohl zu bleichen als auch zu färben, da es sie zu sehr strapazierte, hatte er genau das getan. Er hatte sich lediglich dazu überreden lassen, das Ganze im Ombre-Look zu gestalten. Zuerst war er skeptisch bei dieser Idee, doch wie er nun sah, reichte die Menge an rot in seinen Haaren vollkommen aus, um die Aufmerksamkeit der konservativen Oberschicht und der Hotelangestellten auf sich zu ziehen.
Crispin war sich somit sicher, dass seine Familie noch weniger begeistert sein würde, als all die anderen Gäste und genau dies zeigte sich, als er den großen Saal betrat, in dem die Feier abgehalten wurde. Der Raum war bereits gut gefüllt. Viele Gesichter kannte er kaum bis gar nicht, da er sie entweder noch nie oder schon ewig nicht mehr gesehen hatte, sodass sein Gedächtnis es für zu unwichtig erachtete, sich an sie zu erinnern. Die Blicke aller Anwesenden waren ihm dennoch sicher, wobei ihm vor allem die von seinem Vater und seiner Mutter Interessierten.
Den Schock über seinen Anblick konnten sie kaum verbergen, genauso wenig wie den Ärger, der sich einstellte, nachdem sie sich wieder gefangen hatten. Bevor sie allerdings dazu kamen, ihn dafür zu maßregeln, trat seine Großmutter vor ihn. Im Gegensatz zu allen anderen, trug sie ein Lächeln auf den Lippen und schien sich über seine Anwesenheit wirklich zu freuen.
"Principino, ich hatte schon Angst, du kommst gar nicht mehr."
Eine warme und liebevolle Umarmung umfing ihn, die er nur zu gerne erwiderte, bevor sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte.
"Entschuldige die Verspätung, Halmeoni, aber ich würde euren großen Tag doch niemals verpassen."
Jedes seiner Worte meinte er vollkommen ernst, denn im Gegensatz zu seinen Eltern lagen ihm seine Großeltern wirklich am Herzen und sie hatten ihm nie das Gefühl gegeben, sich verstellen zu müssen. Für sie tat ihm sein Vorhaben ein wenig leid, da er es im Rahmen ihres Hochzeitstages tat, doch er hoffte inständig, dass sie ihm dies genau wie seine Verspätung verzeihen würden.
Nachdem Yoonji ihn los ließ, trat auch sein Großvater zu ihm und schloss ihn kurz in seine Arme, um ihn zu begrüßen.
"Ich freue mich, dich zu sehen, mein Junge."
Ich mich auch, Nonno, wollte er ihm erwidern und es lag ihm bereits auf der Zunge. Nur dazu, es auch wirklich auszusprechen, kam er nicht, da sich seine Mutter wütend einmischte und ihn davon abhielt.
"Crispin Cipriano, bist du von allen guten Geistern verlassen?", fuhr sie ihn an und machte sich keine Mühe, ihre Stimme dabei leise zu halten, sodass sie auch die umstehenden Gäste verstanden und zu ihnen sahen. "Erst kommst du fast zu spät, obwohl du ganz genau weißt, was heute auf dem Programm steht, und dann auch noch das?!"
Mit den Händen gestikulierte sie in die Richtung seiner Haare, denn ihr schienen die passenden Worte zu fehlen, um ihrem Unmut darüber Luft zu machen. Das musste sie auch gar nicht, denn ihr Tonfall sagte bereits alles aus, was sie nicht herausbekam. Seinem Vater erging es da schon besser, der seine Frau ein Stück zur Seite schob und näher zu ihm trat, um zu vermeiden, dass alle mitbekamen, was los war.
"Ich dachte, ich hätte mich vorhin klar ausgedrückt, aber für den Fall, dass du es vergessen hast: Dieser Abend ist außerordentlich wichtig. Nicht nur für meine Eltern sondern für die gesamte Familie. Wie kannst du es also wagen, so hier aufzutauchen? Was ist nur in dich gefahren, dass du in letzter Zeit immer das Gegenteil von dem tust, was man dir sagt?"
"Nevio."
Vermutlich wollte dieser noch mehr sagen, wurde von der sanften Stimme seines eigenen Vaters und der Hand, die dieser seinem Sohn auf die Schulter legte, um zusätzlich dafür zu sorgen, dass er ihm auch wirklich zuhörte, davon abgehalten.
"Das mit der Haarfarbe ist nun wirklich kein Grund, um sich aufzuregen. Cris ist noch jung. Lass ihn sich ausprobieren. Immerhin ist er nur einmal siebzehn."
"Jetzt nimm ihn nicht auch noch in Schutz, Vater-"
Bevor er dem Gespräch weiter folgen konnte, spürte er eine Hand, die am Ärmel seines Jacketts zupfte und seinerseits nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Crispin blickte zur Seite und sah, wie ihm sein Bruder deutete, mit ihm zu kommen. Nur zu gerne kam er dieser Aufforderung nach und ließ sowohl ihre Familie, die sich darüber ausließ, ob sein Verhalten nun richtig oder falsch war, als auch die neugierigen Blicke der anderen Gäste hinter sich. Erst als sie hinter dem provisorischen Vorhang ankamen, der die kleine Bühne, auf der bereits das Piano stand, vom Rest des Saals trennte, blieb Cyrian stehen und drehte sich zu ihm um. Ein leicht zweifelnder Blick traf ihn und wanderte von seiner Frisur bis hin zu seiner verletzten Hand, die er, kurz bevor er losgegangen war, noch einmal neu verbunden hatte. Besorgnis verdrängte die Zweifel, auch wenn er dennoch den Kopf schüttelte, als wollte er einige Gedanken verscheuchen, bevor er ihm in die Augen sah.
"Was genau hast du vor? Unsere Eltern und Marielles Familie mit einer neuen Haarfarbe zu schocken, ist doch sicher nicht alles, was uns heute erwartet, oder?"
Einen Augenblick lang starrte Crispin sein Gegenüber einfach nur an, doch vermutlich hätte ihm klar sein müssen, dass dieser ihn durchschaute, selbst wenn er ihn in seine Pläne nicht einweihte. Aus diesem Grund war es auch vollkommen sinnlos, auch nur einen Versuch zu starten, es abzustreiten.
"Alles kann ich dir unmöglich sagen, aber du kannst dich darauf gefasst machen, dass alle Anwesenden diesen Abend so schnell nicht vergessen werden. In negativer Hinsicht. Zumindest für die meisten."
"Pino-"
Mit einer kurzen Handbewegung und einem Kopfschütteln deutete er ihm, dass er nichts sagen sollte, denn er war noch nicht fertig mit seiner Ausführung. Einen kleinen Teil seines Vorhabens konnte er ihm immerhin auch konkret verraten, da dieser zu dem einzig positiven Aspekt seines Plans gehörte.
"Bevor ich die Bombe platzen lasse, gibt es für unsere Großeltern eine schöne Überraschung. Mom und Dad wird es nicht gefallen, aber das ist mir egal. Dieser Tag gehört Halmeoni und Nonno und somit haben sie es verdient, dass sie etwas zu hören bekommen, dass sie verbindet."
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, flackerte Erkenntnis in den Augen seines Bruders auf, der zu verstehen schien, was er vorhatte. Eigentlich hatten ihre Eltern eine ganz genaue Vorstellung vom Ablauf dieses Abends, was die Worte ihrer Mutter deutlich gezeigt hatten. Somit war auch das Stück, welches er spielen sollte, festgelegt und passte genau in den Rahmen dieser Veranstaltung. Es sollte etwas klassisches sein. Von einem Komponisten, dessen Namen jeder kannte, doch Crispin hatte nicht vor, sich daran zu halten.
Er hatte noch ganz genau vor Augen, wie ihm seine Großeltern immer wieder von ihrem ersten Aufeinandertreffen erzählten und wie die Augen seiner Großmutter begannen zu leuchten, wenn sie das Lied erwähnte, das sie noch heute mit diesem Tag verband. Schon als Kind hatte er begonnen, es auf dem Klavier zu spielen, um ihnen eine Freude zu bereiten, sodass er es noch immer konnte. Somit war für ihn vollkommen klar, dass er genau dieses am heutigen Abend spielen würde. Ob es nun in das vorgesehene Programm passte oder nicht.
"Bist du sicher, dass du das mit deiner Verletzung auch schaffst?"
Crispin hob seine Hand und sah darauf, wandte sich dann aber mit einem Nicken seinem Bruder zu.
"Das wird schon klappen. Muss es einfach", erwiderte er ihm und ein kurzes Lächeln huschte über Cyrians Lippen.
"Eigentlich hatte ich überlegt, dir anzubieten, das zu übernehmen, damit du sie schonen kannst, aber mit deinen roten Haaren wird das nichts. Und mit dem, was du geplant hast, wohl auch nicht."
Was der andere damit andeuten wollte, war ihm sofort klar: Er wollte die Rollen tauschen und damit alle zum Narren halten. Doch selbst wenn er sich nicht die Haare gefärbt hätte, sodass dies nicht möglich war, hätte er es nicht gewollt, weshalb er erneut den Kopf schüttelte.
"Das weiß ich zu schätzen, aber das muss ich heute alleine machen. Ich hoffe nur, dass die beiden mir verzeihen können, dass ich ihren Hochzeitstag sprenge."
Crispins Stimme wurde zum Ende hin leiser und er senkte den Blick, als er seine Bedenken aussprach. Die Hand, die sich plötzlich auf seine Schulter legte, ließ ihn jedoch wieder aufsehen und der Ausdruck in Cyrians Augen wirkte zuversichtlich.
"Ich bin mir sicher, dass sie dir das nicht übel nehmen werden. Und… auch wenn ich nicht weiß, was genau du vorhast: Ich werde immer hinter dir stehen. Ganz egal, was du tust."
Es war, als wüsste sein Bruder ganz genau, was seine zweite Angst war, wenn er daran dachte, was er heute tun wollte: Dass auch er sich von ihm abwandte, denn es bestand die Möglichkeit, dass seine Eltern dies tun würden. Immerhin übertraf sein Vorhaben alles, was er in den letzten Wochen getan hatte und wenn die beiden schon seine roten Haare beinahe zur Weißglut trieben, konnte er sich vorstellen, was los war, wenn sie hörten, was er zu sagen hatte.
"Danke", murmelte er, denn Cyrian nahm ihm damit gerade eine große Last von den Schultern. Dieser schenkte ihm ein Lächeln, drückte kurz seine Schulter und schob sich anschließend an ihm vorbei, um ihm noch einen Moment für sich zu geben, bevor der Abend nach seinen Vorstellungen los ging.

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Mit einem letzten Blick über die Schulter und auf seinen kleinen Bruder schob Cyrian den Vorhang ein Stück zur Seite, um zu seiner Familie zurückzugehen. Auch wenn er Crispin versichert hatte, dass er zu ihm stehen würde und er davon auch nicht abrücken würde, hatte er ein ungutes Gefühl im Bauch, wenn er daran dachte, was auf sie alle wartete, ohne dass die anderen etwas davon wussten.
Was haben wir denn?! Einen goldenen Käfig, in dem es nur Regeln gibt und wir nach ihrer Pfeife tanzen müssen.
Das reicht mir aber nicht mehr…
Er erinnerte sich noch sehr gut an ihr Gespräch aus der letzten Woche und an die Worte des anderen und genau diese machten ihm zum Teil Angst. Schon länger, als ihre Eltern ahnten, merkte er, wie Crispin gegen die Vorstellungen und Regeln von ihnen rebellierte. Erst nur im geheimen und seit er August begegnet war, auch deutlich sichtbar. Bisher hatte er jedoch gedacht, dass er es dennoch so lange aushielt, bis er alt genug war, um ausziehen zu können und sich sein Leben selbst zu gestalten, doch da lag er wohl falsch. Die Geduld seines Bruders war deutlich aufgebraucht und die Tatsache, dass ihm ebenfalls eine Verlobte vor die Nase gesetzt wurde, war offensichtlich der letzte Punkt einer Reihe von Fehlentscheidungen, die ihre Eltern getroffen hatten, weil sie keinen Gedanken daran verschwendeten, wie es ihnen damit ging.
Cyrian selbst hatte nie den Mut, auf diese Weise zu rebellieren. Stattdessen wollte er die Zähne zusammenbeißen und durchhalten, denn wenn sie alles hinwarfen, hatten sie wirklich gar nichts mehr außer sich und vielleicht auch noch ihren Großeltern. Doch vielleicht reichte seinem Bruder auch genau das: Mit ihnen zumindest drei Menschen an seiner Seite zu haben, die ihn so nahmen, wie er war. Auch wenn er sich bei ihm gar nicht so sicher schien, dass dies wirklich der Fall war. Seine Erleichterung, als er ihm seinen Rückhalt zusicherte, war zumindest nicht zu übersehen.
Eine weitere Person, auf die all das eventuell zutraf, fiel ihm ins Auge, als er seine Familie beinahe erreicht hatte. In der Nähe zur Ausgangstür stand August, der zwischen all den Leuten in ihren maßgeschneiderten Anzügen und Kleidern in seiner Kleidung von der Stange ein wenig fehl am Platz wirkte. Zudem schien er unschlüssig zu sein, ob er wirklich bleiben sollte, auch wenn sein Blick beinahe suchend durch die Menge ging. Ob sein Zwiespalt an der Gesellschaft lag, in der er sich hier befand, oder an etwas ganz anderem, konnte er nicht sagen, doch ihm war aufgefallen, dass Crispin und er sich seit ihrem letzten Gespräch über seine Ausflüge mit dem Schwarzhaarigen scheinbar nicht mehr gesehen hatten. Eine Tatsache, die er seltsam fand, da dies zwar nicht das erste Mal war, dass sie sich einige Zeit nicht gesehen hatten, er beim letzten Mal aber einen schlüssigen Grund dafür wusste und er hatte das Gefühl, dass etwas vorgefallen war, da sein Bruder diesmal nichts gesagt hatte.
Daher entschied er sich spontan um und steuerte statt seiner Familie den Überraschungsgast an, der selbst die Entscheidung getroffen zu haben schien, wieder zu verschwinden, da er ihm den Rücken zuwandte.
"August", rief er ihm nach und der Angesprochene hielt mitten in der Bewegung inne. Seine Haltung wirkte steif, bis er sich zu ihm drehte und sich bei seinem Anblick langsam entspannte. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, ob er ihn womöglich für seinen Bruder hielt, wodurch er sich in seiner Vermutung, dass zwischen ihnen etwas nicht stimmte, teilweise bestätigte fühlte.
"Wieso bist du hier?"
August sah ihn kurz an, wandte sich dann aber doch wieder von ihm ab, um scheinbar dem nachzugehen, was er gerade tun wollte, was seine Worte ebenfalls bestätigten.
"Ich wollte gerade wieder gehen."
Anhand seines reservierten Tonfalls und seines Auftretens hatte Cyrian das Gefühl, dass seine Frage abweisender und vorwurfsvolle klang, als sie eigentlich gemeint war, denn eigentlich wollte er tatsächlich wissen, was er hier wollte.
"Das sehe ich, aber das beantwortet meine Frage nicht", hakte er daher noch einmal nach, bemerkte aber bereits, dass es wieder einmal so klang, als hätte er hier nichts zu suchen, was ihn leise seufzen ließ. Zu seinem Glück sah der andere aber doch noch einmal zu ihm, schüttelte jedoch den Kopf.
"Ist nicht so wichtig. Es war ohnehin ein Fehler, überhaupt hierher zu kommen."
Jedes Wort und jede Reaktion, die er zu hören und zu sehen bekam, deutete immer mehr daraufhin, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, was sein Herz schwer werden ließ. So sehr er sich auch um seinen Bruder sorgte, weil dieser seit seiner ersten Begegnung mit August immer mehr rebellierte und dazu neigte, alles in den Sand zu setzen, was er hatte, ohne dass er wusste, ob er sich überhaupt Gedanken über die Konsequenzen gemacht hatte, merkte er doch, wie gut ihm die Zeit mit dem kleineren tat. Genauso spürte er aber auch seit einer Woche das Gegenteil davon.
Bevor er jedoch dazu kam, etwas zu sagen, um ihn womöglich vom Gehen abzuhalten, wurde es mit einem Mal still um sie herum. Die schwachen Hintergrundgeräusche, die durch die leisen Gespräche der Anwesenden entstanden, ebbten ab und verstummten komplett, was sowohl Cyrian als auch August dazu brachte, nachzusehen, warum dies der Fall war. Lange musste er nach dem Grund nicht suchen, denn er sah direkt zur Bühne am anderen Ende des Raums, auf der Crispin zu sehen war. Ein Umstand, der ihren Überraschungsgast dazu brachte, sich dem Geschehen wieder komplett zuzuwenden und neben ihn zu treten.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Cyrian, wie dieser seinen Bruder von oben nach unten musterte - wenn auch auf eine ganz andere Weise, als er dies vor ein paar Minuten hinter dem Vorhang getan hatte. Der Blick des anderen blieb anschließend die ganze Zeit über an dem jungen Pianisten hängen, der sich an das Musikinstrument setzte, ohne die Anwesenden überhaupt zu beachten. Es schien, als wollte er nicht eine Sekunde von dem Geschehen verpassen.
Die Stille blieb bestehen und zog sich, bis Crispin die ersten Töne spielte. Die Gäste blieben dennoch still, lauschten der Melodie, die bereits nach kurzer Zeit wieder verstummte. Ein Raunen ging daraufhin durch die Menge und Cyrian presste die Lippen zusammen. Er konnte sich denken, warum sein Bruder abgebrochen hatte. Scheinbar machte seine Hand doch mehr Probleme, als dieser glaubte und behauptete, und auch August schien der Verband an der rechten Hand aufzufallen. Er war jedoch hartnäckig und stur, sodass er es ein weiteres Mal versuchte - und erneut stoppte. Dies zu sehen, versetzte ihm einen Stich, denn er wusste ganz genau, wie viel dem anderen dieser Abend und vor allem die Überraschung für ihre Großeltern bedeutete.
Doch obwohl Cyrians komplette Aufmerksamkeit auf seinem jüngeren Bruder lag, bemerkte er, wie sich August neben ihm wieder anspannte. Aus diesem Grund löste er seinen Blick von der Bühne und dem dortigen Geschehen, um ihn auf den Mann neben sich zu heften. Einen Moment lang überlegte er, ob er etwas sagen sollte, entschied sich dann aber dafür und legte ihm dafür eine Hand auf die Schulter, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.
"Hör zu, ich habe keine Ahnung, was zwischen euch vorgefallen ist, aber eins weiß ich. Mein Bruder wird dich an diesem Abend noch mehr brauchen, als jeden anderen hier."
August wandte sich zu ihm. Seine Augen weiteten sich für einen Sekundenbruchteil, bis er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle brachte und seinen Blick erneut nach vorn richtete. Der Kampf, den er in seinem Inneren auszufechten schien, war nicht allzu deutlich und doch entging es Cyrian nicht, wie er mit sich haderte und überlegte, was er tun sollte. Beinahe glaubte er, dass seine Worte womöglich nichts brachten und er die Veranstaltung noch immer verlassen wollte, da sich die Sekunden wie Kaugummi zogen, bis er endlich eine Reaktion zeigte.
Als sich August dann in Bewegung setzte, war dies zu seiner Überraschung nicht in Richtung des Ausgangs sondern zur Bühne. Ein wenig verwirrt sah er ihm nach, da er nicht wusste, was er vorhatte. Das Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich, als er ihn dabei beobachtete, wie er sich einen Weg durch die anderen Anwesenden suchte, konnte er dennoch nicht verhindern. Nun hoffte er nur noch, dass sich das Problem, das Crispin und er hatten, lösen ließ.

Crispin Cipriano

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Zu behaupten, dass sich langsam aber sicher Frustration in Crispin breit machte, wäre wohl die Untertreibung schlechthin, denn bereits seit dem ersten Fehlversuch, das Stück zu spielen, war sie auf einem konstant hohem Level. Doch er wollte nicht aufgeben. Er durfte nicht aufgeben und das lag nicht nur daran, dass er es sich nicht verzeihen könnte, seinen Großeltern keine Freude zu machen, wenn er es nicht schaffte. Es ging gegen seinen Stolz, vor allen Anwesenden zu versagen, bevor er den Abend in eine Richtung schickte, mit der bis auf Cyrian keiner rechnete. Alleine der Gedanke daran frustrierte ihn noch mehr, daher versuchte er es auch noch ein drittes Mal, obwohl er spürte, dass sich die Wunde an seiner Hand bereits leicht wieder geöffnet hatte. Blut sickerte durch den Verband und auch die Schmerzen nahmen zu. Alles hinzuschmeißen kam ihm aber nicht in den Sinn, denn alles in ihm sträubte sich dagegen.
Umso mehr setzte es ihm zu, als auch dieser Versuch daneben ging, weil es zu sehr weh tat, die Finger zu bewegen, als hätte die Glasscherbe etwas erwischt, das ihn nun behinderte. Beinahe entmutigt entließ er die Luft aus seinen Lungen, als ihm immer mehr klar wurde, dass er es doch nicht schaffte. Sich diese Niederlage einzugestehen, war fast unmöglich und doch merkte er, dass er es tun musste. Das leise Gemurmel und Getuschel, das bereits nach seinem ersten Scheitern eingesetzt hatte, trug auch nicht gerade dazu bei, denn er konnte sich ganz genau vorstellen, was ihnen durch die Köpfe ging.
Der jüngste Spross der Cipriano Familie hat versagt.
Fast automatisch presste er die Kiefer fest aufeinander und versuchte dabei alles um sich herum auszublenden - bis zu dem Moment, als sich mit einem Mal eine warme Hand über seine verletzte schob und zumindest leichten Druck darauf ausübte.
Erschrocken sah er zur Seite und wollte seine Hand instinktiv wegziehen, erstarrte allerdings, als er sah, wer da neben ihm stand.
August, schoss es ihm durch den Kopf, während er ihn mit geweiteten Augen einfach nur anstarren konnte. Dass es im Saal plötzlich wieder komplett still wurde, nahm er gar nicht wahr, da er sich auf nichts anderes konzentrieren konnte, als auf den Mann neben ihm. Er wollte ihn fragen, was er hier wollte, doch sein Mund war trocken, während sein Herz komplett aus dem Takt geriet und zu rasen begann und mit einem Mal musste er sich eingestehen, dass er sich belogen hatte, als er sich einredete, dass das Thema August für ihn in der Vergangenheit lag. Sein Körper zeigte ihm deutlich, dass dem nicht so war.
Bevor er sich fangen und ihn endlich fragen konnte, aus welchem Grund er da war, grinste ihn der andere schief an.
"Du machst auch nur Blödsinn, wenn man nicht auf dich aufpasst", meinte er so leise, dass nur Crispin ihn hören konnte, der es noch immer nicht schaffte, auch nur einen Ton herauszubringen. Der Schwarzhaarige nutzte dies aus und sprach einfach weiter. "Rutsch mal ein Stück."
"Was willst du hier?", fragte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte und das Grinsen verschwand sofort aus Augusts Gesicht.
"Könnten wir darüber später reden? Im Moment will ich dir vor allem beim Spielen helfen."
"Kennst du denn das Lied überhaupt? Noten gibt es nämlich keine."
Crispins Stimme klang beinahe trotzig sowie herausfordernd. Auch wenn sich ein Teil von ihm freute, dass der andere hier war, so hatte er noch lange nicht vergessen, dass dieser ihm eine Woche zuvor regelrecht in den Rücken fiel. Ein erneutes Grinsen schlich sich dennoch auf Augusts Lippen.
"Ich kenne es. Darf ich dir nun also helfen? Alleine schaffst du es mit der Hand sicher nicht."
Genau das war auch Crispin klar und dennoch haderte er einen Moment lang mit sich, ob er auf die Hilfe tatsächlich zurückgreifen sollte. Auf der einen Seite wollte er nicht aufgeben und er hätte auf diese Weise die Chance, seinen Plan - fast - wie vorbereitet umzusetzen. Auf der anderen Seite war er äußerst nachtragend und die Erinnerung an die Worte des anderen bei ihrem letzten Gespräch schmerzte noch immer. Allerdings saß auch immer noch der Wunsch in ihm, August einmal spielen zu sehen, nachdem er das Klavier in dessen Wohnung gesehen hatte, sodass seine Entscheidung nach einer gefühlten Ewigkeit feststand.
Vorsichtig rutschte er auf der Klavierbank so weit zur Seite, dass noch eine zweite Person darauf Platz hatte. Die Wärme, die von dem anderen ausging, und der dezente Duft nach Vanille, der ihm in die Nase stieg, benebelten seinen Verstand, als er sich neben ihn setzte. Erst der empörte Ausruf seiner Mutter ließ ihn wieder klar denken.
"Crispin, was soll das werden? Wer ist dieser Mann?"
Um die Wirkung, die August auf ihn hatte, komplett zu verdrängen, schüttelte er kurz den Kopf und schaute anschließend für einen Moment an ihm vorbei zu seiner Mutter, die direkt vor der Bühne stand. Ihre Mimik dudelte nicht, dass er keine Antwort gab, doch genau das tat er und ihre ganze Reaktion bestärkte ihn noch in seiner Entscheidung, mit dem Schwarzhaarigen gemeinsam zu spielen.
Daher verschwendete er auch keine weitere Zeit - nicht zuletzt weil er ungeduldig war und wissen wollte, wie ihm August seine Anwesenheit erklären wollte - und wandte sich wieder dem Instrument vor ihm zu. Der andere neben ihm legte seine rechte Hand, die seine ersetzen sollte, auf die Tasten und nach einem kurzen Zeichen, dass es losgehen konnte, begannen sie das Lied zu spielen, das er für diesen Abend und für seine Großeltern im Kopf hatte.
Das Gefühl, das sich in den nächsten Minuten mit jedem Ton, der erklang, mehr in ihm ausbreitete, war kaum zu beschreiben. Neu, berauschend und als passiere gerade etwas, das ihm bislang fehlte: Eine echte Zugehörigkeit zu einer Person außerhalb seiner Familie, als hätte seine Seele den Teil gefunden, der zu ihr gehörte.
Dabei war das absoluter Blödsinn.
Crispin glaubte nicht an so etwas. Seiner Meinung nach mussten Beziehungen wie Freundschaft und Partnerschaft durchaus auf wahren Gefühlen basieren und die Arrangierungen, die in seiner gesellschaftlichen Schicht ganz gerne genutzt wurden, lösten Übelkeit in ihm aus, aber so eine Verbindung, wie er sie gerade zu spüren glaubte, war für ihn der größte Schwachsinn überhaupt. Oder etwa nicht?
Während er sich Gedanken darüber machte, glitt sein Blick aus dem Augenwinkel immer wieder zu August, doch bevor er tiefer in seinen Überlegungen und auch dem Anblick, der sein Herz noch immer durcheinander brachte, versinken konnte, war das Stück vorbei.
Das angenehme Gefühl, was es in ihm ausgelöst hatte, war schlagartig weg, als wäre er aus einem Traum erwacht. Die Realität holte ihn wieder ein und er wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen oder erneut mit August spielen, um es ein weiteres Mal zu erleben.
Crispins Plan für diesen Abend machte ihm bei diesem Wunsch jedoch einen Strich durch die Rechnung und seine Aufmerksamkeit lenkte sich wieder zu dem, was er vor hatte. Um den Moment jedoch trotzdem noch kurz auszudehnen, sah er direkt zu dem Schwarzhaarigen, der seinen Blick einfing und es genauso handhaben zu wollen schien.
"Cris…", begann er, doch Crispin schüttelte direkt den Kopf, um ihn davon abzuhalten, weiterzureden.
"Später. Erst muss ich noch was erledigen."
Verwirrung spiegelte sich in Augusts dunklen Augen, doch er erklärte nicht, was er vorhatte. Das würde sowohl die Überraschung nehmen als auch zu viel Zeit kosten. Aus diesem Grund stand er auf und trat an das Mikrofon, das unweit des Klaviers ebenfalls auf der Bühne stand. Dass der Applaus der Gäste ausblieb, nachdem das Stück beendet war, hatte er gar nicht mitbekommen. Es war, als wäre er mit August währenddessen in seiner eigenen kleinen Welt gewesen, doch wenn er das aufgeregte Gemurmel hörte, da alle wussten, welches Lied er eigentlich hätte spielen sollen, und das wütende Gesicht seiner Eltern sah, die lediglich von seinem Großvater davon abgehalten wurden, zu ihm zu kommen, war es ihm sogar ganz recht. In den Augen seiner Großmutter sah er das übliche Funkeln und ein Lächeln auf ihren Lippen, während sein Bruder gespannt schien, was nun passierte.
Als sich ihre Blicke trafen, nickte ihm Cyrian leicht zu. Crispin konnte nicht sagen, wie viel ihm alleine diese kleine Geste bedeutete, die zeigte, dass der andere wirklich zu ihm hielt, obwohl er nicht wusste, was er nun vor hatte. Für einen kurzen Moment schloss er die Lider, um sich zu sammeln, und als er sie wieder öffnete, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass August ebenfalls aufgestanden war und sich nah hinter ihn gestellt hatte, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Aufmerksamkeit zog er dennoch auf sich, doch das störte Crispin nicht, denn diese würde er gleich in vollem Umfang haben. Dafür zog er das Mikrofon aus seiner Halterung und begann mit seiner Rede, bei der er sich jetzt schon sicher war, dass sie anders ablaufen würde, als er sie früher am Tag notiert hatte.
"Ich weiß, dass dieser Abend eigentlich einen ganz genauen Ablauf hat, denn meine tollen Eltern haben immerhin alles bis ins kleinste Detail geplant. Allerdings habe ich nicht vor, mich daran zu halten."
Crispin machte eine kurze Pause, um sich seine nächsten Worte zurechtzulegen oder zumindest einen Anfang zu finden, während er gleichzeitig zu seinen Großeltern hinüber sah, da der nächste Teil sie beide betraf.
"An dieser Stelle sollte nun eigentlich eine lange Rede zu Ehren eures 50. Hochzeitstages kommen, aber seien wir mal ehrlich: diese Reden sind absolut unnötig! Warum soll man etwas mit tausend Worten oder mehr sagen, wenn es mit ein paar wenigen genauso treffend geht?! Daher wünsche ich euch an dieser Stelle alles Liebe zu eurem Hochzeitstag und hoffe, ihr habt noch viele tolle Jahre zusammen. Außerdem hoffe ich, ihr verzeiht mir, dass ich diesen Abend dafür nutze, um etwas loszuwerden, was ich schon lange hätte tun sollen. Es tut mir leid, dass ich das heute mache, denn euch betrifft das Ganze genauso wenig wie Cyrian."
Waren bis eben immer wieder Gäste zu sehen, die tuschelnd die Köpfe zusammensteckten und die Hand vor den Mund hielten, damit nicht alle umstehenden Personen das Gesagte zu hören bekamen, hatte er nun die volle Aufmerksamkeit, die er haben wollte. Alle Blicke lagen auf ihm, während gespanntes Schweigen herrschte. Selbst seine Eltern hatten aufgehört, aufgeregt auf seinen Großvater einzureden, der ihn offensichtlich in Schutz nahm, obwohl auch er nicht wusste, was sie nun erwarten durften.
Crispin ließ seinen Blick über die Menge wandern, ehe er die Stille durchbrach, die unheilvoll über allen schwebte. Zumindest kam es ihm so vor, doch er konnte sich denken, dass wohl keiner der anderen dasselbe wahrnahm. Menschen, die ohne durch die Blume hindurch sagten, was sie dachten, und das nicht nur hinter dem Rücken der betreffenden Person, gab es immerhin nur wenige bis gar keine. Somit rechnete vermutlich trotz seiner Ansage keiner mit dem nun Folgenden.
"Ihr anderen dürft euch aber gerne angesprochen fühlen. Vor allem ihr, Mom und Dad", fuhr er fort und richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Eltern, auch wenn seine nächsten Worte noch immer für alle und nicht nur für sie im speziellen gedacht waren. "Mir ist egal, ob euch gefällt, was ich zu sagen habe oder nicht. Ich habe lange genug die Klappe gehalten, denn... Ihr kotzt mich einfach alle an! Von eurer Oberflächlichkeit und eurer Ignoranz bis hin zu eurem Egoismus. Für den Fall, dass ihr euch dumm stellt und nicht wisst, wovon ich rede, hier ein kleines Beispiel…"
Ein empörtes aber auch gespanntes Raunen ging durch die Menge, während es noch immer diejenigen unter den Anwesenden gab, die dies alles vielleicht für einen schlechten Scherz hielten. So auch seine Eltern, denen er ansah, dass sie zwischen Unglauben und Schock schwankten. Ein Hauch Angst war ebenfalls dabei und seiner Meinung nach war diese auch berechtigt. Schließlich würde er nun alles, was sie sich über die Jahre hinweg an schöner Fassade rund um die Familie aufgebaut hatten, Stück für Stück einreißen.
Daher drehte er sich auf dem Absatz um und lief zurück zum Klavier, bei dem er die bereit gelegten Notenblätter an sich nahm. Auf dem Rückweg begegnete er Augusts Blick, dem zu dämmern schien, was er vorhatte. Ob er es gut oder schlecht fand, konnte er nicht sagen. Nicht mehr. Vor mehr als einer Woche hätte er womöglich darauf gewettet, dass es ersteres war, doch nun…
Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen, hatte er allerdings keine, wobei er trotz allem hoffte, dass er noch immer darauf wetten könnte, wenn er wollte. Die Wahrheit würde er aber erst erfahren, wenn das alles vorbei war, weshalb er sich wieder ein Stück vor ihn stellte, sodass ihn alle gut sehen konnten.
"Die hier...", begann er und wedelte kurz mit den Zetteln in seiner Hand, bevor er sie den Gästen in der ersten Reihe vor die Füße warf und weiter sprach: "...sind reine Deko für mich, denn ich kann damit sowieso nichts anfangen. Meine wunderbaren Eltern bestehen aber dennoch darauf, dass sie immer parat liegen, wenn ich spiele, um den Schein zu wahren."
Crispin wusste, dass er damit gerade seine größte Schwäche preisgab und das in einem Raum voller Aasgeier, die sich mit Freude auf jeden kleinen Makel stürzten, der ihnen zu Ohren kam, um von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken, doch da dies hier im Grunde seine Abrechnung mit allen wurde, konnte er darüber hinwegsehen, weshalb er auch unbeirrt weiter machte und sich nun direkt an seine Eltern wandte.
"Lange hatte ich dadurch das Gefühl, für euch nicht gut genug zu sein. Euch war das aber egal, denn in eurer Vorstellung sollten nun mal beide Kinder Klavier spielen können und ich bin damals beinahe verzweifelt, weil das Noten lesen nicht klappen wollte."
Der altbekannte Schmerz, der ihn als kleiner Junge ständig begleitet hatte, wenn er wieder einmal am Klavier saß und auf die Noten starrte, ohne sie mit den Tasten zusammenbringen zu können, meldete sich in seinem Inneren und er presste für einen Moment die Lippen aufeinander. Es war lange her und er war froh darüber, dass sich für ihn eine Möglichkeit fand, dass er dennoch spielen konnte, da es immer sein Wunsch war, seinem großen Bruder nachzueifern - ganz unabhängig davon, dass ihre Eltern dasselbe für sie vorgesehen hatten - und doch tat es noch immer weh, wenn er an die Zeit zurückdachte, in der er glaubte, es niemals zu schaffen..
Gemeinsam mit dem Schmerz kam allerdings auch die Wut, die sich darüber legte und ihn zumindest scheinbar linderte, da er dadurch weniger spürbar war. Sein Griff um das Mikrofon wurde stärker und er ignorierte das Getuschel der anderen, das durch seine Worte erneut ausgebrochen war.
"Erst Cyrian merkte irgendwann, dass ich die Noten gar nicht brauche, weil ich die Melodien schon nach ein paar mal hören im Kopf behalten kann. Doch selbst das schien nicht gut genug für euch zu sein. Oder ihr hattet einfach Angst, dass euer Lieblingssohn im Schatten des kleinen Bruders stehen könnte. Keine Ahnung. Doch ganz egal was es auch ist, dass jeder meiner Auftritte eigentlich die reinste Farce war, mich interessiert es nicht mehr."
Mit jedem Wort spürte Crispin, wie die Wut in seinem Bauch zunahm und es war schwer für ihn, dagegen anzukämpfen. Zu lange trug er das alles schon mit sich herum, da er bisher die Konsequenzen gescheut hatte. Er hatte seinen Ärger und seinen Missmut darüber hinuntergeschluckt, weil er glaubte, sonst alles zu verlieren, was er hatte.
Einen goldenen Käfig, rief er sich in Erinnerung und atmete tief durch. Dass er heute hier stand und es anders handhabte als all die Jahre, hatte er nur zwei Personen zu verdanken und zumindest einer der beiden wollte er nun genau das mitteilen. Dafür schluckte er seine Wut herunter und sah direkt zu Cyrian hinüber, der überrascht die Augen weitete, als befürchte er, dass nun auch er etwas Negatives zu hören bekam. Am liebsten hätte er ihm mit einem kurzen Lächeln oder einer anderen Geste signalisiert, dass dem nicht so war, doch die Wut, die noch immer unterschwellig in ihm brodelte, verhinderte dies. Um ihn daher nicht länger in dem Glauben zu lassen und keine Zeit zu verschwenden, fuhr er einfach fort, als er sich sicher war, dass er seine Stimme genug unter Kontrolle hatte, um ruhig zu klingen.
"Was ich an dieser Stelle meinem Bruder gerne sagen möchte ist: Danke."
Cyrians Anspannung legte sich sichtlich und aus der anfänglichen Befürchtung wurde Überraschung, die Crispin zumindest innerlich schmunzeln ließ.
"Bei dir konnte ich schon immer so sein, wie ich bin, ohne mich verstellen zu müssen. Du standest immer hinter mir und tust es selbst heute. Nicht selten hast du mich gedeckt, damit ich keinen Ärger bekomme und… Ich weiß, du bist der Meinung, du würdest mich vor anderen - vor allem vor unseren Eltern - nicht in Schutz nehmen, aber das stimmt nicht. Du tust es eben nur auf deine Weise. Ohne dich wäre ich zu Hause wohl verloren gewesen."
Crispin kam kaum dazu, seinen Satz auch wirklich für alle hörbar zu beenden, als mit einem Mal ein Tumult unter den Gästen ausbrach. Sein Großvater schaffte es nicht länger, seinen Vater zurückzuhalten, der sich wütend einen Weg durch die Menge suchte. Nachdem er einige Leute unsanft angerempelt hatte, machten ihm die übrigen freiwillig Platz, bis er vor der Bühne stand.
"Was fällt dir ein, so etwas zu sagen?! Du hast immer alles von uns bekommen, was du brauchtest. Alles, was wir getan haben, war für deine Zukunft und so dankst du es uns?! Du benimmst dich wie ein bockiges und undankbares Kleinkind! Und jetzt hör gefälligst mit diesem Schwachsinn auf und kommt dort herunter oder hole dich eigenhändig."
Er bekam alles, was er brauchte… Crispin wurde schlecht, wenn er das hörte. Vor allem da er ganz genau wusste, dass sein Vater es auch so meinte, wie er es sagte. In seiner Vorstellung reichte das, was sie für Cyrian und ihn getan hatten, vollkommen aus, damit ihr Nachwuchs nicht nur versorgt sondern auch glücklich war - ganz egal, wie falsch diese Ansicht auch war.
Automatisch nahm er eine angespannte Haltung ein und umfasste das Mikrofon stärker, während er die Kiefer zusammenpresste. Er wollte sich zurückhalten und seine Rede weiterführen, doch die Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf und der unerbittliche Blick seines Vaters tat sein Übriges. Daher schob er seinen Plan für einen Moment zur Seite, um auf ihn einzugehen.
"Alles, was ich brauchte?! Ist das dein verdammter Ernst?! Und was ist mit Liebe?! Geborgenheit, Rückhalt, Verständnis und wahre Unterstützung. Was ist damit?! Etwas zu essen und ein Schlafplatz reichen bei weitem nicht aus, wenn das wichtigste fehlt. Also kommt mir nicht damit, dass ich alles hatte, was ich brauchte, denn das, was ich wirklich brauchte, habe ich von euch nie bekommen und das gleiche gilt auch für Cyrian!"
Das Gesicht seines Vaters lief augenblicklich rot an vor Wut und Crispin sah, wie dieser drauf und dran war, auf die Bühne zu kommen. Was genau er dann vor hatte, wusste er nicht, doch ein Teil von ihm war froh, dass er das auch nie erfahren musste, da einer der Männer des Sicherheitspersonals dazwischen ging. Dieser schob sich vor Nevio und bildete somit eine Art Schutzmauer zwischen ihnen.
"Beruhigen Sie sich oder ich muss Sie bitten, diese Veranstaltung zu verlassen."
Die Stimme des Mannes war fest und duldete keine Widerworte. Sein Vater ignorierte es allerdings und wollte sich an ihm vorbei schieben, sodass der andere ihm eine Hand auf den Brustkorb legte und ihn davon abhielt.
"Ich meine es ernst. Wenn Sie die Veranstaltung weiterhin stören, muss ich Sie entfernen."
"Stören?! Haben Sie auch nur einen Moment gehört, was für einen Schwachsinn mein Sohn da von sich gibt? Er ist derjenige, der mit seiner Verleumdung die ganze Feier stört", wandte sich Nevio nun aufgebracht an den Mann, der jedoch nur den Kopf schüttelte.
"Ich habe durchaus zugehört. Mir darüber eine Meinung zu bilden, ist aber nicht meine Aufgabe. Ich bin lediglich hier, um den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten und dafür, dass nichts passiert. Zudem ist sein gutes Recht seine Meinung zu äußern, solange er niemanden beleidigt."
Crispin sah seinem Vater an, dass er wenig begeistert davon war, doch der Sicherheitsmann nahm ihm damit den Wind aus den Segeln. Wenn er weiterhin darauf bestand, auf die Bühne zu kommen, würde er den Raum und wohl auch das Hotel verlassen müssen. Genau das war auch ihm klar, weshalb er sich geschlagen gab - nicht jedoch ohne sich noch einmal an ihn zu wenden.
"Wir reden später."
Die Drohung war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören, bevor er sich abwandte und zu Yoona und den anderen zurücklief, doch Crispin machte sich nichts daraus. Angst hatte er keine und das nicht zuletzt, weil er nicht wusste, wann er an diesem Abend überhaupt wieder nach Hause kam. Das kam wohl ganz darauf an, wie das Gespräch mit August ablief.
Sein Blick wanderte für einen Moment zu ihm, nur um zu merken, dass der andere ebenfalls zu ihm sah. Besorgnis war in seinen Augen zu sehen, die er versuchte mit einem Lächeln zu überspielen. Dieses war allerdings zu schwach, um seine Sorgen zu kaschieren. Er hatte noch den Satz des anderen in den Ohren, dass er sich mit seiner Familie nicht komplett überwerfen sollte, sodass sich Crispin denken konnte, dass er die Szene eben nicht besonders gut fand, doch er musste das alles tun. Jetzt, wo sein Vater selbst für das Bröckeln der Fassade der heilen Familie gesorgt hatte, konnte er keinen Rückzieher machen.
Mit der Kritik, die August womöglich bei ihrem Gespräch dazu äußerte, wollte er sich nun allerdings nicht befassen. Darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen oder besser gesagt: Es würde es einfach auf sich zukommen lassen, denn nach seiner Ansprache hatte er mit Sicherheit auch keine Zeit dafür, sich Gedanken über verschiedene Szenarien zu machen, die eintreten könnten.
Crispin wandte sich wieder von ihm ab und blickte ins Publikum. Viele schienen verwirrt zu sein, was er ihnen nicht verdenken konnte. Seine Eltern waren immer darauf bedacht, das Bild einer Bilderbuchfamilie aufrechtzuerhalten. Ein rebellierender Sohn, der seinen Vater dermaßen aus der Reserve lockte, passte da absolut nicht hinein. Ihm war es jedoch egal und er hatte vor, dieses Bild noch weiter zu zerstören und vor allem seiner Familie noch etwas klar zu machen.
"Nach dieser kurzen Unterbrechung kommen wir wieder zum eigentlichen Thema, denn ich bin noch lange nicht fertig. Wie man aber schon gesehen hat, können meine Eltern weder mit der Wahrheit noch mit unbequemen Meinungen etwas anfangen. Beides scheint gerade unter den besser gestellten Leuten aber keiner gerne zu hören", fuhr er mit seiner Rede fort und sah dabei wieder explizit zu seinen Eltern, zu denen sich neben den L'amours auch Marielles Familie gesellte. Gerade letzteres war Glück für ihn, da er genau zu diesem Thema noch etwas sagen wollte: "So auch meine liebreizende angehende Verlobte und ihre Familie. Bis heute steht eigentlich noch eine Entschuldigung aus. Zumindest wenn es nach meinen Eltern geht. Es ist erst ein paar Stunden her, dass ich erneut daran erinnert wurde, aber darauf, dass ich mich für meine Worte entschuldige, könnt ihr lange warten. Für mich ist sie nun einmal genau das, was ich gesagt habe: eine aufgetakelte Pute."
Kurz flackerte die Erinnerung an die Worte des Sicherheitsmannes in seinem Bewusstsein auf, dass er nicht eingriff, solange er niemanden beleidigte. Diese Bezeichnung fiel aber mit Sicherheit darunter, weshalb er einen Blick in dessen Richtung riskierte. Crispin befürchtete fast, dass er erneut auf dem Weg zur Bühne war, doch er stand nur mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben der Tür, die in einen weiteren Gang führte und als Weg tiefer ins Hotel fungierte, um nicht durchs Foyer zu müssen, wenn man zu den Zimmern wollte. In seinen Mundwinkeln zuckte es, bis er seine Miene wieder unter Kontrolle hatte, sodass sich Crispin nicht sicher war, es wirklich gesehen zu haben. Wirklich wichtig war es allerdings nicht und da er nicht einschritt, machte er einfach weiter, in dem er direkt zu Marielle sprach.
"Aber ganz ehrlich damit passt du immerhin super in diese Gesellschaft, die fast ausschließlich aus Leuten wie dir besteht. Herzlichen Glückwunsch.
Dass ich dich auf keinen Fall heiraten werde, ist somit denke ich klar. Ich stehe nicht auf oberflächliche Barbiepüppchen und ich habe auch keinen Bock, mir vorschreiben zu lassen, mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen soll. Schon gar nicht für einen dämlichen Firmendeal, für den man regelrecht verkauft wird. Andere - wie leider auch mein Bruder - lassen das vielleicht mit sich machen, aber bei mir seid ihr damit an der falschen Adresse."
Wut spiegelte sich in den Augen der Blonden. So sprach wohl eher selten jemand mit ihr, sodass sie es nicht gewohnt war. Doch ihn wunderte das nicht weiter. Von ihren Eltern und der restlichen Verwandtschaft, genau wie von Freunden und Bekannten wurde sie mit Sicherheit wie eine Prinzessin behandelt und auf Händen getragen. Die Arroganz, die sie für gewöhnlich an den Tag legte, sprachen zumindest Bände. Bei der Vorstellung, mit ihr zusammenzuleben oder gar das Bett zu teilen… Er wollte gar nicht genauer darüber nachdenken. Gleichzeitig brachte ihn der Gedanke aber zu dem Punkt, den er unbedingt noch loswerden wollte, um die Absage der Verlobung noch zu untermauern.
"Der wichtigste Grund dafür, dass ich sie nicht heiraten werde, ist aber ein anderer…"
Crispin ließ das Mikrofon sinken und anstatt weiter zu reden, sah er über die Schulter zu August. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Grund, dass er einfach kein Interesse an Frauen hatte, lediglich zu nennen, doch nun da der andere da war, bildete sich eine ganz andere Idee in seinem Kopf, die mit jeder Sekunde, in der er ihn ansah, zu einem Wunsch wurde, der sich kaum noch verdrängen ließ. August hingegen blickte ihn verwirrt an, doch in seinen Augen war auch noch etwas zu sehen, dass er nicht deuten konnte. Ablehnung sah er allerdings keine, sollte er eine Ahnung davon haben, was gerade in ihm vorging. Aus diesem Grund drehte er sich auch zu ihm und überbrückte die restliche Distanz bis zu ihm. Die Frage, was er vorhatte, war dadurch deutlich in seinem Gesicht abzulesen, was ihn wiederum zögern ließ.
Die Zurückweisung eine Woche zuvor und auch das noch offene Gespräch trugen ebenfalls dazu bei, dass er sich in seinem Vorhaben unsicher war. Sollte er es wirklich tun oder es doch lieber so machen, wie er es geplant hatte?
Die Sekunden verstrichen, in denen er hin und her überlegte und doch zu keinem einstimmigen Ergebnis kam, während sein Unterbewusstsein ganz genau wusste, was es wollte und ihn weiter dazu drängte, es einfach zu tun. Dass hinter ihm alle anderen Anwesenden vermutlich jede kleine Bewegung von ihm im Auge behielten, blendete er dabei vollkommen aus. Die ganze Zeit über hing sein Blick an den dunklen Augen vor ihm, rutschte jedoch für einen Moment ein Stück tiefer, nur um anschließend wieder zurück zu wandern. Als frage er um Erlaubnis.
Da August auch hinterher keine negative Regung zeigte, obwohl langsam aber sicher Erkenntnis in seinen Augen aufflackerte, warf Crispin alle Bedenken über den Haufen, legte ihm seine freie Hand auf die Wange und küsste ihn vorsichtig. Sofort begann es in seinem Bauch zu kribbeln und er spürte, wie sich Augusts Lippen perfekt an seine schmiegten und dabei erwiderte dieser den Kuss nicht einmal, da er viel zu perplex war, um darauf zu reagieren.
Nur langsam löste er sich wieder von dem Älteren, der ihn auch danach überrascht ansah und nicht zu wissen schien, was er sagen oder tun sollte. Diesen Moment nutzend griff Crispin nach Augusts Hand, bevor er sich wieder zu den Gästen drehte, die ihn genauso geschockt ansahen. Er hob das Mikrofon wieder an, um seine Rede endgültig abzuschließen.
"Und nun könnt ihr euch alle gerne das Maul über mich zerreißen. Hinterm Rücken könnt ihr das ja besonders gut. Mir ist es egal, denn ich habe auch keinen Bock mehr, mich in irgendeine Form pressen zu lassen, nur weil es euch so besser passt. Für mich seid ihr gestorben."
Ohne zu zögern ließ Crispin das Mikro fallen, sodass es polternd auf dem Boden aufkam. Ob es dabei Schaden nahm, war ihm egal und er würdigte auch seine Familie keines weiteren Blickes. Stattdessen zog er August von der Bühne, der sich nicht dagegen wehrte, und lief mit ihm auf die Tür zu, neben der der Sicherheitsbeamte stand. Dieser trug ein schwaches Grinsen auf den Lippen, als sie auf seiner Höhe waren. Das "Tolle Rede", das er von sich gab, war nur leise, für ihn aber doch hörbar, sodass er kurz zu ihm sah und die verzogenen Mundwinkel noch bemerkte, die ihm zeigten, dass er sich den Satz nicht nur eingebildet hatte. Somit war ihm nun auch klar, warum er selbst bei den Beleidigungen nicht eingeschritten war: Er hatte den Mann bei seiner Meinung auf seiner Seite.

Die Gänge des Hotels, die Crispin gemeinsam mit August auf der Suche nach einem Ort durchquerte, an dem sie ungestört sein würden, waren weitestgehend leer und doch hielt er in keinem von ihnen an. Er wollte nicht Gefahr laufen, dass einer der Gäste der Veranstaltung oder gar seine Eltern auftauchten und sie bei ihrem Gespräch störten. Wenn es nach ihm ging, wollte er letztere an diesem Abend und am liebsten auch in den nächsten Tagen auch gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.
August schien allerdings andere Pläne zu haben, da er überraschend stehen blieb. Verwirrt drehte er sich zu ihm und wollte ihn fragen, warum er nicht weiter lief, doch bevor er dazu kam, wurde er auch schon in einen abzweigenden Gang gezogen, der aussah, als führe er in den Bereich des Hotels, zu dem lediglich die Angestellten Zutritt hatten. Bis dorthin wollte der andere aber auch gar nicht, da er wenige Schritte von der Tür erneut stehen blieb und sich zu ihm drehte.
Einen Moment lang sah sich Crispin um, da er sichergehen wollte, dass sie hier auch wirklich nicht so schnell gesehen wurden. Zu seinem Glück war dies der Fall und er wandte sich wieder zu dem Schwarzhaarigen. Eigentlich hatte er vorgehabt, ihn noch einmal zu fragen, warum er überhaupt hier war, doch als er ihn so nah vor sich stehen sah, ohne dabei beobachtet zu werden, bekam er kein Wort heraus. Nur zu deutlich drängte sich der Kuss, zu dem er sich hinreißen ließ, in sein Bewusstsein, sodass sein Blick wieder ein Stück nach unten rutschte und an den weichen Lippen hängen blieb.
Bis ihm bewusst wurde, was er da tat und doch wieder hinauf sah - und direkt in die dunklen Augen seines Gegenüber, der genauso wenig zu wissen schien, was er sagen sollte.
Die ganze Situation war seltsam, da er nicht darüber nachgedacht hatte, was nach dem Kuss passieren würde - wie so oft, wenn er sich keinen Kopf über die Konsequenzen seiner Handlungen machte. Nun war es dafür zu spät, doch da das Schweigen wie eine schwere Decke über ihnen lag und er es nicht länger ertrug, brach er es mit dem ersten, was ihm in den Sinn kam.
"Hör zu… Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, was ich getan habe. Dafür-"
"...bist du einfach nicht der Typ, ich weiß", unterbrach er ihn und zog für einen Moment schwach einen Mundwinkel nach oben, um ein schiefes Grinsen anzudeuten. Crispin schüttelte daraufhin den Kopf und schob die Hände in die Taschen seiner Anzughose, bei der er sich jetzt schon wünschte, diese hoffentlich bald wieder los zu sein.
"Das auch, aber… Das meine ich diesmal nicht."
Bevor er noch mehr als das sagen konnte, unterbrach er sich selbst und presste die Lippen zusammen. Um zu verraten, dass es ihm zu sehr gefiel, um es zu bereuen und dass er sich deshalb nicht dafür entschuldigen würde, war es noch zu früh. Bisher wusste er noch immer nicht, wie er bei August stand und das gemeinsame Spielen zusammen mit dem von seiner Seite nicht abgebrochenen Kuss verwirrten ihn eher noch mehr, wenn er zusätzlich an ihr letztes Treffen zurück dachte.
"Ist im Moment aber auch nicht so wichtig. Du wolltest mir sagen, warum du hier bist", lenkte er das Gespräch daher zu dem Thema, wegen dem er den anderen überhaupt in eine ruhige Ecke geschleift hatte.
Augusts Reaktion erfolgte prompt, indem er begann, mit seinen Ringen zu spielen - für ihn inzwischen ein deutliches Zeichen für dessen Nervosität.
"Es ist... kompliziert."
Crispin grummelte leise, denn er fühlte sich gerade wie in einem schlechten Film, in dem sich die Leute auch immer versuchten, mit so einem Satz herauszureden oder vor der Wahrheit zu drücken. Etwas, das er auch jetzt befürchtete. Vor allem wenn er bedachte, dass er schon bezüglich der Arbeit, der der andere nachging, von diesem belogen wurde.
"Dann mach es einfach!"
"Das ist leichter gesagt, als getan", wandte der Schwarzhaarige kopfschüttelnd ein und Crispin bekam immer mehr das Gefühl, dass dieses Gespräch vielleicht doch die reinste Zeitverschwendung war. Am liebsten hätte er August einfach stehen lassen, auch wenn er wusste, dass dieser sich gerne mal in Ausflüchte rettete oder um den heißen Brei herumredete, wenn er nicht so ganz mit der Sprache herausrücken wollte.
Seine Neugier war allerdings zu groß, um ohne eine vernünftige Antwort zu gehen. Er wollte unbedingt wissen, warum er hier war, nachdem ihr letzter Abend so katastrophal endete, denn wenn er das nicht erfuhr, würde sein Kopf bezüglich dieser Frage wohl niemals Ruhe geben. Daher entschloss er sich dazu, darauf zu warten, ob August doch noch etwas von sich gab, um das Ganze zu erklären.
Die Zeit zog sich dabei wie alter Kaugummi und Crispin hatte nach wenigen Augenblicken das Gefühl, dass er bereits ewig wartete. Er war schon am überlegen, seine Entscheidung noch einmal zu revidieren und doch mit der Tatsache zu leben, dass er nicht erfahren würde, warum der andere hier aufgetaucht war, als ihn August endlich erlöste.
"Eigentlich wollte ich nur kurz herkommen, um dich noch einmal zu sehen, bevor… es für mich wahrscheinlich nach Hause geht. Du solltest mich dabei auch gar nicht mitbekommen, aber dein Bruder hat mich entdeckt, als ich gerade 'nen Abgang machen wollte."
Crispin konnte nicht genau beschreiben, was genau dieses Geständnis in ihm auslöste. Dafür waren es zu viele Gefühle auf einmal, die sich in ihm aufbauten und andere dabei unter sich begruben. Tief in seinem Inneren hatte er gehofft, dass August hier war, um noch einmal mit ihm zu reden, dass er sich endlich dazu durchgerungen hatte, das alles aufzuklären und es eventuell auch zurückzunehmen. Genau diese Hoffnung zerplatzte nun jedoch wie eine Seifenblase und hinterließ dabei ein großes Loch in ihm, dass sich mit Schmerz und Enttäuschung füllte. Zudem fragte er sich nun noch viel mehr, warum ihm der andere dann überhaupt geholfen hatte, das Stück zu spielen, wenn in seinem Plan gar nicht vorgesehen war, dass er seine Anwesenheit mitbekam.
Diese Frage zu stellen, würde jedoch zu viel von dem preisgeben, was gerade in ihm vorging und er war nicht bereit, August dies zu zeigen, obwohl er sonst einer der wenigen war, vor denen er auch nicht verstecken musste, wenn es ihm nicht gut ging. Aus diesem Grund konzentrierte er sich auf etwas anderes, das ihn stutzig machte und mit dem er gut von seinem Gefühlsleben ablenken konnte - sowohl den anderen als auch sich selbst.
"Was heißt nach Hause? Ich dachte, du lebst schon immer hier", fragte er und zog dabei die Augenbrauen zusammen. Er war sich sicher, dass August etwas ähnliches erwähnt hatte, als sie sich darüber unterhielten, wo seine Wurzeln lagen, da sein Äußeres nicht zu seinem Nachnamen passte.
Ein trauriges Lächeln erschien auf den Lippen seines Gegenübers, das ihn noch ein wenig misstrauischer machte. Mit einem Mal fragte er sich, ob es überhaupt etwas gab, bei dem er sicher sein konnte, dass es stimmte, als August es ihm sagte. Dieses Gefühl der Ungewissheit war schmerzhaft, denn bisher glaubte er, dass er sich zumindest in dem Punkt auf den anderen verlassen konnte - wenn es nicht gerade um seine Arbeit ging. Der Schwarzhaarige wusste, wie wichtig es ihm war, dass er Leute um sich hatte, die ehrlich waren, da er in einem Umfeld aufwuchs, in dem dies eher die Ausnahme als die Regel war.
Augusts erneuter Versuch, sich vor einer wirklichen Antwort zu drücken, in dem er sagte: "Das ist das Komplizierte an der Sache", bekam er durch seine Gedanken nur am Rande mit, doch es hinterließ ein weiteres flaues Gefühl in ihm. Dennoch wollte er ihm eine Chance geben, das Ganze zu erklären, weshalb er schwieg und ihn einfach nur ansah.
Der Ältere hingegen spielte unablässig an seinen Ringen. Crispin fiel die Redensart ein, jemanden beinahe denken sehen zu können, denn genau das war gerade der Fall. In Augusts Kopf ratterte es und er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, da er den Verdacht hatte, dass es noch etwas dauern könnte, bis der andere endlich weiter sprach.
"Im Grunde hattest du von Anfang an Recht", durchbrach August mit einem Mal doch, schneller als gedacht, die Stille. "Ich bin kein Kammerjäger. Zumindest nicht im klassischen Sinne."
Skeptisch hob Crispin eine Augenbraue und sah ihn einen Moment lang an, da alleine diese Reaktion schon deutlich zeigte, was er von dieser Aussage hielt. Die Bestätigung zu haben, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, war allerdings keine große Hilfe dabei, sich in dieser Situation besser zu fühlen.
"Ach? Und in welchem Sinne dann?", wollte er dann aber doch wissen, bevor der andere auf die Idee kam, ihn lediglich mit dieser Antwort abzuspeisen und nichts weiter dazu zu sagen. Erneut legte sich Schweigen über sie, während sie sich einfach nur ansahen und August seine Lippen befeuchtete. Crispin folgte der Bewegung mit den Augen und in ihm meldete sich ein weiteres Mal der Wunsch, ihn einfach zu küssen. Diesem Bedürfnis nachzugeben, stand aber außer Frage, weshalb er es zurückdrängte. Um dies zu schaffen, wandte er seinen Blick für einen Moment ab, da er anders nicht garantieren konnte, dass er nicht doch schwach wurde.
"Cris, glaubst du an Schutzengel?", lenkte August seine Aufmerksamkeit nur kurz darauf wieder auf sich und er sah zu ihm - ohne jedoch etwas zu sagen, da er nicht wusste, worauf er hinaus wollte. "An Wesen, die über einen wachen und einem aus der Patsche helfen, wenn man sie braucht? Wie oft hast du dir schon gedacht 'Heute wäre ich beinahe draufgegangen', nur um in letzter Sekunde gerettet zu werden?"
Crispins Augen weiteten sich ungläubig. Wollte er ihn auf den Arm nehmen? Er hatte keine Ahnung, ob er das ernst meinte und was das Ganze zudem damit zu tun hatte, dass August offensichtlich doch nicht aus dieser Stadt kam. Wieso macht er da überhaupt so ein riesengroßes Geheimnis draus?, ging es ihm durch den Kopf. Äußern tat er allerdings etwas anderes, indem er leise schnaubte.
"Sowas gibt's nicht. Das ist absoluter Schwachsinn!"
Ein kurzes schwaches Lächeln huschte über Augusts Gesicht, dessen Bedeutung er nicht ganz deuten konnte. Dafür war es zu schnell wieder verschwunden, aber er glaubte darin so etwas wie Verständnis aber auch Enttäuschung zu sehen. Gerade letzteres konnte er sich absolut nicht erklären, denn warum sollte er enttäuscht darüber sein, dass er nicht an Engel glaubte?
Oder war es etwa doch möglich…?
Innerlich schüttelte er sofort den Kopf, denn alleine der Gedanke war absolut abwegig und der Versuch, sich dies vorzustellen, beinahe unmöglich. Auch wenn sein Großvater gläubiger Christ war und auch sein Vater so aufgewachsen war, hatte er der Kirche doch den Rücken gekehrt und er selbst hatte damit nie etwas am Hut. Schon als Kind hatte er die Besuche in der Kirche zu Weihnachten gehasst und dabei war es vollkommen egal, wie sehr er seine Großeltern mochte. Die Idee, dass es die Engel aus der Bibelgeschichte eventuell doch gab war vollkommen idiotisch.
Während er sich dies immer wieder durch den Kopf gehen ließ und dennoch der Meinung blieb, dass dies alles nur erfundener Schwachsinn war, griff August in die Innenseite seines eigenen weißen Jacketts. Von seinen Überlegungen dadurch abgelenkt sah er zu ihm und was er dann zu sehen bekam, ließ ihn den anderen ungläubig anstarren. Die weiße Feder, die er hervorholte, erinnerte ihn an das Exemplar auf seiner Fensterbank, doch diese konnte es unmöglich sein, denn er hatte sie in der abschließbaren Schublade seines Schreibtisches verstaut, sodass niemand herankam. Auch wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, wie sie dorthin gekommen und von wem sie war, war das Gefühl, das sie in ihm hinterließ doch intensiv genug, um sie so aufzubewahren, dass kein anderer sie zwischen die Finger bekam.
Die Feder, die er nun vor Augen hatte, sah ganz genauso aus und er war unfähig, auch nur einen Ton zu sagen. Das einzige, zu dem er fähig war, war sie sprachlos anzustarren, bis er merkte, dass er langsam die Hand danach ausstreckte, um sie berühren zu können. Die Beschaffenheit fühlte sich unter seinen Fingern weich an, so wie er es auch bei der anderen festgestellt hatte.
"Genau wie die zu Hause", murmelte er noch immer fassungslos, da ihm langsam bewusst wurde, dass ihn das Gefühl nach August, das sie in ihm auslöste, nicht falsch war. Als hätte sein Unterbewusstsein dadurch etwas begriffen, was ihm selbst bis jetzt verborgen blieb. Das leise "Die sollte eine Art Abschiedsgeschenk werden", nahm er nur am Rande war. Erst beim nächsten Satz des Schwarzhaarigen war er wieder in der Lage, seinen Blick von dem Gegenstand in dessen Händen zu lösen.
"Ich… Ich bin ein Engel. Allerdings keiner von denen, die Menschen retten. Mein Job ist es den Müll in Form von Dämonen zu entsorgen. Nun ja, bis auf eine Ausnahme"
"Das kann unmöglich sein…", hörte er sich selbst sagen, da er noch immer nicht fähig war, das Ganze zu begreifen. Sein Verstand wollte ihm immer wieder sagen, dass es so etwas nicht gab und in den Bereich der Religion und Fantasy Geschichten gehörte, aber nicht in die Realität. Sein Herz war dagegen eher bereit es zu glauben, da so einige Dinge mit einem Mal Sinn machten. Ganz besonders Augusts Abneigung gegenüber den einfachsten technischen Geräten oder dem fehlenden Wissen über popkulturelle Dinge. Für einen Menschen des 21. Jahrhunderts war es seltsam, doch für einen Engel...
"Ich weiß, dass das alles unglaublich klingt, aber diesmal ist es die Wahrheit. Vor etwa einem Jahr wurde ich aufgrund eines massiven Missverständnisses aus dem Himmel verbannt und seitdem versuche ich alles, um mir den Rückweg zu verdienen und das aufklären zu können. Ich habe dafür jeden Dämon gejagt, gegen den ich bestehen konnte", holte ihn der andere aus seiner noch immer anhaltenden Starre, die sich erst jetzt langsam löste. Gefolgt von einer weiteren Erkenntnis, die schneller über seine Lippen kam, als er sie zurückhalten konnte.
"Das heißt damals an dem Abend in der Gasse…"
Weiter kam er nicht, denn er unterbrach sich selbst. Nur daran zu denken, dass sein Gegenüber ein Engel war, der Dämonen jagte, war skurril, weshalb er es nicht schaffte, es tatsächlich auszusprechen. Ein Teil von ihm war zudem immer noch der Meinung, dass August ihn auf den Arm nahm und ihm bald mitteilte, dass er ihm gerade einen Bären aufband. Dieser nickte allerdings auf seine Worte hin und bestätigte seinen Verdacht.
"Da war ich tatsächlich bei einem Auftrag. Nur ist mir der Dämon entwischt. Allerdings war die Alternative zu der Jagd um Welten besser."
Ein nun deutlich schiefes Grinsen war auf den Lippen des anderen zu sehen und Crispin konnte sich denken, was er mit der Alternative meinte, doch darauf eingehen konnte er nicht. Sein Gehirn war noch damit beschäftigt, dass er August an einem Abend kennenlernte, als dieser dabei war, eigentlich eine Kreatur zu jagen, die man sonst nur aus Gruselgeschichten kannte. Musternd ließ er seinen Blick über ihn wandern, als würde er ihn das erste Mal oder zumindest mit völlig anderen Augen sehen.
Der Schwarzhaarige wirkte alles andere als ein Jäger. Er war klein und schmächtig. Unauffällig, wenn man es in diesem Kontext sah, und doch bekam er immer mehr das Gefühl, dass er ihm die Wahrheit sagte - so abwegig die für ihn auch sein mochte. Bei diesem Gedanken blieb sein Blick an der Feder hängen, die er noch immer in den Händen hielt. Schon zu Hause war ihm aufgefallen, dass sie viel zu groß für einen Vogel war, doch für einen Engel…
Während Crispin die Feder weiter betrachtete, in der Hoffnung, dass sich sein Inneres endlich dafür entschied, ob er ihm glauben wollte oder nicht, sickerte langsam der Satz in seinen Verstand, dass das Exemplar, das er in seinem Zimmer hatte, ein Abschiedsgeschenk sein sollte und im selben Moment wurde ihm auch wieder bewusst, dass August eigentlich gar nicht, wollte, dass er ihn noch einmal sah. Aus welchem Grund er schlussendlich doch geblieben war, wusste er jedoch bis jetzt noch nicht und da er bei der Engelsgeschichte auf keinen Nenner kam, konzentrierte er sich lieber wieder auf das, was er ursprünglich wissen wollte.
"Warum bist du dann geblieben, anstatt dich aus dem Staub zu machen? Cyrian hätte dich sicher nicht aufgehalten, wenn du es wirklich drauf angelegt hättest."
Perplex über den plötzlichen Themenwechsel weiteten sich Augusts Augen und er brauchte sichtlich einen Moment, um sich wieder zu fangen. Vielleicht hatte er auch gehofft, dass Crispin diese Sache abhakte und vergaß, da sein Kopf mit der Tatsache beschäftigt war, dass August ein Engel sein sollte. Sollte dies der Fall sein, hatte er sich jedoch getäuscht.
"Weil-", begann er, brach allerdings ab und setzte nach einem kurzen Zögern erneut mit seiner Erklärung an. "Als ich dich auf der Bühne gesehen habe, wurde mir klar, dass ich gar nicht mehr zurück will."
Crispin zog die Augenbrauen zusammen, denn es war im Großen und Ganzen noch immer keine plausible Antwort. Schon gar nicht, wenn der andere bisher alles daran gesetzt hatte, dorthin zurück zu können, wo er her kam, und auch heute noch diesem Plan nachgehen wollte. Eine leise Stimme in ihm sagte ihm, dass es vielleicht er war, der ihn umgestimmt hatte, doch die Hoffnung, die sich im gleichen Zug in ihm regte, verbannte er direkt wieder, bevor sie zu groß wurde und von dem anderen eventuell doch zerstört wurde.
"Und was willst du dann?"
Leise lachend schüttelte August den Kopf, als wollte er ihm sagen, dass dies doch offensichtlich sei. Als läge die Antwort direkt vor ihm, ohne dass er sie sehen konnte. Fragen, was er denn so lustig fand, konnte er jedoch nicht, denn der Schwarzhaarige griff - ihm eine Antwort für den Moment schuldig bleibend - nach seiner Krawatte und zog ihn damit näher zu sich, bis er bereits den warmen Atem von ihm spüren konnte. Das leise gemumelte "Dich", spürte er eher, als dass er es wirklich hörte. Sein Herzschlag, der völlig aus dem Takt geriet, als ihm der andere so nah kam, dass sie nur noch wenige Zentimeter trennten, hätte es ihm aber vermutlich ohnehin unmöglich gemacht, es zu verstehen.
Kurz darauf lagen Augusts Lippen schon auf seinen und waren damit ohnehin Antwort genug. All die Gedanken, die er sich bis eben noch gemacht hatte, waren mit einem Mal vollkommen vergessen, doch das war auch nicht weiter schlimm, denn alles, was zählte, war, dass August blieb. Und das seinetwegen.

The End