Wind Beyond Shadows

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Crispin Cipriano

Mit einem äußerst skeptischen Ausdruck in den Augen musterte Crispin das Kleidungsstück, welches Cyrian ihm gerade vor die Nase hielt. Sein Blick glitt von oben nach unten und anschließend auf demselben Weg wieder zurück, bis er seinem Bruder ins Gesicht sah und den Kopf schüttelte.
"Das Teil werde ich ganz gewiss nicht anziehen. Ich habe keine Lust, den glitzernden Vampiren aus diesem grottenschlechten Film Konkurrenz zu machen."
Vielleicht übertrieb er ein wenig, doch er kam nicht umhin, genau daran zu denken, wenn er die dünnen Nadelstreifen betrachtete, die sich in regelmäßigen Abständen über die gesamte Länge des Stoffes zogen und bei jeder Bewegung zu funkeln begannen, wenn sich die Lichtstrahlen in den glänzenden Fäden verfingen. Er hatte so schon Probleme, sich voll und ganz mit der Idee anzufreunden, die ihm in den Kopf kam und vor der er sich solange gedrückt hatte, bis es beinahe zu spät war, um sie umzusetzen, da wollte er nicht auch noch aussehen wie eine halbe Discokugel.
Das leise Seufzen seines Gegenüber drang an seine Ohren, als dieser sich von ihm abwandte, um den Kleiderbügel zurück in den Schrank zu hängen und den nächsten daraus hervorzuholen, den er ihm kurzerhand zeigte. Crispin konnte sich sehr gut vorstellen, dass er seinem sonst so geduldigen Bruder gerade fast den letzten Nerv raubte. Immerhin war er vor etwa einer halben Stunde bei ihm aufgetaucht und hatte ihn um Hilfe gebeten, nur um jetzt alles abzulehnen, was er ihm vorschlug. Und auch bei dem Teil, was er nun vor Augen hatte, sah die ganze Sache nicht anders aus. Der Stoff war schlicht und ohne die abschreckenden Streifen, schwache Muster, die ihn dennoch störten, oder andere Dinge, die dafür sorgten, dass er das Ganze von der ersten Sekunde an ablehnte. Dieses Mal war es die Farbe, weiß mit einem schwarzen Kragen, die ihn die Augenbraue heben und somit alles sagen ließ, was ihm dazu zusätzlich auf der Zunge lag. Cyrian schien es zu merken, bevor er es in Worte fassen konnte und hängte auch dieses Exemplar wieder dorthin zurück, wo er es hergenommen hatte.
"Das war nun der letzte und du hast sie alle abgelehnt. Dir ist bewusst, dass du nicht mehr viel Zeit hast, um dich zu entscheiden, wenn du August pünktlich heute Abend, wenn er nach Hause kommt, überraschen willst, oder?"
"Ja, ich weiß. Die Auswahl ist nur miserabel und trifft absolut nicht meinen Geschmack", entgegnete er ihm, während er sich resigniert und zum Teil auch frustriert auf das Bett seines Bruders setzte und sich auf den Rücken fallen ließ. Er wusste, dass ihm die Zeit davon lief, aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, einen Anzug zu tragen, der ihm nicht einmal ansatzweise zusagte.
"Deinen Geschmack treffen lediglich Jeans und weite Pullover. Beides wäre aber keine Überraschung."
Sofort entfuhr Crispin ein leises Grummeln, denn er wusste ganz genau, dass der andere recht hatte. Anzüge waren einfach nicht sein Fall - ganz egal, wie sie aussahen - und er fragte sich mit einem Mal, warum er überhaupt auf die Idee kam, sich das Ganze anzutun, obwohl er es hasste, sich in diese Dinger zu quälen. Er vermied es schon damals, als ihre Eltern noch darauf bestanden und rebellierte dagegen, sobald er alt genug war. Nachdem er nicht mehr unter ihren Fittichen stand, ging er ihnen zudem so weit aus dem Weg, dass er ihnen nicht auf mehrere Meter zu nahe kam, weshalb er auch alle Anzüge seines Bruders kurzerhand entsorgt hatte, als er dessen Körper übernahm. Zum damaligen Zeitpunkt dachte er immerhin, dass er das dauerhafte Zuhause für ihn sein würde. Dass sich daran einmal etwas ändern und er sich seinen Bruder zurück wünschen würde, hätte er da niemals gedacht. Doch nun war er hier, in Cyrians Schlafzimmer, weil er ihn darum gebeten hatte, ihm zu helfen, da dieser im Gegensatz zu ihm selbst wieder ein paar dieser Kleidungsstücke im Schrank hatte. Nur war die Auswahl bei weitem nicht mehr so groß wie früher, da auch der andere im Alltag inzwischen legere Kleidung bevorzugte und sich dabei teilweise an seinem Stil orientierte - nur die fehlenden Löcher machten den kleinen, aber feinen Unterschied aus.
Warum er sich das also alles antat, obwohl diese geschäftsmäßige Kleidung sein Hassobjekt Nummer eins war? Aus Liebe… Und weil sein Freund an diesem Tag Geburtstag hatte und er mit dieser Art Geschenk niemals rechnen würde. Crispin wusste, wie gerne der Engel ihn einmal in voller Montur inklusive Krawatte sehen würde, bisher aber nie das Vergnügen hatte, da er sich schlicht weigerte. Nur einmal hatte August die Chance gehabt, als sie eine kleine Challenge in Form eines Handyspiels ausgetragen hatten und genau dieses Szenario seine Belohnung im Falle eines Gewinns gewesen wäre. Dass er diese Herausforderung am Ende für sich entscheiden konnte, war reines Glück und genau diese Tatsache spielte in seine Entscheidung zu dieser Überraschung mit hinein. Die Situation war schon eine halbe Ewigkeit her, seinen Gewinn - einen Ausflug ins Schwimmbad bei Nacht - hatte er lange eingelöst und August erinnerte sich vielleicht schon gar nicht mehr daran. Da sein Vorsprung in dem entscheidenden Level aber nur minimal war und der Engel somit einfach nur unsagbares Pech hatte, wollte er ihm den Gefallen tun, sich am heutigen Tag doch in einen Anzug zu zwängen.
"Die einzige Möglichkeit, die wir noch hätten, wäre dir einen komplett neuen zu besorgen. Aber dafür müssten wir uns vermutlich beeilen", holte ihn sein Bruder aus seinen Gedanken und bei den Worten drehte Crispin seinen Kopf zu dem Wecker auf dem Nachtschränkchen, dessen Digitalanzeige ihm bestätigte, dass sie wirklich nicht mehr viel Zeit hatten, wenn sie sich jetzt noch durch die Stadt quälten. Es war allerdings die einzige Alternative, die ihm blieb, wenn er nicht doch einen der Anzüge seines Bruders nehmen wollte. Leise seufzend wandte er sich zu ihm und erhob sich vom Bett. Seine Lust, in so ein Geschäft zu gehen, war kaum vorhanden, aber für ein anderes Geschenk war einfach keine Zeit mehr und so blieb ihm nichts anderes übrig - auch wenn er sich für seine Idee innerlich ein wenig selbst verfluchte.
"Dann lass uns gehen."

Zu seinem Glück befand sich der Herrenausstatter, bei dem Cyrian vorrangig seine Anzüge kaufte, gar nicht so weit von seinem Penthouse entfernt und die Menschenmassen, mit denen sie sich auf den Straßen oder der U-Bahn herumschlagen mussten, blieben aus. Crispin wusste nicht so ganz, womit er gerechnet hatte, als sein Bruder ihm erzählte, wohin sie gehen würden. Vielleicht mit einem kleinen, aber überteuerten Geschäft oder einer dieser exquisiten Ketten, die landesweit ihre Filialen in den teuersten Bezirken der Großstädte hatten. Doch keins von beidem war der Fall. Wenn man bedachte, in welchem Stadtteil und vor allem in welchem Viertel von New York sie sich befanden, erschien der Laden von außen eher unauffällig und unscheinbar. Dies war auch der Grund, weshalb er die Augenbrauen zusammenzog, als Cyrian meinte, sie wären da und die Tür öffnete, um einzutreten. Ein wenig skeptisch folgte er ihm und wurde im Inneren ein weiteres Mal überrascht. Denselben Eindruck, den das Geschäft von außen machte, behielt es auch hier bei. An sich sah es aus, wie viele andere Boutiquen auch, die er schon von innen gesehen hatte und doch war die Atmosphäre eine ganze andere. Persönlicher und familiärer, wenn man diese Beschreibungen hierfür nutzen konnte.
"Ah, guten Abend Mr. Cipriano. Es freut mich, Sie wiederzusehen."
Augenblicklich wandte Crispin seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam und erst beim Anblick der kleinen betagten Frau mit den brünetten Locken auf dem Kopf wurde ihm bewusst, dass nicht er sondern sein Bruder gemeint war, da sie vorrangig zu diesem schaute, bevor sich ihr Blick mit einem Lächeln auf ihn heftete.
"Und wie ich sehe, haben Sie ihren Bruder mitgebracht. Schön, Sie einmal kennenzulernen."
Für einen Moment völlig perplex sah er sie an, auch wenn es seinen ersten Eindruck der persönlichen Atmosphäre nur bestätigte, dass sie Cyrian beim Namen kannte und sogar wusste, dass dieser einen Bruder hatte. Da er dadurch jedoch unfähig war, etwas zu sagen, nickte er nur und war froh darüber, dass der andere das Reden übernahm.
"Guten Abend, Mrs. Perez. Ich hoffe, wir machen Ihnen keine Umstände, dass wir so kurz vor Ladenschluss noch auftauchen."
Noch immer lächelnd - wobei diese Geste echt und nicht einmal im Entferntesten aufgesetzt wirkte - sah sie wieder neben ihn und schüttelte kurz darauf den Kopf, sodass ihre Locken leicht hin und her flogen.
"Nein, überhaupt nicht. Nehmen Sie sich ruhig so viel Zeit, wie Sie brauchen. Kann ich Ihnen vielleicht direkt behilflich sein oder etwas bringen? Eventuell einen Kaffee oder durch die Uhrzeit lieber einen Tee?"
"Nein, danke. Ich denke, wir kommen zurecht."
Mit einem knappen Nicken nahm sie die Antwort seines Bruders zur Kenntnis, bevor sie noch ein "Wenn Sie doch Hilfe benötigen, fragen Sie einfach" an ihn richtete und sich anschließend daran machte, einer ihrer anderen Aufgaben nachzugehen.
Schweigend verfolgte Crispin die Unterhaltung der beiden und wurde erneut positiv überrascht. Er hätte damit gerechnet, dass ihnen die Verkäuferin einen Champagner anbot, so wie es in den Kreisen, die für gewöhnlich in Geschäften wie diesen verkehrten, üblich war. Dass sie dies nicht tat, sprach jedoch ein weiteres Mal für den engen persönlichen Kontakt, den die Mitarbeiter dieses Ladens zu ihren Kunden aufbauten, sodass sie Cyrian inzwischen gut genug zu kennen schien, um zu wissen, dass er sich nichts aus der teureren Variante von Sekt machte.
"Auch wenn sie nichts dagegen hat, für uns Überstunden zu machen, sollten wir uns vielleicht ein wenig beeilen", richtete Cyrian das Wort nun an ihn. Er schaute zu ihm und seufzte leise.
"Wenn es sein muss… Und ja, ich weiß, es war meine Idee", nahm er ihm direkt den Wind aus den Segeln, da er sich sicher war, dass ihn sein Bruder bei seinem ersten Satz wieder daran erinnert hätte, dass es im Grunde nicht sein musste, er es sich aber selbst so ausgesucht hatte. Tatsächlich schenkte ihm Cyrian auch nur ein Lächeln, bevor er ihm kurz auf die Schulter klopfte und sich anschließend einen Weg durch die Kleiderständer bahnte, um ihm beim Suchen zu helfen.
Langsam lief Crispin selbst durch das kleine Geschäft, dessen Auswahl recht übersichtlich war, aber dennoch von einem gewissen Geschmack zeugte, wenn man allgemein etwas für solche Mode übrig hatte. Eine Tatsache, die auf ihn nicht zutraf und dennoch war er hier, um hoffentlich etwas zu finden, dass ihm zusagte. Alleine, wenn er daran dachte, wollte er am liebsten kehrt machen und die ganze Idee über den Haufen werfen, doch bereits im nächsten Moment erinnerte er sich wieder daran, warum er das alles tat und seufzte.
Reiß dich zusammen, Cris. Du wirst daran nicht sterben, versuchte er sich selbst zu ermahnen und seine Konzentration darauf zu richten, fündig zu werden. Als er schon fast nicht mehr damit rechnete, da er nach wenigen Minuten, in denen er seinen Blick über die Auswahl der Anzüge schweifen ließ, noch immer nichts gefunden hatte, fiel ihm ein rotes Jackett ins Auge, das eine der Schaufensterpuppen trug und sein Interesse weckte. Zielstrebig lief er darauf zu und blieb davor stehen, um es sich näher anzusehen. Bis auf die Farbe wirkte es schlicht, was ihn keineswegs störte. Eher im Gegenteil. Vermutlich könnte man meinen, dass er sich somit auch für klassisches schwarz entscheiden könnte, aber irgendwie hatte er im Kopf, etwas ausgefalleneres zu nehmen, das dennoch dezent genug war, um nicht wie ein bunter Hund aufzufallen, auch wenn er nicht vorhatte, damit vor die Tür zu gehen, wenn er den Anzug trug. Zu dem Jackett gab es eine einfache schwarze Stoffhose, genauso wie ein Hemd und eine Krawatte in derselben Farbe, was ihm ebenfalls entgegenkam, da er trotzdem nicht fast komplett in rot herumlaufen wollte. Ein einzelner Farbtupfer reichte vollkommen aus.
Ein Blick hinter das Ausstellungsstück verriet ihm jedoch, dass dieses Exemplar das letzte seiner Art war, da sich auf den Kleiderständern dahinter nur andersfarbige Jacketts befanden.
"Wäre ja auch zu schön gewesen…", murmelte er leise und wollte sich schon damit anfreunden, doch noch etwas anderes suchen zu müssen. Doch in diesem Moment hörte er Schritte hinter sich und kurz darauf die Stimme seines Bruders.
"Hast du etwas gefunden?"
Mit einem Blick über die Schulter signalisierte er ihm, dass er ihn gehört hatte, bevor er wieder zu der Schaufensterpuppe und dem Anzug blickte, den diese trug.
"Ja, schon. Nur scheint das Glück nicht auf meiner Seite zu sein, denn es ist scheinbar das letzte Exemplar. Somit muss ich wohl nach etwas anderem suchen."
Auf die Idee, zu schauen, welche Größe das Ganze hatte und ob es ihm somit vielleicht passte, kam er nicht. Erst als sich Cyrian an ihm vorbei schob und in den Kragen des Jacketts und des Hemdes schaute, wurde ihm bewusst, dass er dies ebenfalls hätte tun können und es in jedem anderen Fall auch getan hätte. Doch die ganze Situation überforderte ihn ein wenig und er fühlte sich schon unwohl, wenn er sich nur vorstellte, bald selbst anstelle der Puppe in den Klamotten zu stecken.
"Da du dieselbe Größe hast wie ich, könnte dir der hier passen. Warte einen Moment, ich sag mal Mrs. Perez Bescheid."
Bevor er auch nur einen Ton von sich geben konnte, entfernte sich Cyrian auch schon in die Richtung, in der sich die Verkäuferin befand, um das in die Tat umzusetzen, was er ihm eben gesagt hatte.

Nur wenige Minuten später stand Crispin mitsamt eines Kleiderbügels, auf den die Angestellte das Jackett und den Rest des gewünschten Outfits gehängt hatte, in der Umkleidekabine und war kurz davor, genau dieses anzuprobieren. Ein großer Teil von ihm rebellierte alleine bei dem Gedanken, seine bequemen Klamotten auch nur für ein paar Augenblicke gegen diese Kleidung einzutauschen - geschweige denn für längere Zeit, wenn er August in wenigen Stunden damit überraschte. Genau aus diesem Grund rührte er auch keinen Muskel und begutachtete stattdessen die Sachen, während er ein weiteres Mal überlegte, ob er das wirklich tun sollte. Dabei hatte er weder die Zeit, um mit sich zu hadern, noch eine Alternative, sodass er gar keine andere Möglichkeit hatte, als seinen Stolz herunterzuschlucken und es einfach durchzuziehen. Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Anzug zu tragen, doch wenn er genau darüber nachdachte, gab es neben den Tatsachen, dass er August liebte, heute sein Geburtstag war und er dieses Szenario beinahe gewonnen hätte, noch einen weiteren Grund dafür, es zu tun. Der Engel hatte es sich schlicht und ergreifend verdient, dass er über seinen Schatten sprang und ihm diesen Wunsch erfüllte.
Nach seinem Sieg bei der Challenge hatte sein Freund die Niederlage hingenommen und war mit ihm Baden gegangen, obwohl Crispin ganz genau wusste, dass dieser ungern so viel Haut zeigte. Dabei war es auch egal, dass er extra in der Nacht mit ihm in eins der Schwimmbäder eingebrochen war, damit sie das alles für sich alleine hatten. Das war jedoch bei weitem noch nicht alles. Er erinnerte sich noch sehr gut an den Moment, als er nach dem Angriff von Seimei im Krankenhaus aufwachte und August vor ihm stand - nur bekleidet mit einem knappen rosafarbenen Krankenschwesternoutfit, das gerade das Nötigste verdeckte und der Fantasie dennoch kaum Spielraum für eigene Interpretationen ließ. Bei der Erinnerung daran wollte er Hope am liebsten wieder den Hals umdrehen und umklammerte den Bügel in seiner Hand stärker, sodass das Jackett leichte Falten warf. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie peinlich es für seinen Freund gewesen sein muss und wie viel Überwindung es ihn sehr wahrscheinlich gekostet hatte, da ihn locker mehr als eine Handvoll Mitarbeiter und vielleicht auch noch der eine oder andere Patient in diesem Aufzug gesehen hatte. Crispin war zwar der Meinung, dass sich der andere nicht verstecken musste, aber das ging eben doch zu weit.
Einen Moment lang schloss er die Augen und atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen, denn es brachte ihm gerade überhaupt nichts, sich über den Heiler aufzuregen, der August erst mit dem Outfit versorgt hatte. Als er spürte, dass er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, hob er die Lider und heftete seinen Blick erneut auf den Anzug. Ganz egal, wie sehr er es auch hasste, diesen anzuziehen - es war nichts gegenüber dem, was der Engel bereits für ihn auf sich genommen hatte und somit war dies alles ein weiterer Grund, warum er es durchziehen musste.
Nach einem weiteren tiefen Durchatmen hängte er den Kleiderbügel an den Haken auf der linken Seite der Kabine und auch wenn er sich noch immer nicht vollkommen bereit fühlte, seine Prinzipien auch nur für kurze Zeit über den Haufen zu werfen, verdrängte er das ungute Gefühl, welches sein Vorhaben in ihm auslöste, und begann sich seiner Sachen zu entledigen, bevor er nach und nach in das Outfit schlüpfte, das er sich ausgesucht hatte.

Das Gefühl, sich zu verkleiden, stieg mit jedem Teil, das er überstreifte, und fand seinen vorläufigen Höhepunkt, als er vor einem Spiegel gegenüber der Umkleidekabinen stand und verzweifelt versuchte, die Krawatte zu binden, doch ganz egal wie oft und auf welche Weise er es auch versuchte, es wurde einfach nichts. Ganz so, als hätte sie sich gegen ihn verschworen. Was natürlich absoluter Blödsinn war und einfach nur an seiner Unfähigkeit und auch zum Teil seinem Unwillen lag. Nach dem gefühlt zwanzigsten Versuch zog er sie fluchend unter dem Kragen des Hemdes hervor und hätte sie am liebsten mitsamt des kompletten Anzugs in die nächste Ecke geworfen. Bevor er allerdings dazu kam, stand mit einem Mal Cyrian neben ihm, der ihm die Zeit für sich, die er gebraucht hatte, um sich zu überwinden, gegeben und sich so lange mit der Verkäuferin unterhalten hatte.
"Gib her, ich helfe dir."
"Sie ist einfach widerspenstig", versuchte er, sich zu verteidigen, während er seinem Bruder die Krawatte gab und sich so vor ihn stellte, dass er sie ihm problemlos binden konnte. Im Gegensatz zu ihm brauchte dieser nur ein paar geübte Handgriffe, bis das Accessoire so saß, wie es sein sollte und Crispin sich das Jackett schnappen konnte, das er vorübergehend auf einen der Kleiderständer gelegt hatte, um dieses ebenfalls überziehen zu können. Als dieses das Outfit komplettierte, drehte er sich wieder in Richtung des Spiegels und musterte das vertraute Bild, das sich ihm bot und dabei aufgrund der Kleidung doch so fremd wirkte.
"Der Anzug steht dir gut. August wird sicher aus allen Wolken fallen."
Und das im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man ihn nicht schon vor langer Zeit aus dem Himmel geschmissen hätte, dachte er sich, sprach es jedoch nicht laut aus. Crispin wusste, dass sein Bruder recht hatte, denn er war sich sicher, dass dem Engel der Anblick gefallen wird, da dieser ohnehin der Meinung war, dass ihm ein Anzug gut stehen würde. Doch auch wenn er versuchte, sich mit den Augen seines Freundes zu sehen, konnte er ihm zumindest in diesem Punkt nicht zu einhundert Prozent zustimmen - auch wenn dies nicht alleine etwas mit der äußeren Erscheinung zu tun hatte.
"Und doch bin das nicht ich", entgegnete er Cyrian daher leise, während er am Saum der Jacke zupfte und sich innerlich wünschte, wieder in seine eigenen Sachen schlüpfen zu können, in denen er sich weit wohler fühlte, als in diesen.
"Wieso tust du das dann überhaupt? Ich weiß, dass du ihn liebst, aber ich bin sicher, dass er versteht, wenn du es nicht tust. Vor allem da er nicht einmal weiß, was du vorhast."
Crispin schwieg einen Moment und ließ sich die Worte des anderen durch den Kopf gehen. Auch diesbezüglich hatte dieser recht. Auch wenn sich August das alles hier insgeheim wünschte und immer wieder versuchte, ihn zu überreden und mit den verschiedensten Methoden zu überzeugen, so würde er dennoch verstehen, wenn er sich nicht dazu breitschlagen ließ. Wenn man jedoch bedachte, was der Engel für ihn schon alles auf sich genommen hatte, so waren seine Einwände gegen das Tragen eines Anzugs wirklich lächerlich.
"Er hat für mich schon mehr getan, als ich ihm mit dieser Überraschung zurückgeben kann. Dagegen ist das hier wirklich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein."
Cyrian nickte verstehend und bohrte nicht weiter nach, wofür er ihm wirklich dankbar war. Auch wenn er sein Bruder war, hatte er ihm bei weitem noch nicht alles erzählt und zumindest die Sache mit dem rosa Fummel sollte eine Sache zwischen August und ihm bleiben. Nun ja, und Hope, aber dieser spielte in diesem Moment keine Rolle.
"Ich habe hier übrigens noch etwas für dich. Vielleicht macht es dir das Tragen des Ganzen ein wenig erträglicher."
Irritiert schaute er zu seinem Bruder, während dieser ein kleines, längliches Kästchen aus seiner Jackentasche holte und es ihm kurz darauf entgegenhielt. Crispin zog die Augenbrauen zusammen, als er danach griff, da er keine Ahnung hatte, was sich darin befand, doch diese Frage beantwortete sich von selbst, als er den Deckel anhob und eine Krawattennadel zum Vorschein kam. Die Nadel selbst bestand aus Silber, doch nahe der Spitze befanden sich drei Noten, die golden glänzten. Für einen kurzen Augenblick wusste er überhaupt nicht, was er dazu sagen sollte, weshalb er leicht den Kopf schüttelte, um sich wieder zu fangen.
"Das ist absolut unnötig. Nach dem Abend werde ich vermutlich weder den Anzug noch etwas anderes davon je wieder tragen."
Ein Lächeln stahl sich auf Cyrians Lippen, da er mit seinem Protest vermutlich schon gerechnet hatte, während er die Nadel aus dem Kästchen nahm und sie ihm einfach ansteckte.
"Eigentlich habe ich sie für mich bestellt, aber ich denke, dir hilft sie heute mehr. Und wenn du denkst, dass du sie hinterher nie wieder trägst, kannst du sie mir ja zurückgeben."
Alleine mit diesen Worten nahm er ihm jegliche Chance, noch einmal dagegen zu protestieren und so kam ihm lediglich ein leises Grummeln über die Lippen, da er es nicht vollkommen unkommentiert stehen lassen wollte, auch wenn er nichts Konkretes zu entgegnen wusste.

Das Gefühl, dass sich die Zeit wie alter Kaugummi zog, war Crispin nur allzu vertraut und jedes Mal aufs Neue nervte es ihn zutiefst. Vor allem da es immer nur in Momenten der Fall war, in denen es einem genau umgekehrt lieber wäre, weil man eine Situation so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. So nun auch jetzt. Nervös tigerte er von einer Seite des Wohnzimmers zur anderen und kurz darauf wieder zurück seit er von August die Nachricht erhalten hatte, dass dieser seine Arbeit im Studio beendet hatte und nun nach Hause kam. Die Minuten wollten kaum vergehen und mit jeder weiteren, die er länger warten musste, wurde er nervöser. Selbst das erneute überstreifen des Anzugs hatte nicht genug davon gekostet, um die Wartezeit ein wenig erträglicher zu gestalten - ganz im Gegenteil. Bei jedem einzelnen Schritt spürte er, wie der Stoff über seine Haut rieb, was dazu führte, dass er sich noch ein wenig unwohler fühlte als noch zuvor während der Anprobe in dem Herrenausstatter und das obwohl er dort im Gegensatz zu jetzt nicht alleine war. Seine Nervosität und die Frage, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, diese Überraschung umzusetzen, erhöhten das ungute Gefühl in seinem Magen noch zusätzlich und er zupfte immer wieder am Saum und den Ärmeln des Jacketts.
Den ganzen Tag über hatte er August gegenüber mit keinem Wort erwähnt, dass er an seinen Geburtstag dachte. Am Morgen hatte er sich schlafend gestellt, um nicht der Versuchung zu erliegen, ihm schon zu diesem Zeitpunkt zu gratulieren und auch in den Nachrichten, die sie sich während der Vorlesungen des anderen geschrieben hatten, kam von ihm nichts in dieser Richtung - und das lag nicht nur daran, dass er es auf diese Weise zu unpersönlich fand, denn selbst da hatte er noch gezweifelt, ob er seine Idee wirklich umsetzen sollte. Die Frage, ob der Engel also damit rechnete, dass ihn an diesem Abend noch eine Überraschung erwartete, konnte er sich selbst nicht beantworten.
Sehr viel länger konnte er darüber und über alles andere, was ihm durch den Kopf schwirrte, jedoch nicht nachdenken, denn als er gerade eine weitere Runde durch das Wohnzimmer drehen wollte, spürte er mit einem Mal die Aura seines Freundes, was nur bedeuten konnte, dass dieser nur noch wenige Meter vom Haus entfernt war und gleich da sein würde. Ganz automatisch beschleunigte sich sein Herzschlag und er biss sich kurz auf die Unterlippe, ehe er sich wieder daran erinnerte, was er zusätzlich noch vorhatte, um August direkt in den richtigen Raum zu lotsen, da dieser in der Regel als erstes ins Schlafzimmer verschwand, weil er es sich dort meist auf der Fensterbank bequem machte, um auf ihn zu warten. Unter der Woche kam sein Freund nach seiner Arbeit im Tonstudio ohnehin zu kaum etwas anderem, als noch etwas zu essen und hinterher todmüde ins Bett zu fallen. Jedoch hoffte und glaubte er, dass es heute anders sein würde.

Um keine weiteren wertvollen Sekunden zu verschwenden, die er sicher gebrauchen konnte, um sich zu sammeln, wandte er sich zu dem Klavier um und lief darauf zu, um sich kurz darauf auf der schmalen Bank davor niederzulassen. Vorsichtig hob er den Deckel von den Tasten, über die er anschließend sanft mit den Fingern strich, während die näherkommende Aura ein sowohl ungutes wie auch wohliges Gefühl in ihm auslöste. Ein Gefühl von Gefahr und Sicherheit zugleich, wobei letzteres bei weitem überwog. Und dennoch war es gemeinsam mit der Situation, der Anspannung und der näher rückenden Enthüllung seiner Überraschung eine Mischung, die ein Kribbeln in seinem Magen auslöste. Kurz schloss er die Augen, versuchte sich zu fangen und sich auf die Musik zu konzentrieren, die in seinem Kopf bereits Form annahm, was er zum Glück auch schaffte.
In dem Moment, in dem er den Schlüssel im Schloss hörte und die Tür geöffnet wurde, atmete er noch einmal tief durch und begann dann zu spielen. Das Stück war August nicht unbekannt und auch wenn er sich eigentlich vorgenommen hatte, ihm zusätzlich noch etwas Neues zu präsentieren, hatte er dies einfach nicht geschafft, da die Idee mit dem Anzug seinen Kopf ständig blockierte und ihn nicht anständig daran arbeiten ließ. Doch das Ganze lief nicht weg und er war sich beinahe sicher, dass der Anblick, den er ihm bot, Geschenk genug sein würde.
Leise mischte sich die Stimme des Engels unter die Melodie, die den Raum erfüllte, doch Crispin ließ sich davon nicht ablenken, denn auch wenn er nicht verstand, was er sagte, so konnte er sich doch vorstellen, dass er mit Cookie sprach, die ihn wie gewohnt an der Tür abgefangen hatte, um ihn zu begrüßen und für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Auch als er spürte, dass August immer näher kam und wohl bereits im Wohnzimmer stand, ließ er sich nicht davon abhalten, weiterzuspielen, auch wenn sein Herz mit jeder Sekunde schneller schlug und dem Ende des Stücks entgegen fieberte, um endlich die Reaktion des anderen zu sehen, der seither keinen weiteren Ton von sich gegeben hatte.
Es schien daher eine halbe Ewigkeit zu vergehen, ehe er die letzte Taste betätigte und die Melodie mit dieser ihr Ende fand, doch als der Moment endlich da war, erhob er sich wieder und wandte sich endlich zu August um, der schweigend im Türrahmen stand und zu ihm sah. Ungläubigkeit lag in den dunklen Augen, gemeinsam mit einem Funkeln, das er nicht ganz deuten konnte, als der Blick des anderen über ihn glitt. So ganz schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte und je länger die Stille anhielt, die sich über sie legte, umso nervöser wurde er und das unwohle Gefühl breitete sich weiter in ihm aus. Es war seltsam, auf diese Weise von ihm gemustert zu werden, ohne zu wissen, was in seinem Kopf vorging und mit einem Mal konnte er sich lebhaft vorstellen, wie sich der Engel gefühlt haben musste, als er ihn im Krankenhaus auf dieselbe Art angesehen hatte, als er in dem pinken Kleidchen vor ihm stand. Nur zu gut kannte er das Gefühl, nicht glauben zu können, was man sah und zu denken, dass man das alles vielleicht nur träumte, doch auch wenn ihm das nicht unbekannt war, so war es doch äußerst unangenehm - auch wenn man einen schicken Anzug nicht mit dem knappen Fummel vergleichen konnte, in dem August steckte.
Als dieser sich scheinbar endlich wieder gefangen hatte, erschien ein breites und vielversprechendes Grinsen auf seinem Gesicht, während er langsam näher auf ihn zukam, als könnte er sich in Luft auflösen, wenn er es schneller tat.
"Ich habe immer geglaubt, ich müsste alle Register meiner Überredungskünste ziehen, damit ich dich einmal in einem Anzug sehe und nun…"
"Glaub nicht, dass ich das häufiger tun werde. Das ist eine Ausnahme, weil du heute Geburtstag hast", fiel er ihm kurzerhand ins Wort und überspielte damit gleichzeitig all die anderen Gründe die ihn dazu gebracht hatten, dies zu tun, was ihm der andere jedoch nicht übel zu nehmen schien, denn er hob einen Mundwinkel und grinste ihn schief an.
"Lassen wir uns überraschen. Doch egal, ob ich nochmal in den Genuss dieses Anblicks komme oder nicht, kann ich nun endlich tun, was ich schon lange einmal machen wollte."
Crispin sah ihn fragend an, doch bevor er dazu kam, dies auch in Worte zu fassen, griff August nach der Krawatte, die er unter dem geschlossenen Jackett hervor holte, und zog ihn daran ein wenig näher, bis die Distanz zwischen ihnen so gering war, dass er den Rest damit überbrücken konnte, sich leicht auf die Zehenspitzen zu stellen. Nur den Bruchteil einer Sekunde später lagen die weichen Lippen des anderen auf seinen und er vergaß schlagartig all die Zweifel und den Ärger, die ihm seine Idee bisher eingebracht hatten. Bereitwillig ließ er sich auf den Kuss ein, der noch weitere und sehr viel mehr versprach.
Jetzt guck doch nicht so. Der Anzug wird dir wahnsinnig gut stehen. Außerdem geht es mir eher ums Auspacken.
Unweigerlich kamen ihm die Worte des anderen in den Sinn, die er damals während der Challenge zu hören bekam, als sie darüber sprachen, welchen Gewinn sie jeweils einfordern würden und die das Kribbeln in seinem Inneren deutlich verstärkten, und er hatte den Verdacht, dass der weitere Verlauf des Abends all die negativen Gefühle, die er sonst mit einem derartigen Outfit verband, kurzzeitig vollkommen vergessen sein würden…

~The end~