Wind Beyond Shadows

Normale Version: Things end but memories last forever
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Crispin Cipriano

[Bild: original.gif]

August

Mit einem keuchendem "Uff!", dass von dem Tascheln des Gebüsches übertönt wurde, landete August zwischen einem Rosenstrauch auf der dreckigen Erde. Sich aus dem Haus der Ciprianos zu schleichen war mittlerweile zu seiner Gewohnheit geworden und man sollte meinen, dass er hunderte Möglichkeiten kannte um unauffällig einen Abgang zu machen, aber dieses Mal war es sehr knapp gewesen. Ein Klopfen hatte die beiden aus ihrem Gespräch gerissen und es blieb fast keine Zeit um sich voneinander zu verabschieden. Stattdessen kletterte der Engel aus dem Fenster und wollte gerade von dort aus wegfliegen, als er eine vorbeispazierende Nachbarin sah, die ihn mit einem wissenden Blick musterte, aber nichts weiter dazu sagte, jedoch grinsend an dem Haus vorbeiging und ihn so sehr ablenkte, dass er sich fast einen Moment zu spät duckte, als die Tür in Crispins Zimmer aufging und seine Mutter hinein trat um zu fragen, mit wem er denn gesprochen hatte. Es war wohl wirklich besser, wenn er jetzt einen Abgang machte. Das Holzverkleidung des Hauses hinunterkletternd, übersah er eine Sprosse der des Rankengitters aus Holz und verlor damit das Gleichgewicht. “So ein Mist!”, zischte er leise und fischte einige Rosenblätter aus seinem Haar und stand auf. Ein Blick hinauf, versicherte ihm, dass ihn niemand gehört hatte, denn Cris Fenster war bereits zu. Nun aber wirklich los. Von den Eltern erwischt zu werden würde dem Jungen nur noch mehr Ärger einbringen, denn sie konnten sich bestimmt denken, dass August wegen ihm hier war. Gerade als er bei der Eingangstür vorbeiging, öffnete sich diese und im ersten Moment glaubte er, es sei Cris, jedoch deuteten die adretten Klamotten daraufhin, dass es sich um seinen Bruder, Cyrian, handelte. Sie hatten sich zuvor erst einmal kurz gesehen und soweit er wusste, war dem Bruder klar, dass August zum engeren Freundeskreis von Crispin gehörte. “Oh, du warst das.”, sagte er also und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. Erwischt. Gut gemacht, August. Nächstes Mal dann bitte ohne einen Sturz in die Rosen. “Keine Sorge, ich sage meinen Eltern nichts. Ich wollte mich nur bei dir bedanken.”
Immer noch stand der Engel mit den Händen in den Jackentaschen da und sah ihn einfach nur an. “Wofür bedanken?”, fragte er. Dafür, dass er dem Gärtner noch mehr Arbeit hinterlassen hatte? “Dafür, dass du dich um Cris kümmerst. Er ist in letzter Zeit nicht mehr so oft in Schwierigkeiten und etwas sagt mir, dass du der Grund dafür bist. Also danke dafür. Ich möchte dich jetzt auch nicht weiter abhalten. Gute Nacht.”
Damit verabschiedete sich der andere und schloss die Tür wieder. August blieb noch einen Moment stehen, bevor er seine Beine in Bewegung setzte, nicht aber, bevor er noch einen Blick zu Cris Fenster warf. Sie waren wohl nicht alle so übel, wie er behauptete…

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Der Tag an dem sie sich das erste mal geküsst hatten, war einer dieser besonders heißen Sommertage gewesen, die man selbst mit der ständig laufenden Klimaanlage kaum aushielt. Den Sommer hatte August schon immer gehasst - selbst zu Lebzeiten - aber in dieser Hülle schien alles noch viel schlimmer zu sein. Crispin machte es an dem Tag erträglicher. Sie trafen sich in dem alten Atelier eines Freundes, das als Unterschlupf von dem damaligen Teenager diente und der Jüngere schlug vor den Tag am See zu verbringen und im kalten Wasser Abkühlung zu suchen. August wusste damals nicht, was ihn mehr erfreute: die Flucht von der elenden Hitze, die es ihnen sogar schwer machte zu atmen oder die Tatsache, dass er Zeit mit dem Schwarzhaarigen verbringen würde...und das für einen ganzen Tag. Er willigte sofort ein, ohne auch nur an die Konsequenzen zu denken, falls sie gesehen werden sollten, aber sie taten ja nichts Verbotenes oder? Bis zu dem Zeitpunkt erfüllte der Engel lediglich seinen Job und lenkte Cris von den unangenehmen Dingen im Leben ab, fungierte dabei als helfende Hand und fast schon als ein Freund. Lüge. Sie beide wussten, dass es schon lange nicht mehr nur um eine Freundschaft ging. Beide fühlten sich leer, sobald der andere nicht mehr da war und beide waren trotz ihrer draufgängerischen Art dann doch zu schüchtern, zu zurückhaltend um etwas zu sagen oder etwas zu tun. Wie zwei Blätter im Wind, umspielten sie sich, tauschten hoffnungsvolle, kurze Blicke und Berührungen aus, die nur sie beide zu deuten wussten. Du nervst. war mittlerweile zu einer Geheimbotschaft für Ich mag dich. geworden und die Hand die der Engel in den Nacken des anderen legte hieß Ich bin für dich da. Sie hatten ihre eigenen Wege um miteinander still zu kommunizieren und doch war es August ab diesem Tag nicht mehr genug. Nach stundenlangem Schwimmen - zu dem Cris ihn erst zwingen musste, nachdem August sich geweigert hatte auch nur eine Zehe in das Wasser zu tauchen - faulenzten sie zusammen im Gras und beobachteten die Sonne, die den Himmel in ein sattes Orange verwandelte und die ersten spuren des Nachthimmels mit sich zog, sodass ein schöner lilafarbener Übergang entstand. In Filmen, die August gesehen hatte, waren diese Momente fast schon dazu prädestiniert Zärtlichkeiten miteinander auszutauschen, aber etwas hielt ihn davon ab, seinem ursprünglichen Plan nachzugehen. War es die Angst von oben beobachtet zu werden? Oder doch die Angst davor, dass Cris ihn gar nicht mochte und er sich alles eingebildet hatte? Plötzlich fühlte er einen unheimlichen Druck, die untergehende Sonne fungierte in dem Moment wie eine laufende Sanduhr und er hatte das Gefühl, dass ihm die Zeit davon rannte, wenn er nicht sofort handelte, bevor sie unterging und alles zu spät war. 'Cris...', fing er damals hoffnungsvoll an und der andere hob in dem Moment seinen Kopf, um ihn erst fragend anzusehen und ihm ein wissended Lächeln zu schenken. Natürlich wusste er, was in ihm vorging. Machte nicht genau das Seelenverwandte aus? Und das waren sie doch gewesen. Zwei Außenseiter die ihren Platz in der Welt suchten und ihn schließlich bei dem jeweils anderen fanden. Wäre da nicht diese Sache mit den verschiedenen Rassen gewesen, die ihnen einen Strich durch die Rechnung machte. Aber jetzt gerade, in diesem Moment, war es ihnen beiden egal, obwohl sie wussten, dass es nicht sein durfte. Cris setzte sich auf, um auf den Engel zu setzen, der auf dem Rücken im Gras lag. Seine Hände legte er auf seine Brust und beide sahen sich für einen langen Moment nur an, nahmen jedes kleinste Detail des anderen auf. August war dankbar dafür, dass der andere größeren Mut zeigte und sich ihm langsam näherte, aber dennoch stieß er die warnenden Worte aus, die er sagen musste und zu denen er verpflichtet war: 'Cris... Wir sollten nicht..' Am Horizont war nur noch der letzte Streifen des Lichts zu sehen und August spürte den Atem des anderen an seinen Lippen. 'Ich weiß., hatte er er gesagt.
Sie küssten sich, als die Sonne komplett verschwunden war unter dem dunklem Himmel und besiegelten damit beide ihr trauriges Schicksal, dass sie zu diesem Punkt führte.

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Eine Melodie.
Erst leise und dann immer lauter, aus einem Musikzimmer, dessen Bescheidenheit nicht zu dem Status des Pianisten passte, welcher gerade vor dem Klavier saß und mit geschlossenen Augen die schlanken Finger über die vergilbten Tasten tanzen ließ. Der Staub wirbelte sanft durch den Raum, fast schon zum Rhythmus der Musik, und vermischte sich mit den Pollen der Blumen, die durch die sanfte Brise durch das offene Fenster ihren Weg in das Zimmer fanden. Der Frühling hatte sie frühzeitig erreicht und zeigte sich von seiner besten Seite, denn es verging kein Tag, an dem die Sonne nicht die Angestellten und des Hausherren des Bellona Anwesens weckte, indem ihre Strahlen sie wach kitzelten. Die friedliche Stimmung, die zu dem Zeitpunkt herrschte, war jedoch nur die Ruhe vor dem Sturm und er hätte gelogen, wenn er behauptete dies nicht gewusst zu haben, aber wo blieb die Zeit zur Sorge, wenn er jetzt gerade, in diesem Moment, zum ersten Mal etwas wie Tranquillität empfand?
'Master Bellona?'
Die Melodie stoppte.
'Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich hier nicht so nennen musst?'
Ein schüchterner Blick des anderen, dann ein freches Lächeln.
Hier waren sie sicher. Hier herrschte keine Hierarchie, so wie es draußen von ihnen erwartet wurde. Hier waren sie bloß zwei Seelen, die durch Zufall zueinander gefunden hatten und die gerne Zeit miteinander verbrachten. Gewiss hätten sie ihn zum Tode verurteilt, wenn sie herausfanden unter welchen Umständen sein Sklave hier lebte, denn es waren nur die besten - ja, von den Umständen und vom Lebensstil des Hausherren kaum zu unterscheiden. Man konnte fast meinen, dass der Sklave dieselben Privilegien hatte wie das Adelsgeschlecht und das wäre außerhalb von diesem Haus das Todesurteil eines jedermann gewesen. Sevro lächelte. Er wusste, dass er damit sein Todesurteil unterschrieben hatte, aber gegen die Regeln zu verstoßen war für ihn in dieser grausamen Welt der letzte Hoffnungsschimmer. Von der Familie verstoßen, von der Gesellschaft kritisiert, blieb einem wenig Spielraum und wenige Dinge, die Freude bereiteten. Aber der Schwarzhaarige, der sich gerade von dem Türrahmen abstieß und seinen Weg zu dem blonden Hausherrn machte, war alles, was gegen die Vorschriften der Gesellschaft und gegen das hierarchische System sprach. Angezogen in den feinsten Gewändern aus dunkelblauer Seide, hätte ein Unwissender nie vermutet, dass der Status des Schwarzhaarigen niedriger als der eines Bauern war und doch... 'Das Buch, dass Sie-... dass du mir empfohlen hast ist wundervoll. Der Protagonist ist so anmutig und tapfer. Ich wünschte, ich wäre ein wenig wie er.', sagte der Jüngere und strich dabei ebenfalls mit den Fingern über die Tasten des Instruments, ohne jedoch Druck auszuüben. Gerne hätte er ihm gesagt, dass er durchaus anmutig und tapfer war - tapferer als Sevro selbst, der sich durch die Beziehung, die sie zueinander hatten, in Gefahr begab und sein Leben riskierte. Wenn er den anderen sah, konnte er jedoch nichts anderes, außer Stolz empfinden. So viel hatte er ihm beigebracht und Mica war bereit noch so viel mehr von ihm zu lernen. Wie oft hatte er schon die Chance gehabt, den Blonden zu verraten, weil er kein guter Sklavenherr war, da er sich nicht an die Regeln hielt und stattdessen seine Zeit mit Lese- und Schreibunterricht für den Jüngeren verbrachte, welcher nur dem Adelsgeschlecht vergönnt war? Die Augen hätte man ihm ausgestochen, wenn sie herausfanden, dass Sevro seinen Sklaven ohne dem Lederhalsband frei durch das Anwesen und im Garten mit den Hunden spielen oder auf einer Decke lesen ließ, während er mit den Fingern über die Wasseroberfläche des Teiches strich.
'Ein Bote hat mir erzählt, dass der Kaiser alle Sklaven auf ein Schiff nach-'
'Du bleibst hier. Dafür werde ich sorgen.'
Ein hoffnungsvolles Glänzen in den Augen des anderen, dann ein schüchternes Lächeln. Der Krieg verlangte so viele Opfer, aber Sevro wollte nicht das hergeben, was ihm am meisten bedeutete, was ihm in einsamen Stunden Kraft schenkte.
Weiche Hände suchten die des Pianisten und verschränkten die Finger miteinander, bevor sich ihre Lippen erst zu einem schüchternen, dann aber leidenschaftlichen Kuss trafen. Gemeinsam, Hand in Hand, gegen den Rest der Welt. Sein Todesurteil hatte er schon lange unterschrieben und er würde lieber sterben, als seinen einzigen Hoffnungsschimmer, seine einzige Liebe gehen zu lassen.

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Eine sanfte Melodie erfüllte den Raum.
Blasse Hände spielten ein einfaches Lied, wiederholten es immer wieder, bis es verstummte und sich die Hände schüchtern zurückzogen und sich nahezu den Blicken, die auf dem Blonden lagen, versteckten. Sie verbrachten viele ruhige Stunden in dem Atelier. Fern von der Außenwelt, die sie beide in Schubladen steckte, die nichts miteinander zu tun haben sollten. Hier waren sie sicher, hier waren sie alleine... Hier waren sie sich nahe, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Als ob man die Zeit angehalten hätte, diente dieser Ort der Zuflucht für die beiden, die Schutz vor ihrem eigenen Leben und Geborgenheit in der Anwesenheit des anderen suchten.
"August...was sind wir eigentlich?" Ein so einfache Frage, mit so viel Bedeutung, dass es dem Engel schwer fiel sofort zu antworten. Er sollte nicht hier sein, vor dem Jüngeren stehen, der ihn erwartungsvolle Blicke zuwarf und einen großen Schritt in eine Richtung machte, die man als Freundschaft beschreiben konnte. Alles war irgendwie viel zu schnell gegangen - Prozess von einem einfachen Schutzengel zu etwas wie einem Freund, einer Schulter zum Ausweinen war so schnell, dass er gar nicht erst mitbekam, wie schwer es ihm fiel den anderen nur für einen Tag alleine zu lassen. Es war falsch, das wussten sie beide, hatte er ihm am Anfang doch selbst erklärt, dass es zwischen Schutzengeln und ihren Schützlingen nicht mehr als eine nette Bekanntschaft herrschen sollte, wenn überhaupt. Freundschaft stand komplett außer Frage, denn seine Aufgabe war es nicht, sich mit seinem Schützling anzufreunden, sondern diesen jeglich vor Ärger zu bewahren und dazu musste er eigentlich nicht einmal einen Fuß auf die Erde setzen, wenn er wollte. Doch genau daran lag mittlerweile das Problem. August wollte ihn sehen, wollte ihn auf der Erde besuchen und auch wenn er sich jedes mal selbst dafür ermahnte, waren alle seine Vorsätze vergessen, sobald er vor Crispin auftauchte und dieser ihn mit dem allerschönsten Lächeln belohnte, dass ihn vom ersten Moment an die Sprache verschlug.
"Ich weiß nicht... Ein Engel und sein Schützling?", fragte er und lachte dabei nervös. Das mochte zwar die richtige Antwort sein, aber beide wussten, dass es nicht stimmte. Diese Grenze hatten sie schon lange überschritten und es zu leugnen, machte es nur offensichtlicher. Freunde.
Aus einem unerfindlichem Grund ließ diese Bezeichnung sein Herz flattern. August hatte keine Freunde. Brüder und Schwestern, ja, aber niemanden, den er als wahren Freund bezeichnen würde. Etwas wie Enttäuschung lag in dem Blick des anderen und gerne hätte ihm der Engel gesagt, dass er sich bis jetzt mit niemandem so gut verstanden hatte, aber das war nicht richtig, entsprach nicht seinen Vorschriften.
"Du hast bis jetzt weitaus mehr für mich getan, als jeder andere.", sagte der Schüler und blickte dabei auf die Tasten des Klaviers, auf dem August zuvor noch gespielt hatte. "Das machen Schutzengel nunmal." Lüge. Seine Pflichten als Schutzengel wurden hiermit mehr als erfüllt und es bestand kein Sinn darin, sich dem anderen in einer menschlichen Hülle zu zeigen - außer es war ein Notfall - so wie bei ihrem ersten richtigen Treffen. "Du weißt, dass das nicht stimmt."
Er wusste es. Cris wusste es. Und beide wussten auch, dass es nicht richtig war.
Für einen langen Moment herrschte Stille. Die beiden saßen nebeneinander am Klavier und musterten sich gegenseitig, als würden sie auf eine bestimmte Reaktion des anderen warten.
"Als ob ich einen kleinen Frechdachs wie dich als Freund bezeichnen würde.", sagte August grinsend und der Jüngere lachte leise. "Wusste ich's doch. Gib's zu, du magst mich."
Oh, er hatte ja keine Ahnung, wie richtig er damit lag…

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Die Nacht war schwül, die Luft stickig und erdrückend und der Himmel übersät mit unzähligen Sternen. Es roch nach Zitronen und nach Moos, dessen Geruch man von einer Brise, die aus dem Wald zog, nur ganz schwach vernehmen konnte. Aus dem Zimmer des Pianisten drang schwaches Licht einer Kerze, die er angezündet hatte und die als einzige Lichtquelle in dem Schlafgemach diente. Das kleine Anwesen am Rande von Paris war still, wirkte fast schon verlassen und dadurch wenig einladend, was die Absicht des Hausherren war, der keinen Besuch mochte - vor allem zu Zeiten wie diesen. Seine Bediensteten lebten alle außerhalb, in der Stadt. Das war ungewöhnlich, da Angestellte meistens im Anwesen ihres Herren wohnten und dort ihre eigenen Zimmer hatten. Nicht aber hier, wo es immer die Möglichkeit gab abends zurück in das eigene Heim zu kehren, auf das der Adelige viel Wert legte. Er mochte nicht der gesprächigste und möglicherweise auch nicht freundlichste sein, aber niemand konnte ihm unterstellen, dass er nicht auf seine eigene Art und Weise gutmütig war.
An diesem Abend hatte er alle vorzeitig entlassen - es gab ohnehin nicht mehr viel zu tun… zumindest nichts das sich jetzt noch lohnen würde.
Am Fensterbrett sitzend sah er auf den Hof hinunter. Wie lange es wohl noch dauern würde bis sie hier waren? Man nannte es die Ruhe vor dem Sturm, nicht? Wenn es so still war, dass man die Vorahnung nahezu hören konnte, wie sie aus den Ecken kroch und einen langsam bei lebendigem Leib verschlang. Angst hatte er jedoch schon lange nicht mehr. War man schon so lange mit etwas Unausweichlichem konfrontiert, verlor man die Furcht davor und lernte sich darauf vorzubereiten und genau das hatte er getan. Früher oder später musste es so kommen und er wusste es ganz genau, von anfang an. Sein Egoismus, sein Aufstand gegen die Familie und die Gesellschaft hatte ihn an diesen Punkt geführt und es gab kein zurück mehr. Ob er noch einen Tod auf seine Kosten verantworten konnte?
Zwei warme Handflächen schoben seinen dünnen Mantel aus schwarzer Seide beiseite und fuhren ihm über den Oberkörper. Trotz der unerträglichen Hitze, war die Wärme die von ihnen ausging angenehm und niemals hätte er sich dagegen gesträubt von ihnen berührt zu werden.
“Du solltest schlafen.”, sagte er an den Jüngeren gewandt und musterte diesen von oben bis unten. Nach wie vor bekam er nicht genug davon, er war jedes mal erneut überfordert von den Gefühlen die sich in ihm aufstauten, wenn er Mica sah, und sein Herz drohte nahezu zu platzen. Es minderte den Schmerz, der konstant präsent war ebenfalls und machte es leichter über ihr trauriges Schicksal für einen kurzen Moment hinwegzusehen.
“Ich wollte nicht schlafen wenn sie ankommen.”, flüsterte der andere, als wär es bereits soweit, aber selbst dann hätte ihr Geflüster nichts mehr gebracht. Jetzt noch etwas zu verheimlichen, war komplett sinnlos, wo doch bereits alle wussten, wie es um die beiden stand. Keine heimlichen Blicke mehr, keine versehentlichen Berührungen, keine geheimen Treffen mehr während des Tages und vor allem bald keine gemeinsamen Nächte mehr, in denen sie sich gegenseitig süße Worte zuflüsterten. Mica stand nur in einem Leinentuch eingewickelt vor ihm, die Haare zerzaust, die Stirnfransen an der Stirn klebend. Seine Lippen waren immer noch stark gerötet und etwas angeschwollen und an seinem Hals sowie an seinem Oberkörper, zierten etliche purpurfarbene Markierungen die leicht gebräunte Haut. “Meins.”, hatte Sevro vor wenigen Stunden zwischen ihrem Keuchen immer wieder wiederholt. “Deins.”, hatte der andere ihm restlos erwidert. Obwohl er ein egoistischer Mann war, hatte er den Jüngeren nie dazu gezwungen bei ihm zu bleiben. Ihn in Sicherheit zu wiegen, war seine oberste Priorität gewesen und das Angebot, ihn zu Bekannten in England zu bringen, stand von Anfang an. Aber er war egoistisch, als er Mica den Wunsch, bis am Ende an seiner Seite zu bleiben, nicht abschlagen konnte. Ihm fiel es schon immer schwer “Nein” zu sagen, wenn es um den Sklaven ging, der ihn mit wenigen Worten und einfachen Gesten komplett um den Verstand brachte.
Sevros Arme umschlangen den Körper des anderen, den er protektiv an sich zog und sich einmal mehr von den Lippen des anderen ablenken ließ. Sie hörten die leisen Rufe in der Ferne, die stetig lauter wurden. Aus ihren Augenwinkeln sahen sie die Fackeln, die sich in zügigem Tempo näherten, aber dennoch ließen sie nicht voneinander ab. Flucht wäre keine Option gewesen, nicht jetzt, wo sie schon so nahe waren. Sie rechneten damit und hatten dafür spezielle Leute engagiert, die sie draußen abfangen konnten und wenn er die Wahl zwischen einem Tod in seinem Anwesen oder einer demütigen Hinrichtung vor dem Volk hatte, dann musste er nicht lange überlegen. Auch jetzt würde er nicht vor ihnen in die Knie gehen und dem Kardinal eher in’s Gesicht spucken, als irgendeine Art von Reue für das was er getan hatte zu zeigen.
“Hast du Angst?”, murmelte der Ältere an die Lippen des anderen, während er ihm behutsam über den Rücken strich und bekam ein sanftes Kopfschütteln als Antwort auf seine Frage. Wie konnte jemand wie er eine so aufrichtige Person verdienen, die selbst in ihren letzten Momenten keinen Rückzieher machte? “Man sagt doch, dass Seelenverwandte selbst nach dem Tod auf ewig miteinander verbunden sind.”, erklärte Mica und strich dem Pianisten über die Wange. Seelenverwandte. Sah er sie als genau das? War Sevro derjenige der ihn vollkommen machte? Hatte ausgerechnet er die Ehre jemanden wie den schwarzhaarigen Bauernjungen sein Eigen zu nennen? Die Worte schmeichelten ihn, brachten ihn in Verlegenheit und er fragte sich, wo sein Geliebter so etwas gehört oder gelesen hatte. Nichtsdestotrotz war es ein schöner Gedanke, an den auch er sich festhalten wollte, denn ein Leben ohne den anderen machte für ihn keinen Sinn mehr, hatte dieser ihm doch erst gezeigt wie schön es sein konnte, wenn man nur jemanden hatte, der einem alles und noch mehr bedeutete. Das Feuer war schnell gelegt. Sie schlugen die Fenster mit ihren Fackeln ein und das teure Mobiliar aus Holz fing unmittelbar an zu brennen, ehe auch die Vorhänge und der Holzboden, sowie die Tapete Feuer fingen. Die Größe des Anwesens führte dazu, dass sich die gefährliche Hitze schnell ausbreitete - hatte es doch nur einen Stock mit wenigen Zimmern. Selbst als sie die Rufe von unten hörten, setzte sich nach wie vor keiner von ihnen in Bewegung. Erst als das Volk des Kardinals auch die Fenster des oberen Stockwerks mit brennenden mit Baumwolle umwickelten Fackeln attackierten. Menschen konnten furchtbar skrupellos sein und so blind vor Macht und Wut, dass sie jeden erdenklichen Schritt wagten, um sich auf irgendeine Art zu beweisen. So auch diese Leute, die wahrscheinlich nicht einmal wussten, wer Sevro war und einfach nur dem Kardinal, der höheren Macht im Lande, imponieren wollten. Wahrscheinlich hatten sie auch einfach Angst um ihr eigenes Leben, denn des Verrats bezichtigt zu werden, war so zu dieser Zeit so üblich wie der Kirchgang am Sonntag. Alles Feiglinge. Opfer der höheren Instanz, unfähig eine eigene Meinung zu haben. Sein Tod würde nichts daran ändern - er war kein Held, kein Auslöser für eine Revolution - diese kam erst Jahre später. Aber zumindest hatte er die Gewissheit, für etwas Gutes gestorben zu sein.
Mica griff nach den schlanken Händen und vernetzte ihre Finger miteinander. Sie hatten nur noch wenige Momente. Das Feuer hatte sie längst erreicht und der Raum leuchtete förmlich lichterloh. Das Atmen fiel beiden mittlerweile schwer, der Rauch wurde immer dichter. Sevro hoffte, dass es nicht zu schmerzhaft für ihn sein würde. Sein Sklave hatte genug gelitten und wenn er gekonnt hätte, so hätte er den ganzen Schmerz auf sich genommen, damit er nichts davon spürte. Nicht in der Lage länger zu stehen, ließen sie sich auf den Boden unter dem Fensterbrett senken. Immer noch hielten sie einander, der Jüngere zwischen den Beinen des Pianisten und seitlich an dessen Brust lehnend. Er fing an zu weinen und auch wenn sie darauf vorbereitet gewesen waren, konnten sie es nicht verhindern, dass sie am Ende doch einknickten und die Angst Kontrolle über sie nahm. Zu wissen, dass es jeden Moment vorbei war, war schrecklich und erlösend zugleich. Wie konnten sie bloß denken, dass sie sich mutig gegenüber dem Tod zeigen konnten? Sie waren keine furchtlosen, allwissenden Götter - nur zwei Seelen, die einander zur falschen Zeit und am falschen Ort gefunden und sich unsterblich ineinander verliebt hatten.
“Wir beide gegen den Rest der Welt?”, ächzte der Ältere und war sich gar nicht mehr sicher, ob Mica noch bei Bewusstsein war, doch dieser hob den Kopf, nickte und ließ sich die Tränen aus dem Gesicht wischen. Sevro hielt ihn fester als je zuvor, strich ihm durchs Haar, küsste seine Schläfe, seine Nase, seine Wange... “Ich liebe dich.” Ein letzter Kuss auf die Lippen, bevor alles schwarz wurde und das Feuer schließlich auch sie unbarmherzig verschlang.

Es war eine schwüle Nacht im August 1643 als das Bellona Anwesen am Rande von Paris lichterloh in Flammen stand und zwei Liebende ihr Leben füreinander opferten.

Crispin Cipriano

August

Niemand konnte das Jenseits so wirklich beschreiben und auch wenn man ihn fragte, wäre es ihm unmöglich gewesen es in Worte zu fassen. Es war kalt und heiß zugleich, dunkel und hell ...laut und leise. Hier gab es keine Zeit und keinen Raum und doch wirkte es manchmal, als würde man erdrückt werden, als wäre man schon eine Ewigkeit in diesem Limbus. Manchmal kam es vor, dass er eine Stimme vernahm, die nach ihm rief, oder dass er eine Hand auf seiner Schulter spürte. “Bist du bereit zu vergessen? Wie lange willst du noch umherirren? Möchtest du deinem Nachleben einen Sinn geben?”
Vergessen. Wollte er das? Wollte er all die schönen Momente mit dem jungen Sklaven einfach aus seinem Gedächtnis löschen? Er dachte ständig an ihn, fragte sich, ob er auch hier war, ob es ihm genauso ging. Ihn nicht mehr an seiner Seite zu haben, machte ihn kaputt und hinterließ nichts anderes als Trauer in ihm. Wie lange wollte er also noch so “weiterleben”? Anfangs wehrte er sich gegen die Stimmen, ignorierte sie, wollte einfach nichts davon hören. Wieso sollte er Mica vergessen? Er war die einzige Person, die ihm etwas bedeutete. Doch mit der Zeit, mit der vielen Trauer und der Sehnsucht und dem Schmerz, der unerträglich wurde, sehnte er sich immer mehr danach einfach nichts mehr zu fühlen. Hieß es nicht, dass Seelen nach dem Tod ihren Frieden fanden? Wieso musste er dann so leiden? Waren die Stimmen seine Erlöser? Seine Retter? Wie lange es dauerte, bis er sich ihnen hingab, konnte er nicht sagen. Im Nachhinein erfuhr er, dass es um die 158 Menschenjahre waren, die er im Jenseits gelitten und auf seine große Liebe gewartet hatte. Fast 160 Jahre… würde er es ihm jemals verzeihen, dass er nicht durchhielt? Dass er ab einem Zeitpunkt einfach nur noch wollte, dass die Stimmten aufhörten in seinem Kopf zu schwirren?
“Lasst mich vergessen.” waren die ersten drei Worte, die er nach seinem Tod und nach über einem Jahrhundert sagte und damit begann sein richtiges Nachleben - und zwar als Engel.

“Wie lautet dein Name?”, fragte ihn eine ruhige Stimme. Sie kam von einem jungen Mann, in einem weißen Kittel, der neben ihm auf einer Sitzbank aus Stein saß und dessen Gesicht er erst nach wenigen Momenten glasklar sehen konnte - als wäre er gerade erst aus einem Traum aufgewacht. Sie befanden sich in einem Park mit einem Springbrunnen und saßen nebeneinander, als hätten sie die letzte Stunde damit verbracht gemütlich nebeneinander zu sitzen und miteinander zu plaudern. “Wie möchtest du heißen?”, versuchte es der andere noch einmal. Sein Name. Wie lautete er? Nichts, sein Kopf war vollkommen leer. Die einfachste Frage stellte sich plötzlich als größte Herausforderung dar und bevor er den Mund öffnen konnte um zu sagen, dass er keine Antwort darauf wusste, lächelte der andere, als hätte er dieses Gespräch schon tausend Mal geführt. “Falls es dir hilft, können wir uns gemeinsam einen Namen für dich überlegen. Meiner ist Hope, ich bin-”
“August”
“Wie bitte?”
“Du hast nach meinem Namen gefragt. August.”
Einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen und Hope sah ihn verwirrt an. “Darf ich fragen wieso du dich dafür entschieden hast?” Ja, der Name war unüblich, altmodisch, aber eine Anspielung auf das einzige, an das er sich klar und deutlich erinnerte: Sein Todestag. “Ich bin am 9. August gestorben. Das ist alles was ich weiß.” Mehr konnte er ihnen nicht sagen, denn es herrschte bis auf das Datum komplette Leere in seinen Gedanken. Nun, das stimmte nicht ganz. Er konnte sich daran erinnern, in welcher Zeit er gelebt hatte und welches Status er hatte. Allgemeine Dinge waren durchaus noch da, aber sobald er ins Detail gehen und Beziehungen, Namen, Orte oder Ähnliches beschreiben wollte, stieß er auf eine Blockade. Ab da war dann einfach nichts mehr in seinem Kopf, egal wie krampfhaft er versuchte sich daran zu erinnern. Es löste kein Unbehagen in ihm aus, wie es wohl bei anderen wäre, wenn sie sich plötzlich an kaum etwas erinnerten. Stattdessen war es eher Erleichterung und Dankbarkeit. Hope lächelte ihn an. “Willkommen im Himmel, August.”


Dunkles Haar, Rehaugen, die gerade geschlossen waren, und eine leise Melodie die von einem Klavier kam auf dem der Junge spielte. Dies waren die Dinge, die August Tag für Tag von oben aus beobachtete. Sein Klavierspiel war himmlisch und als Engel musste er wissen wovon er sprach. Es klang so… ehrlich, so unverblümt und das für jemanden in seinem Alter. Wie viele Stunden er schon hier verbracht hatte, einfach nur um den anderen beim Spielen zuzuhören? Anfangs war er nur an den Klavierstunden interessiert und hatte sich gemerkt zu welchen Uhrzeiten er spielte, aber nach einer Weile spielte eine gewisse Neugier mit. Die Menschen interessierten ihn nicht wirklich - nicht wenn er hier oben mit verstorbenen Seelen reden und ihre Geschichten hören konnte. August suchte nach einer Bestimmung für sein Nachleben, denn so schön und unbeschwert das Leben im Paradies war, konnte er nicht leugnen, dass es ihn irgendwo auch langweilte. Hope hatte ihm von den Rängen und den Berufungen erzählt. Er selbst war so etwas wie ein Arzt für die verwundeten Engel die Dämonen jagten und er züchtete Ambrosia um Heilmittel für sie herzustellen. Medizin war allerdings nichts für den Schwarzhaarigen, zumindest nicht für die Ewigkeit. “Lass dir Zeit damit. Irgendwann wird sich etwas für dich finden.” Ja, irgendwann vielleicht. Während er also auf diese Erleuchtung wartete, hörte er dem Jungen von der Erde beim Spielen zu. Sein Spiel beruhigte ihn, mehr als es der Himmel jemals tun könnte, und erinnerte ihn an etwas, das das Gefühl von Zuhause in ihm auslöste. Ein warmes und sicheres Gefühl, dass sich um sein Herz legte, wie eine warme Decke. Aber auch Sehnsucht, als ob ihm etwas schrecklich fehlen würde... Er wollte mehr erfahren, mehr als nur die Klavierstunden sehen. Zum ersten Mal seit langem zog jemand seine Aufmerksamkeit auf sich und ausgerechnet ein Mensch, der für ihn von oben aus komplett unnahbar war. Gerne hätte er mit ihm gesprochen, ihn gefragt, wie er ohne Noten so gut spielen konnte, was er sonst in seiner Freizeit machte… Aber das durfte er selbstverständlich nicht. Woher dieses Interesse kam, konnte er nicht sagen - er fand es ebenfalls seltsam, aber da war einfach etwas, dass ihn nicht in Ruhe ließ.
“Du sitzt ja schon wieder hier.”, sagte eine hohe Stimme. Sie gehörte einem anderen Engel, der sich August als Aspen vorgestellt hatte. Er gehörte zu den Engeln, die Dämonen jagten. “Beobachtest du schon wieder den Jungen? Du weißt, dass das nicht gerne gesehen ist. Vor allem, weil du nur ihm zuzusehen scheinst.”, warnte er, als ob er mehr wusste als der andere selbst. “Er spielt wundervoll. Wie könnte ich ihm nicht zuhören?”
“Vermisst du es selbst zu spielen?”, fragte Aspen.
Hm? August dachte darüber nach und wieder stieß er auf diese Blockade… “Habe ich früher gespielt?”, fragte er leise und verstand nicht, wieso der Dämonenjäger davon wusste. Streng genommen war es keinem der Engel gestattet etwas über das vorherige Leben eines anderen zu wissen - mit der Ausnahme von demjenigen, der die Erinnerungen auslöschte und soweit er wusste, war das in seinem Fall Hope gewesen. “Im großen Saal gibt es ein Klavier. Ezra spielt oft darauf, aber seine Stücke sind miserabel. Vielleicht solltest du dich mal an seinen Platz setzen. Wir wären dir alle dankbar.”, meinte er lächelnd und stand auf, bevor er dem Kleineren die Hand reichte, um ihm aufzuhelfen.
Und tatsächlich - am selben Abend saß August vor dem weißen Flügel und spielte mit geschlossenen Augen Lieder aus alten Zeiten. Instinktiv drückten seine schmalen Finger die richtigen Tasten und zogen damit die Aufmerksamkeit der anderen auf sich, die dem Virtuosen beim Spielen lauschten. Von dem Tag an hörte er auf den Jungen von der Erde zu beobachten…

Bis zu dem Zeitpunkt, als er durch Zufall mitbekam, wie sich Hope mit einem der neuen Engel unterhielt. Es war eine hitzige Diskussion, wenn man so meinen mochte und obwohl sie miteinander flüsterten, wirkte es, als würden sie sich lautlos anschreien. Gerade kam er vom Training, da er den Posten eines Dämonenjägers anstrebte. Nicht unbedingt sein Traumjob, aber etwas womit er sich auf längere Zeit hin zufrieden geben würde. Beide standen in dem Raum, in dem August früher so viel Zeit verbracht hatte, um auf die Erde hinab zu sehen und als dieser auf der Suche nach seinem besten Freund war, betrat er diesen und unterbrach damit das Gespräch der beiden. “Stör ich?”, fragte er und zog eine Augenbraue hoch, während er näher kam. Aus dem Augenwinkel sah er das bekannte Gesicht, dass er vor einem Jahr fast jede Tag gesehen hatte. Der Junge. Mit der Ausnahme, dass Blut und unschöne Flecken sein Gesicht zierten. “W-was ist mit ihm passiert?”, fragte er entsetzt und konnte den Blick im ersten Moment gar nicht abwenden. Wieso war er verletzt? Wieso saß er nicht vor seinem Klavier, wo er in Sicherheit war? “Er hat sich geprügelt. Und sein lieber Schutzengel” Hope’s Blick richtete sich vorwurfsvoll auf seinen Gesprächspartner, “war viel zu spät dran!”
“Ich sagte doch, dass ich diesen Posten gar nicht wollte! Aspen hat mich dazu überredet. Hätte ich gewusst, dass das so anstrengend wird dann-... Ich meine seht ihn euch mal an! Das ist diese Woche schon das vierte Mal!”
“Wie bitte?”
“Oh, armer Roy, hat die Hände voll mit seinem Schützling zu tun. Was denkst du, wie viele Engel ich täglich verpflegen muss?”, zischte Hope und stemmte dabei die Hände in die Hüfte.
Immer noch lag sein Blick auf dem Jungen, der gerade an einer Straßenecke hockte und die Augen geschlossen hatte. Der Anblick schmerzte… Er wirkte so einsam, zurückgelassen.
Als August wieder zu den beiden Streithälsen sah und ihnen sagen wollte, dass sie sich gefälligst beruhigen sollen, stand der Junge plötzlich auf.
“Siehst du, es geht ihm gut!”
“Nennst du das etwa gut, Roy?! Er ist verletzt!”
Eine Gruppe von Männern ging die Straße entlang und fast als hätte er es geahnt, schüttelte der Schwarzhaarige den Kopf. “Nein, tu es nicht…”, flüsterte er, aber es war zu spät. Der Junge, den er eigentlich als friedlich und sanft eingeschätzt hatte, wurde von einem der Männer angerempelt und im nächsten Moment am Hals gepackt und gegen die Wand gedrückt. Er löste den Blick, als der erste Schlag verteilt wurde und sah zu den beiden anderen, die sich weiterhin anfuhren und beleidigten, ohne den Blick voneinander abzuwenden.
“Hey! Er ist in Gefahr!! ROY!”, brüllte der Pianist und deutete auf die Szene.
“Geh sofort runter und rette ihn!”, rief Hope und duldete keine Widerworte.
“Vergiss es, ich gebe ihn ab. Ich wüsste nicht mal wie-”
“Sie prügeln ihn zu Tode, spinnst du?! Du kannst ihn nicht ausgerechnet jetzt abgeben!!”
“Wie soll ich ihn da rausbekommen?!”
Der Junge lag bereits am Boden und die Männer traten unerlässlich auf ihn ein. Jeder Tritt schmerzte auch dem Engel, der jedes Mal erneut zusammen zuckte.
“Roy, wenn du nicht sofort-”
“Schick mich hinunter! Ich helfe ihm!”, rief August dazwischen und beide Engel sahen zu ihm.
“August, du bist kein Schutzengel, ich darf dich nicht einfach-”
“Das ist mir egal, verdammt! Ich übernehme ihn! Schick mich sofort hinunter, sonst stirbt er!”
Sie tauschten schnelle Blicke miteinander aus und Hope ging auf seinen besten Freund zu, um die Hand auf seine Brust zu legen und ihn ernst anzusehen. “Beeil dich.”

Viel zeit blieb ihm nicht, um sich an das Gefühl wieder auf der Erde zu sein, denn er befand sich plötzlich mitten im Geschehen - um genau zu sein hinter einem der Männer, die den Jungen umzingelten. August zog den ersten am Arm zu sich hinunter und knockte ihn sogleich aus, bevor er die Aufmerksamkeit der Gang komplett auf sich zog. Sie ließen von dem Jüngeren ab und widmeten sich dem Schwarzhaarigen, der keine Zeit verschwendete, um dem nächsten gleich mit seinem Fuß in die Magengrube zu treten und dem anderen das Bein zu stellen und seinen Arm am Rücken zu verdrehen, als er am Boden lag. “Was seid ihr eigentlich für Pisser?!”, zischte er und sah zu dem letzten Typen, der sich unsicher distanzierte und die Arme hob. Die Zeit bei den Dämonenjägern hatte sein Vokabular um einige unfreundliche Phrasen erweitert und seine Wut so in Worte umzuwandeln war für ihn fast schon eine Erlösung, wenn man bedachte dass er anfangs nie geschimpft hatte. “Oh nein, nein, nein - du bleibst schön hier und holst dir was dir zusteht.”, sagte er trat noch einmal nach dem Mann, dessen Arm er verdreht hatte, bevor er auf den letzten Typen zurannte und ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden warf. An den Haaren hochgezogen schnappte dieser wie ein Fisch nach Luft und kassierte ebenso vier Schläge ins Gesicht, bevor er zusammen sackte. Keuchend stand er auf und ging ein paar Schritte zurück, bevor ihm seine eigentliche Aufgabe einfiel: Der Junge. Dieser hatte versucht weg zu kriechen und lehnte nun wieder an der Wand. August verschwendete keine Zeit und ging gleich auf ihn zu, um sich vor ihn zu hocken und mit den Armen nach ihm zu greifen, damit er ihm aufhelfen und ihn stützen konnte. “Wir müssen hier weg.”, sagte er nur und hielt den anderen sicher im Arm, während sie in die nächste Gasse abbogen und nach einer Weile auf einer Parkbank Platz nahmen.
“Wer bist du...?”, nuschelte der Jüngere und sah zu ihm, während der Engel ihm, so gut es ging das Blut mit seinem Ärmel vom Gesicht wischte.
“Wieso hast du mir geholfen?” Als verstünde er die Welt nicht mehr, zog der Junge die Augenbrauen zusammen. Wow, Roy musste wirklich einen miesen Job geleistet haben. Einige der Flecken waren schon älter und deuteten tatsächlich darauf hin, dass er sich regelmäßig prügelte.
“Wenn ich dir sage, dass ich dein Schutzengel bin, würdest du mir glauben?”, fragte der Ältere und legte den Kopf dabei etwas schief.
“Die gibt’s nicht…”, murmelte er.
Natürlich glaubte er ihm nicht, deswegen hatte August auch keine Bedenken gehabt sich indirekt vor ihm als einer zu outen. Die meisten glaubten nicht an sie und so war es auch leichter sich unter den Menschen zu bewegen.
“Wie heißt du?”, fragte der Engel leise und hielt dabei gerade sein Gesicht, um es von einer Seite auf die andere zu drehen. Bis jetzt hatte er ihn immer nur als “der Junge” bezeichnet und eigentlich sollte es ihn gar nicht interessieren, aber wenn er nun tatsächlich sein Schützling wurde, dann hatte er doch ein Recht darauf es zu erfahren oder nicht?
“Warum sollte ich dir das sagen?!”, entgegnete ihm der andere trotzig und nein, er fand es kein bisschen süß.
“Für jemanden, dem ich gerade den Arsch gerettet habe, bist du ziemlich unfreundlich.” Er kniff probeweise seine Nase, um zu sehen, ob sie verstaucht war, nachdem sie so stark geblutet hatte.
“H-hey, das tut weh! Lass das!”
“Ach, was du nicht sagst. Jetzt halt still, ich hab keinen Verbandskasten mit, also muss das hier reichen.”, sagte er und zog einen kleinen blaue schimmernden Tiegel hervor. Ambrosia. Das Heilmittel für so ziemlich alles, wenn man es richtig dosierte. Er nahm eine klitzekleine Menge davon auf den Finger und schmierte es auf alle Wunden im Gesicht und auf die Knöchel an den Händen des anderen.
“Crispin.”
“Hm?”
“Ich heiße Crispin.”
August lächelte sanft, während er die Heilsalbe wieder verstaute und sich aufrichtete.
“Na dann, Crispin. Du hast heute echt Glück gehabt. Ohne mich wärst du jetzt wahrscheinlich tot.”
Crispin schnaubte und sah kopfschüttelnd zur Seite. Gerne hätte er ihn gefragt, warum er sich so restlos in Schlägereien begab, aber seine Aufgabe war erledigt und sie hatten sowieso schon viel zu viel miteinander geredet. Hope würde ihn deswegen sicher ermahnen, aber er war dieses mal noch im Vorteil, denn es war 1.) sein erster Einsatz und 2.) hatte er sich für diesen sehr kurzfristig gemeldet. Ohne eine richtige Einschulung konnte er das alles ja gar nicht wissen - mit der Ausnahme, dass er es eigentlich tat, so wie alle Engel im Himmel. Aber dennoch würde man ihm dieses mal verzeihen und ein Auge zudrücken.
“Schaffst du es alleine nach Hause?”, erkundigte sich der Ältere und schob die Hände in seine Jackentasche. Crispin nickte schweigend. “Gut, denn ich muss jetzt los. Aber vorher musst du mir noch versprechen, dass du so etwas nie wieder machst.”
Verwirrt sah der Jüngere zu ihm hoch und öffnete den Mund um etwas zu sagen. “Nicht mehr so oft.”, korrigierte August grinsend. “Sonst muss ich dich ständig retten.”

Crispin Cipriano

Crispin

“Hör bitte auf zu weinen, Cyr… Wenn Mom und Dad dich so sehen, gibt es jede Menge Ärger.”
Etwas unbeholfen kniete Crispin vor seinem Bruder und wusste nicht so ganz, was er tun sollte, um ihn dazu zu bringen, mit dem Weinen aufzuhören. Ihre Eltern sahen es nicht gerne, wenn sie das taten. Sie sagten ihnen dann immer, dass Jungs nicht weinten, weil es sie nur schwach aussehen ließ. Zudem würde sie - und vor allem ihn - mehr als genug Ärger erwarten, sobald sie zu Hause waren. Schließlich hatten sie sich einfach von einem wichtigen Treffen ihres Vaters mit seinem neuen Chef geschlichen. Crispin mochte den Mann nicht. Er hatte ihn angesehen, als wäre er ein lästiges Insekt, als er ihn und seine Frau fragte, ob er der Katze, die sie besaßen, das Glöckchen vom Halsband abmachen konnte. Für ihn war es eine schreckliche Vorstellung, die ganze Zeit dieses Geklingel zu hören und so dachte er, dass es der Katze vielleicht genauso ging. Am Ende hatte er von seinem Vater gehört, er solle sich nicht einmischen, und wurde somit mundtot gemacht.
Dass er sich zusammen mit Cyrian weggeschlichen hatte, lag aber auch daran, dass es einfach unglaublich langweilig war und er in dem großen Garten einige Kirschbäume gesehen hatte, die bereits Früchte trugen. Raus durften sie natürlich nicht, denn das hätte ja ihre Sachen - maßgeschneiderte Anzüge, den er absolut unbequem fand und sich darin unwohl fühlte - ruiniert. Aus diesem Grund hatte ihn sein großer Bruder auch erst davon abhalten wollen. Doch Crispin wusste, wie er ihn um den Finger wickeln konnte und notfalls hätte er sich eben alleine rausgeschlichen und genau das zog. Cyrian war nur ein Jahr älter als er, fühlte sich aber trotzdem dafür verantwortlich, auf ihn aufzupassen und zu verhindern, dass er zu viel Blödsinn anstellte - was nicht immer wirklich klappte. So auch dieses Mal nicht. Irgendwann hatte ihn die Aussicht auf ein paar Kirschen genauso unvorsichtig wie Cris gemacht.
Den Salat hatten sie nun. Ihre Sachen waren an mehreren Stellen zerrissen, weil sie sich auf dem Weg nach draußen in einen der Büsche gerettet hatten, um nicht von einem der Angestellten - die Crispin liebevoll Pinguine getauft hatte - entdeckt zu werden. Zudem waren Cyrians Knie aufgeschlagen und auch seine Hände hatten einiges abbekommen, als er vom Baum gefallen war. Dies war auch der Grund für ihre derzeitige Situation, doch zu seinem Glück beruhigte sich sein Bruder langsam wieder und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor er ihn direkt ansah.
“Ist bei dir alles in Ordnung?”
Da war er wieder: der Der große Bruder, der sich eher um ihn sorgte, obwohl er derjenige war, der mehr abbekommen hatte. Er selbst hatte nur ein paar Kratzer an den Händen und im Gesicht. Solche kleinen Verletzungen waren nichts Neues für ihn und so nickte er nur. Zu mehr kam er nicht, denn in dem Moment hörte er auch schon die besorgte und gleichzeitig aufgebrachte Stimme ihrer Mutter. Sein Blick ging in ihre Richtung und er verzog das Gesicht, da er ganz genau wusste, was nun auf ihn zukam.
“Da seid ihr beiden ja. Wir haben euch schon gesucht.”
Mit diesen Worten blieb sie nur ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen, musterte sie eingehend, wobei der Ausdruck in ihrem Gesicht ziemlich schnell von Überraschung zu Ärger wechselte und ihn schlucken ließ. Ihr strenger Blick traf genau auf ihn und er spürte, wie leichter Trotz in ihm aufstieg und er sah sie seinerseits ein wenig bockig an.
“Crispin, was hast du wieder angestellt? Sieh dir an, was mit deinem Bruder passiert ist, und daran bist ganz gewiss wieder nur du Schuld.”
Er wollte etwas dazu sagen, auch wenn er nicht ganz wusste, was, da er nun einmal derjenige war, der den Plan gefasst und Cyrian überredet hatte. Dieser kam ihm allerdings zuvor.
“Nein, Mom. Cris hat keine Schuld. Das war alles meine Idee. Ich wollte so gerne ein paar der Kirschen haben. Also haben wir uns zusammen rausgeschlichen.”
Überrascht sah er zu seinem Bruder, der ihre Mutter glatt anlog und ihn in Schutz nahm. Dadurch wusste er noch weniger, was er sagen sollte - was aber vermutlich auch besser so war, um nicht alles kaputt zu machen. Ihre Mutter schien genauso überrascht zu sein, denn sie sah Cyrian ebenfalls ungläubig an.
“Du? Du bist doch der Vernünftigere von euch beiden. Aber selbst, wenn du auf diese Idee kamst, hat Cris einen schlechten Einfluss auf dich.”
Dass er ebenfalls noch anwesend war und hörte, was sie sagte, schien sie nicht zu interessieren und so hielt sie ihre Predigt, die aber vielleicht auch für ihn mit bestimmt war.

Am späten Abend - ihre Eltern hatten sich bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen - tapste Crispin barfuß und mit seinem pinken Hasen im Arm zum Zimmer seines Bruders. Eigentlich war ihnen das, sobald sie zum Schlafen ins Bett gesteckt wurden, genauso verboten wie zu weinen, aber dennoch schlichen sie sich immer wieder mal zu dem anderen, wenn sie nicht schlafen konnten und heute war er an der Reihe. Er hatte einen Alptraum und brauchte gerade einfach die Nähe zu Cyrian, ohne die er sicher nicht wieder einschlafen konnte. Auf Zehenspitzen lief er an der Schlafzimmertür vorbei und noch ein Stück weiter bis er an seinem Ziel angekommen war. Leise und vorsichtig öffnete er die Tür und schlüpfte in das fast komplett dunkle Zimmer hinein. Das sanfte Licht des Mondes, das durchs Fenster hereinschien und die Tatsache, dass sich seine Augen an die Dunkelheit bereits gewöhnt hatten, ließen ihn alles zumindest so weit erkennen, dass er nirgendwo davor lief, als er sich seinen Weg zum Bett bahnte. Direkt davor blieb er stehen und biss sich unsicher auf die Unterlippe, während er das Plüschtier noch enger an sich drückte.
“Bist du noch wach?”, flüsterte er leise, aber laut genug, dass sein Bruder ihn hören konnte, sollte er tatsächlich noch nicht schlafen. Zu seinem Glück musste er auch nicht lange warten, bis sich Cyrian unter seiner Decke regte und seinen Kopf zu ihm drehte, da er mit dem Rücken zu ihm lag. Als er ihn sah, drehte er sich allerdings komplett zu ihm und hob die Decke an, was ihre stumme Aufforderung war, dass der andere zu einem ins Bett krabbeln sollte. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen tat Cris auch genau das und schlüpfte zu ihm unter die Decke.
“Was ist los, Pino?”
Bei diesem Spitznamen musste er noch ein wenig mehr lächeln und der Grund, warum er hierher kam, war beinahe schon wieder vergessen. Cyrian war der einzige, der ihn so nannte. Für alle anderen war er immer nur Cris oder man ließ sich - wie die anderen Kinder in seiner Klasse - andere Spitznamen für ihn einfallen, die ihm alles andere als gefielen.
“Ich hab nur schlecht geträumt…”
“Willst du mir davon erzählen?”
Seine einzige Antwort war ein trotziges Kopfschütteln. Gleichzeitig drückte er seinen Hasen enger an sich und kuschelte sich an seinen Bruder. Er wollte nicht darüber reden, denn dann hätte er nur angefangen zu weinen und das wollte er auch nicht. Ihre Eltern würden es zwar nicht herausbekommen, aber er wollte es dennoch nicht.
“Danke, dass du mich vorhin in Schutz genommen hast”, murmelte er leise und schläfrig. Seine Augen fielen ihm zu und er sank in einen erholsamen Schlaf, als sich Cyrians Arme um ihn legten und seine Antwort bekam er somit gar nicht mehr mit.

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“Ach verdammt!”, fluchte Crispin lautstark, als er mit dem Unterarm das heiße Backblech berührte, auf dem seine Pizza lag und dieses dabei auf den Boden beförderte. Die Stelle brannte höllisch, obwohl er nur kurz dran gekommen war, aber noch viel mehr ärgerte er sich darüber, dass sein Essen nun hinüber war, weil das Blech natürlich ausgerechnet so aufkommen musste, dass es auf der Pizza lag. Murphys Gesetz hatte mal wieder erfolgreich zugeschlagen. Bevor er die Sauerei jedoch wegmachen konnte, kühlte er seinen Arm, da dieser einfach nicht aufhören wollte, weh zu tun und bereits einen unschönen roten Fleck aufwies. Crispin kannte sich mit Prellungen und anderen Verletzungen wunderbar aus. Schließlich kam er mit diesen ständig nach Hause. Verbrennungen waren eher seltener der Fall. Kochen war einfach nicht sein Ding, war es nie und würde es wohl auch niemals werden. Im Normalfall hatten sie auch eine Haushälterin dafür, aber da deren Kind krank geworden war, musste sie zeitiger weg und das bevor sie etwas kochen konnte. Sprich er hätte ohne Abendessen dagestanden, wenn sich nicht zumindest noch die Pizza im Tiefkühlfach befunden hätte - die nun aber auch nicht mehr verwertbar war.
Ein weiteres Mal fluchte Cris wegen seiner eigenen Ungeschicklichkeit in diesem Moment und als wäre dies alles nicht schon schlimm genug, musste auch noch sein Bruder in der Küche auftauchen.
“Du machst ganz schön viel Lärm. Was ist hier denn passiert?”
Er wandte sich zu ihm und funkelte ihn schon aus Gewohnheit wütend an.
“Mach die Augen auf, dann siehst du es! Und dann kannst du dir auch die sinnlose Frage sparen und wieder gehen!”
Cyrian zeigte kaum eine Regung und vor allem keine Überraschung. Er war seine Reaktionen bereits gewohnt, denn das letzte Mal, wo sie normal miteinander geredet hatten, war bereits eine gefühlte Ewigkeit her. Selbst wenn er versuchen würde sich daran zu erinnern, könnte er es vermutlich nicht und den kleinen Teil in seinem Inneren, der um diese Gespräche und die Nähe, die sie einmal verbunden hatte, trauerte, hatte er in die hinterste Ecke seines Herzens gesperrt, wo er nicht zu häufig daran erinnert wurde.
“Pino-”
“Nenn mich gefälligst nicht so! Die Zeiten sind lange vorbei. Und weißt du was?! Bleib ruhig hier, ich gehe. Ich hab keinen Bock auf irgendwelche neunmalklugen Sprüche von dir!”
Mit diesen Worten drehte Crispin den Wasserhahn wieder zu, trocknete kurz seinen Arm ab und schob sich anschließend an seinem Bruder vorbei aus der Küche. Sollte er die Pizza und das Blech wegräumen. Sein guter Wille dazu, der schon zuvor kaum vorhanden war, hatte sich mit Cyrians Auftauchen komplett verabschiedet. Dass sein Magen noch immer knurrte, ignorierte er ebenfalls, als er sich im Flur seine Schuhe anzog und sich seine Jacke und seinen Schlüssel schnappte, um zu verschwinden.

Seine kleine Verbrennung am Arm war im Normalfall mit Sicherheit kein Grund für einen Schutzengel bei seinem Schützling aufzutauchen und dennoch hoffte er, August wäre da, als er sich auf den Weg zu ihm machte. Sein Schutzengel war nämlich äußerst gewitzt darin, auch dies zum Anlass zu nehmen, zu ihm zu kommen. Dieses Mal hatte er es keineswegs darauf angelegt, dass er sich verletzte, aber er konnte nicht abstreiten, dass er es dennoch versuchen wollte, auszunutzen. Egal, wie lange er von August auch getrennt war, er vermisste ihn und fühlte sich einsam ohne ihn. Aus diesem Grund verfluchte er auch die Regeln, denen der andere unterworfen war, auch wenn er wusste, dass er für ihn schon so einige sehr ausreizte oder sogar brach. Am liebsten wäre ihm, er könnte sie alle brechen und einfach bei ihm bleiben, doch er wusste, dass dem anderen sein Dasein und sein Leben im Himmel ebenso wichtig war. Im Grunde war es sein Zuhause und konnte er es ihm übel nehmen, dass er das nicht einfach so hergeben wollte? Schließlich wusste er selbst, wie wichtig es war, so einen Ort zu haben, auch wenn es bei ihm kein fester Platz sondern einfach nur Augusts Anwesenheit war.
Als er bei ihm ankam, musste er nicht einmal klingeln, um sich bemerkbar zu machen, als die Tür auch schon aufging und genau die Person vor ihm stand, die er wohl nie wieder so angehen würde, wie er es kurz zuvor bei Cyrian getan hatte. Ohne was zu sagen, gingen sie hinein und sein Weg führte ihn direkt ins Wohnzimmer, während August im Bad verschwand, um vermutlich wieder einmal seine Wundersalbe zu holen. Wunder konnte diese tatsächlich vollbringen. Es brauchte nicht viel und seine Verletzungen waren nach seinen Schlägereien immer wieder ruckzuck verschwunden. Und obwohl der andere vermutlich ganz genau wusste, was passiert war, fragte er ihn danach, als er zurückkam.
“Was hast du diesmal wieder angestellt?”
“Ich wollte mir lediglich was zu essen machen. Kann ich ja nichts dafür, dass das Blech so heiß war”, grummelte er leise als Antwort und auf den Lippen des Engels erschien ein wissendes Schmunzeln. Sie wussten beide voneinander, dass sie jegliche Küche meiden sollten, weil sonst nur das reinste Chaos entstand, aber dieses Mal blieb ihm kaum etwas anderes übrig. Sich etwas zu holen, war schließlich ebenfalls ausgefallen, da ihm sein Taschengeld vorerst gestrichen wurde, nachdem er einem seiner Mitschüler die Nase gebrochen hatte.
“Das heißt, du hast auch noch nichts gegessen”, wurden seine Gedanken unterbrochen und er wollte eigentlich nur bestätigend nicken, verwarf diesen Entschluss allerdings wieder und setzte doch zu einer richtigen Antwort an.
“Nein, wann denn auch?!”
Nachdem August mit der Behandlung seiner Verbrennung fertig war, brachte dieser erst den Tiegel wieder dorthin, wo er hingehörte, bevor er in die Küche verschwand. Crispin wollte ihn schon davon abhalten, da er ahnte, dass es eine Katastrophe geben könnte. Wenige Minuten später - die befürchtete Katastrophe war ausgeblieben - kam der Engel mit einem Teller, auf dem sich ein paar Sandwiches befanden, zurück und er atmete erleichtert aus.
“Und ich dachte schon, du willst eventuell etwas kochen oder auch nur warm machen.”
Die Mikrowelle war noch immer Augusts größter Feind in der Küche - das wusste er nur zu gut - weshalb lediglich der Herd übrig geblieben wäre, aber auch der war nicht wirklich besser.
“Du bist wirklich ein kleiner Frechdachs, weißt du das?”, erwiderte der Schwarzhaarige und Crispin begann zu grinsen, bevor er sich eines der Sandwiches schnappte und seinem Magen endlich etwas zu tun gab.

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Sich mitten im Sommer zu erkälten, war wohl wirklich eine Kunst, die nicht jeder drauf hatte, selbst dann, wenn es bisher kein wirklicher Sommer war, weil es ständig nur regnete. Es wirkte, als hätte die Sonne in diesem Jahr keine Lust, sie zu verwöhnen. Crispin allerdings hatte es geschafft und das obwohl ihn August immer und immer wieder ermahnte, er solle bei diesem Wetter nicht ungeschützt draußen herumlaufen. Doch wie er nun einmal war, hörte er nicht darauf und tat einfach, was er wollte. Er liebte es einfach viel zu sehr durch den Regen zu laufen, ganz egal, ob er dadurch am Ende nass bis auf die Haut war.
So auch an diesem Tag. Bereits als er von Zuhause verschwunden war, hatte es angefangen zu regnen. Dennoch hatte er auf einen Schirm verzichtet, was dazu führte, dass er aussah wie ein begossener Pudel, als er an ihrem geheimen Treffpunkt - einem alten verlassenen Atelier - ankam. August wartete bereits auf ihn und kaum sah er ihn, traf ihn auch schon ein missbilligender Blick. Crispin wusste bereits, was er sagen wollte und trotz seiner Freude, ihn zu sehen, rollte er mit den Augen.
'Keine Sorge, ich weiß, was ich tue.' Ein Satz, den er so oft sagte, wenn er wollte, dass der Engel einfach nichts weiter dazu sagte, was er tat. Doch wie jedes Mal wurde er auch dieses Mal nicht davon verschont. Während er mit einem Handtuch, das sie in dem Atelier inzwischen vorsorglich gebunkert hatten, auf ihn zukam, damit er zumindest seine Haare trocknen konnte, schüttelte er nur den Kopf. 'Du bist bereits krank. Und solange es da draußen regnet, setze ich mit dir keinen Schritt vor die Tür.'
Crispin seufzte genervt. Er wusste, dass es der Engel nur gut meinte, aber das änderte nichts daran, dass es ihn ärgerte. 'Du bist ganz schön nervig, weißt du das?!' Das einzige, was ihn auf diese Aussage traf, war ein wissendes Grinsen, denn August wusste ganz genau, wie er es meinte. Es war eine Art Geheimsprache.
Da sich der Engel allerdings tatsächlich nicht umstimmen ließ, verbrachten sie ihre ganze gemeinsame Zeit an diesem Tag in dem Atelier. Und dennoch war dieser Tag unvergesslich. Bereits als er das Atelier das erste mal betreten hatte, war ihm das Klavier aufgefallen, das dort stand und genau an diesem saßen sie an diesem verregneten Tag und spielten gemeinsam. Es war magisch und etwas besonderes. Vor August hatte er seine Leidenschaft für dieses Instrument niemals verstecken müssen. Er konnte so sein, wie er war.

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Zuhause. Der Ort, an dem man zu jeder Zeit willkommen war, wo man sich wohl und aufgehoben fühlte. Der Ort, an dem im besten Fall jemand auf einen wartete, der einen akzeptierte, wie man war, egal, welche Ecken und Kanten man hatte. Es war ein Zufluchtsort, wenn alles drunter und drüber ging und wo man sich vor der ganzen Welt verstecken konnte, um zur Ruhe kommen zu können und Kraft zu tanken.
Für Crispin war das Haus seiner Eltern schon lange nicht mehr sein Zuhause. Es war sein Dach über dem Kopf, doch ein wirkliches Zuhause war es nicht. Lange Zeit hatte er keinen Ort gehabt, den er so bezeichnen würde. Bis zu dem Tag, an dem August ihn das erste Mal mit zu sich genommen und es sich richtig angefühlt hatte, dass er dort war. Als hätte dieser Ort nur darauf gewartet, dass er dort auftauchte. Ab diesem Tag waren Augusts Haus und allgemein die Nähe des Engels der Ort, an dem er Zuflucht suchte, wenn ihm alles zu viel wurde. So auch an einem Abend im Frühsommer.
Seine Familie war zu einem dieser unglaublich langweiligen und für ihn völlig unsinnigen Feste eingeladen, bei denen er im Normalfall ebenfalls auftauchen sollte, da es keinen guten Eindruck machte, wenn nicht die gesamte Familie dort anwesend war. Ihn interessierte dies allerdings schon lange nicht mehr. Bereits als Kind hatte er solche Veranstaltungen gehasst und irgendwann hatte er einfach angefangen, sie genauso zu schwänzen wie den einen oder anderen Schultag. Seine Eltern waren jedes Mal aufs Neue wenig begeistert davon, aber was sollten sie schon groß machen, wenn er einfach abhaute?! Zeit, ihn zu suchen, hatten sie nicht, wenn sie pünktlich zu ihrem wichtigen Termin kommen wollten. Und doch hatte Crispin immer wieder gehofft, dass er ihnen wichtiger war. Dass sie sich Sorgen machten und ihn suchen würden. Doch nichts geschah. Ganz egal, wie oft er dieses Spiel auch spielte, er war ihnen egal.
Aus diesem Grund hatte er irgendwann angefangen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Er betrank sich und provozierte einen Streit nach dem nächsten und somit auch eine Menge Prügeleien, nach deren Ende er in den meisten Fällen bei der Polizei saß und darauf wartete, abgeholt zu werden. An diesem Abend war es ebenfalls so. Er war bereits bekannt und ihm der ganze Ablauf schon in Fleisch und Blut übergegangen. Mit zerfetzten Klamotten und einigen Verletzungen im Gesicht und an den Händen saß er trotzig auf dem Gang des Polizeireviers und wartete darauf, dass seine Eltern das Gespräch beendeten, das sie vermutlich bereits auswendig kannten. Nicht weit von ihm entfernt stand sein Bruder, der ihm immer wieder verstohlene, aber angewiderte Blicke zuwarf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sich allerdings als lediglich eine Stunde entpuppte, warf sein Vater hinter ihnen die Haustür ins Schloss. Crispin wusste bereits, was ihn erwartete, nachdem alle während der Fahrt geschwiegen hatten: eine Predigt. Es war nicht die erste, die er über sich ergehen ließ, und inzwischen sagte er sich selbst, dass sie ihm vollkommen egal waren. Doch tief in seinem Inneren tat jede einzelne von ihnen weh.
‘Ich frage mich wirklich, was wir falsch gemacht haben. Wieso kannst du nicht zumindest ein bisschen, wie dein Bruder sein? Aber nein, du bist das genaue Gegenteil von ihm. Lästig und eine Schande für die gesamte Familie!’
Lästig und eine Schande… Genau dies waren die einzigen Gefühle, die ihm seine so genannte Familie immer wieder vermittelte. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, ihnen nicht zu zeigen, wie sehr es ihn verletzte und was er sich eigentlich von ihnen wünschte. Sie würden es nicht verstehen und ihm schon gar nicht geben. Aus diesem Grund verschwand er an diesem Abend ein weiteres Mal aus dem Haus, als alle beschäftigt waren und nicht mehr auf ihn achteten - was sie ohnehin selten taten.
Sein Weg führte ihn direkt zu Augusts Haus oder besser gesagt, zu dem Haus, in dem die Person lebte, deren Körper er sich für ihre Treffen lieh. Er hoffte so sehr, dass er ihn im Auge gehabt und da sein würde. Ungeduldig und zum Teil auch nervös wartete er darauf, dass sich die Tür öffnete und der Engel vor ihm stand und als es endlich so weit war und er ihm in die Augen sah, wusste er sofort, wo er war: Zuhause. Bei dem anderen war er immer willkommen, selbst dann wenn er mit kaputten Sachen und verletzt bei ihm auftauchte und er ganz genau wusste, was passiert war. Er nahm ihn an, war für ihn da, ohne aufdringliche Fragen zu stellen, wenn er nicht reden wollte und tröstete ihn alleine durch seine Anwesenheit, aber auch mit den flüchtigen Berührungen und den leisen Worten, die er ihm ins Ohr flüsterte. Und jedes Mal aufs Neue wünschte er sich, er könnte für immer bei ihm bleiben, auch wenn er ganz genau wusste, dass dies nicht ging.

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Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel, verdeckte alles unter einer weißen und im Licht glitzernden Schicht. Gebannt verfolgte Crispin den Schnee, der kleine Kristalle an der Fensterscheibe hinterließ, an der er sich gerade die Nase platt drückte, als könnte er dem Schauspiel so noch ein wenig näher sein. Es war nicht das erste Mal, dass er Schnee sah und doch war es für ihn immer wieder ein Ereignis, dem er stundenlang zusehen konnte. Dass ihm seine Beine dabei langsam einschliefen, da er auf der Fensterbank kniete, störte ihn dabei wenig, er war zu fasziniert, von dem, was er sah. Leider hatte er selten so viel Zeit und Ruhe, um das alles zu genießen und gerade konnte er das nur, weil seine Eltern gerade nicht Zuhause waren. Andernfalls würden sie ihn wohl wieder dazu zwingen, sich an dieses scheußliche Klavier zu setzen und zu üben. Er mochte es nicht und verstand nicht, warum er es lernen sollte, doch egal wie sehr er sich auch dagegen wehrte, er wurde doch immer wieder davor gesetzt und mit Hausarrest bestraft, wenn er sich weigerte. Was unter anderem ein Grund war, warum er hier am Fenster saß, anstatt wie viele andere Kinder draußen zu sein, Schneemänner zu bauen, Schneeengel zu machen oder Schneeballschlachten zu veranstalten.
Betrübt senkte er den Blick und fuhr mit den Fingern über das Glas unter seinen Händen. Selbst wenn er es wollte, wusste Crispin nicht, ob er es jemals lernen würde, Klavier zu spielen. Im Gegensatz zu seinem großen Bruder, hatte er so gar keinen Zugang dazu, da er mit den Notenblättern nichts anfangen konnte. Für ihn waren das einfach nur ein paar schwarze Kreise mit Linien und Fähnchen dran, die Muster auf dem Papier bildeten und egal, wie oft man ihm versuchte zu erklären, welche Note auf welcher Linie auf dem Papier, welche Taste auf dem Klavier darstellte, er verstand es einfach nicht. Wie auch, er war gerade einmal fünf. Dabei wollte er eigentlich nichts anderes als seinen Eltern gefallen und Cyrian nacheifern, aber er schaffte es nicht.
Einige Tränen lösten sich aus seinen Augenwinkeln und er wischte sie trotzig weg. Zu weinen half ihm auch nicht. Durch die Bewegung merkte er nun allerdings das Kribbeln in seinen Füßen und er verzog das Gesicht. Im selben Augenblick hörte er leise Musik und er wandte den Blick Richtung Tür. Sofort wurde ihm klar, woher das kam und wer am Klavier saß. Ohne zu zögern rutschte er von der Fensterbank und tapste nur in Strümpfen aus seinem Zimmer und in den Raum, aus dem die Musik kam. Und er behielt Recht. Cyrian hatte sich ans Klavier gesetzt und übte das Stück, das er zu der Weihnachtsfeier spielen sollte, zu der ihre Familie eingeladen war. Um ihn dabei nicht zu stören, blieb er in der Tür stehen, hielt sich am Rahmen fest und beobachtete ihn. Doch bereits nach ein paar weiteren Tönen hörte Cyrian auf und sah zu ihm. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen.
“Du musst da nicht stehen bleiben. Komm her.”
Normalerweise war es ihnen verboten, zusammen am Klavier zu sitzen. Es würde den anderen ablenken, hieß es, doch da ihre Eltern gerade nicht da waren, begannen seine Augen bei der Idee zu leuchten. Er liebte es, seinem Bruder beim Spielen zuzusehen und aus diesem Grund zögerte er auch nicht und lief zu ihm. Nachdem Cyrian etwas Platz gemacht hatte, setzte er sich neben ihn und hörte ihm dabei zu, wie er noch einmal von vorn begann.
Es war noch nicht perfekt - dafür übte er schließlich noch - aber für ihn klang es dennoch wunderschön und er konnte nicht verhindern, dass es ihn durchaus in den Fingern juckte, es auch zu versuchen. Dieses Gefühl hatte er immer, wenn er seinem Bruder zusah, doch sobald er alleine am Klavier saß, war davon nichts mehr zu spüren. Dann fühlte er sich einfach nur noch dazu gezwungen.
Kaum waren die letzten Töne verklungen, sah er zu Cyrian und strahlte ihn an.
“Du spielst wirklich toll. Ich wünschte, ich wäre wie du.”
Bei dem letzten Satz senkte er seine Stimme und sah traurig auf das Instrument. Vorsichtig legte er eine Hand auf die Tasten, ohne diese jedoch zu betätigen. Im nächsten Moment spürte er eine Hand auf seiner Schulter und er sah wieder zur Seite. Er bemerkte, wie sein Bruder etwas sagen wollte, doch er kam nicht dazu, denn in diesem Augenblick hörten sie die Haustür und kurz darauf standen ihre Eltern ebenfalls im Raum. Statt einer Begrüßung traf ihn direkt der missbilligende Blick ihrer Mutter.
”Crispin, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst Cyrian nicht beim Üben stören?”
Augenblicklich presste er die Lippen aufeinander. Es tat weh, dass sie so mit ihm sprach, aber er wollte ihr das nicht zeigen und so versuchte er sich, zusammenzureißen. Er wollte gerade aufstehen und wieder in seinem Zimmer verschwinden, als sie noch einmal etwas sagte.
“Bleib ruhig sitzen. Cyrian muss ohnehin eine Pause einlegen und solange kannst du üben. Komm mit, Schatz, wir haben etwas für dich.”
Den zweiten Satz richtete sie an seinen Bruder und Crispin sah zu ihm. Ihre Blicke trafen sich und er wirkte so, als wollte er ihn gerade nicht alleine lassen.
“Ich bin gleich wieder da”, meinte er mit einem kleinen Lächeln, bevor er aufstand und ihren Eltern aus dem Raum folgte. Crispin sah ihnen nach und wandte sich anschließend wieder dem Klavier zu. Und in diesem Moment traf er die Entscheidung, dass er es doch versuchen würde. Er wollte alles dafür tun, damit seine Mutter und auch sein Vater ebenso mit ihm sprachen, wie mit Cyrian.

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August? Der ist nicht mehr für dich zuständig und hat sich anderen Aufgaben zugewandt. Ab sofort wirst du mit mir Vorlieb nehmen müssen.
Immer und immer wieder ging Crispin diese Aussage durch den Kopf, die ihm der Engel entgegenbrachte, der ihn kurz zuvor gerettet hatte und nun scheinbar für seinen Schutz verantwortlich war. Sie krallte sich in seinen Gedanken fest, grub sich immer tiefer und zerriss sein Herz in tausend Stücke, sodass ein leises Wimmern über seine Lippen kam. Gleichzeitig verstärkte er den Druck seiner Finger auf dem Porzellan des Waschbeckens, an dem er sich verzweifelt versuchte festzuhalten. Er konnte es nicht fassen. Die Person, die ihm alles bedeutete und der er am meisten vertraute, hatte ihn verlassen. August hatte ihn im Stich gelassen, ihn weggeworfen, wie ein Spielzeug, an dem man das Interesse vollkommen verloren hatte und bei dem man sicher war, es nie wieder in die Hand zu nehmen. Er hatte ihn benutzt und fallen lassen...
Allein bei diesem Gedanken, drohten seine Beine unter ihm nachzugeben und er hatte alle Mühe sowohl stehen zu bleiben als auch die Tränen zurückzuhalten, die in ihm aufstiegen. Er wollte nicht weinen. Diese Genugtuung wollte er ihm nicht geben, falls er ihn doch weiter im Auge behielt, um zu sehen, was er angerichtet hatte. Am liebsten hätte er all seinen Schmerz und seine Verzweiflung hinausgeschrien, doch auch das hielt er zurück, denn er war nicht alleine zu Hause. Cyrian war nur ein paar Räume weiter in seinem Zimmer und keiner seiner Familie sollte ihn in diesem Zustand sehen - auch nicht sein Bruder - weshalb er sich auch im Bad eingeschlossen hatte. Er wollte niemanden sehen und von niemandem gesehen werden - nicht, wenn man ihm mehr als deutlich ansah, dass man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, wo er nun noch immer blutend und zerbrochen lag - unfähig, sich wieder aufzurappeln.
Widerwillig löste er seinen Blick von dem weißen Porzellan und hob sein Gesicht an, um in den Spiegel zu sehen, der direkt vor ihm war. Was er dort sah, das Gesicht, das ihm entgegenblickte, wirkte so unwirklich, als gehörte es nicht zu ihm. Er biss sich auf die Unterlippe, grub seine Zähne hinein, bis es blutete, doch er spürte es nicht einmal. Schon nach ein paar Momenten ertrug er den Anblick nicht mehr, der sich ihm bot. Anstatt allerdings seinen Blick einfach wieder zu senken und nicht mehr in die spiegelnde Oberfläche zu sehen, nahm er eine Hand vom Waschbecken, dehnte seine Finger kurz, die ganz verkrampft waren, bevor er sie zu einer Faust ballte. Neben all dem Schmerz in seinem Inneren zeigte sich nun auch die Wut, die bedrohlich in ihm brodelte, seit ihm klar wurde, dass all seine Hoffnungen, August wiederzusehen, dass alles wieder gut werden würde und es einen plausiblen Grund, der nichts damit zu tun hatte, dass der andere ihn freiwillig verlassen hatte, gab, ein für alle mal zerstört waren. Er ließ zu, dass sie sich in seinem gesamten Körper ausbreitete und schlug einen Augenblick später seine Faust mit voller Wucht in den Spiegel, sodass dieser in unzählige Scherben zersprang. Dass sich einige Splitter dabei in seine Hand gruben, ihn verletzten, störte ihn nicht. Genau wie bei seiner aufgebissenen Lippe spürte er nichts davon, so als könnte nichts den Schmerz in seinem Inneren überdecken. Starr sah er auf seine Hände, als ihn ein plötzliches Klopfen an der Tür zusammenzucken und seinen Kopf in die Richtung drehen ließ.
“Cris? Ist alles okay bei dir?”
Cyrian… Der Lärm des zerbrechenden Spiegels musste ihn denken lassen, dass etwas passiert war. Was an sich auch stimmte, aber er war eine der letzten Personen, der er auch nur ansatzweise etwas verraten würde.
“Verpiss dich!”, fauchte er daher nur, in der Hoffnung, dass sein Bruder genau dies tun würde.
“Bist du sicher?”
Crispin ballte die Hände erneut zu Fäusten, bereit, ihm seinen Wunsch, dass er ihn alleine lassen sollte, auf andere Weise klar zu machen. Er besann sich dann aber doch eines Besseren und presste die Kiefer aufeinander.
“Bist du taub?! Verzieh dich und lass mich in Ruhe!”
Ein abfälliges Schnauben war zu hören, genau wie die Bemerkung, ihm wäre nicht mehr zu helfen, bevor er leise Schritte hörte, die sich entfernten, und die Tür zu Cyrians Zimmer geräuschvoll zugeschlagen wurde. Und in diesem Moment wurde Cris eins klar: Er musste hier weg. Raus aus diesem Käfig, der sich sein Zuhause nannte und wo ihn doch keiner verstand, und weg von seiner so genannten Familie. Mit dem Entschluss, seinen Frust und all die anderen Gefühle in seinem Inneren im Alkohol zu ertränken, befreite er seine Hand von den Scherben und verließ anschließend das Bad und nur wenig später auch das Haus.

Das nächste, das er mitbekam, war ein unangenehmes Kitzeln an seiner Nase. Crispin verzog das Gesicht, doch die Berührung ging einfach nicht weg. Auch als er danach schlug, änderte sich nichts daran, dass nach einem kurzen Moment, in dem das Kitzeln aufhörte, es von Neuem begann.
“Na, auch schon wach, Dornröschen?”
Er grummelte genervt und kniff die Augen zusammen, nur um sie im nächsten Augenblick erschrocken aufzureißen. Sein Blick ging direkt zur Seite, in die Richtung, aus der die Stimme kam, und als er in ein ihm völlig fremdes und amüsiert grinsendes Gesicht sah, setzte er sich abrupt auf und wich zurück - was jedoch kaum möglich war, da er bereits mit dem Kopf auf der seitlichen Sofalehne gelegen hatte Allerdings war die schnelle Bewegung alles andere als eine gute Idee, da sofort sein Kopf anfing, schmerzhaft zu pochen. Er verzog nur wieder das Gesicht und versuchte es ansonsten zu ignorieren, während er den unbekannten Mann starr ansah, der sich auf die Rückenlehne gestützt hatte und in einer Hand eine lange weiße Feder hielt. Sein Blick blieb kurz daran hängen und ihr Anblick erinnerte ihn unweigerlich an August, doch er verscheuchte diesen Gedanken, versuchte stattdessen, diese zu ordnen, um zu begreifen, in welch einer seltsamen Situation er steckte. Er wollte etwas sagen, aber er hatte keine Ahnung was.
“Du siehst aus wie ein verschrecktes Häschen”, amüsierte sich der andere weiter, während Crispin noch immer Probleme damit hatte, zu verstehen, was vor sich ging. Wer war der andere und noch viel wichtiger waren die Fragen, wo war er und was war überhaupt passiert? Dies alles schien man ihm regelrecht im Gesicht ablesen zu können, denn ohne auch nur einen Ton zu sagen - zu dem er sich ohnehin nicht fähig fühlte - erhielt er bereits kurz darauf die Antworten darauf, begleitet von einem tiefen Seufzen.
“Ihr Menschen seid so leicht durchschaubar. Du solltest deine Mimik besser kontrollieren.”
Der Unbekannte drehte die Feder in seinen Händen, bevor er ihm mit der Spitze in die Wange piekste und dabei grinste, als würde es ihm ungeheuer Spaß machen, ihn damit zu provozieren. Cris brummte leise, zog die Augenbrauen zusammen und schlug ein weiteres Mal nach der Hand, die er aber wieder verfehlte, wusste aber immer noch nicht, was er sagen sollte.
“Um dir aber die Fragen zu beantworten, die dir sicher durch den Kopf gehen: Ich bin Rixon und du bist hier in meinem bescheidenen Reich, weil du versucht hast, dich völlig betrunken mit mir anzulegen und ich dich deswegen bewusstlos geschlagen habe.”
Alleine die Erinnerung schien ihn köstlich zu amüsieren, denn das Grinsen auf seinen Lippen wurde noch eine Spur breiter. Er selbst hatte keine Erinnerung mehr an diesen Vorfall. Wenn er versuchte, daran zurückzudenken, war dort einfach nur ein schwarzes Loch - ein Zustand, den er sich für so viele andere Momente in seinem Leben ebenfalls wünschen würde und sie alle hingen mit August zusammen.
Der Gedanke an den Engel holte ihn aus seiner Starre und die Wut, die ihn aus dem Haus getrieben hatte, befiel ihn nun ein weiteres Mal. Er presste die Augen zusammen, wusste nicht, ob er diesem Gefühl erneut die Oberhand lassen sollte, doch Rixon nahm ihm diese Entscheidung unbewusst ab, als er ihm wieder mit der Feder in die Wange piekte.
“Jetzt mach mir aber nicht wieder schlapp, Häschen.”
Als Cris dieses Mal nach der Hand schlug, erwischte er sie endlich, schwang anschließend die Beine vom Sofa und stand schnell auf, um außerhalb der Reichweite des anderen zu kommen - zu schnell, denn bereits nach den ersten Schritten begann sich alles zu drehen. Bevor er das Gleichgewicht verlieren konnte, stützte er sich auf der Lehne des Sessels ab, der in der Nähe stand, und schloss ein weiteres Mal die Augen, um auch das Gefühl der Übelkeit unter Kontrolle zu bekommen. Er hatte tatsächlich zu viel getrunken. Es war also kein Wunder, dass er einen Filmriss hatte und sich elend fühlte. Vor Rixon wollte er diese Schwäche aber nicht allzu lange zeigen, weshalb er versuchte, sich zusammenzureißen.
Crispin öffnete die Augen wieder, schwankte ein paar Schritte weiter, bis er sicher war, weit genug entfernt von dem anderen zu sein. Anschließend wandte er sich zu ihm um und funkelte ihn wütend an.
“Nenn mich gefälligst nicht Häschen! Und wieso hast du mich überhaupt hierher geschleppt?! Nur weil ich auf dich losgegangen bin, ist das noch lange kein Grund oder bringst du ständig fremde Leute in deine Wohnung?!”
Dass sich der andere nicht einmal ansatzweise eingeschüchtert fühlte und stattdessen breit grinste, machte ihn noch wütender. Die Antwort, die er erhielt, rückte dieses Gefühl allerdings vollkommen in den Hintergrund und seine Augen weiteten sich ungläubig, bevor er die Augenbrauen zusammenzog.
“Du bist mir weniger fremd, als du glaubst.”
“Wie meinst du das?!”
Musternd ließ Cris seinen Blick über ihn wandern, wobei er das Gesicht des anderen genau unter die Lupe nahm. Durch seine Eskapaden und seine Streifzüge durch die Stadt begegnete er vielen Menschen, doch egal wie lange er ihn auch ansah und überlegte, ob er ihn kannte… da war einfach nichts. Er kannte ihn nicht. Das wissende Grinsen auf den Lippen des anderen ließ ihn jedoch sicher sein, dass es umgekehrt anders war.
“Ich hab dich schon eine ganze Weile im Auge behalten. Dich und deinen kleinen Schutzengel. Wobei du mir ohne den vermutlich gar nicht aufgefallen wärst, aber die Tatsache, dass er mich nicht einmal bemerkt hat, hat mich neugierig gemacht.”
Rixons Stimme klang, als gäbe es da noch einiges mehr, das er ihm sagen wollte, doch Crispin bemerkte es nicht. Sein Kopf war zu sehr mit der Information beschäftigt, dass sie beobachtet wurden und alleine die Tatsache, dass sein Gegenüber den Moment, der zu seiner größten Schmach führte, ebenfalls gesehen hatte, ließ ihn die Kiefer aufeinanderpressen, bis ihm etwas auffiel.
“Wieso hätte er dich bemerken sollen?! Und dein Leben muss echt langweilig sein, wenn du nichts Besseres zu tun hast, als anderen hinterherzuschnüffeln!”
In diesem Moment war er wirklich froh, dass sich die Wut in ihm unterschwellig immer noch bemerkbar machte und jederzeit bereit war, wieder die Oberhand zu übernehmen. Es war um Längen besser, sich dieser hinzugeben, als tatsächlich wie ein verschrecktes Kaninchen zu reagieren - unfähig, mit der ihm gegebenen Situation umzugehen.
“Weil Engel Dämonen bemerken sollten, genau wie anders herum. Hat er dir das nicht erzählt? Hat er dich nicht vor meinesgleichen gewarnt?”
Geschockt über diese neue Info, riss er die Augen etwas auf und sah Rixon einfach nur sprachlos an. Ein Dämon… Er war ein Dämon? Natürlich hatte August ihm von diesen Wesen erzählt und es war alles andere als gut, was er ihm über diese gesagt hatte. Dass er jemals einem gegenüber stehen würde, hatte er jedoch nie geglaubt, sodass er nun doch nicht wusste, wie er reagieren sollte. Der andere schien zu merken, dass er nicht fähig war, etwas zu erwidern, weshalb er munter weiter sprach.
“Und zu deiner anderen Frage… Ich wollte mir das Schauspiel deines kleinen Kampf-Chihuahuas nicht entgehen lassen. Er war wirklich talentiert, das muss man ihm zugute halten. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er nur mit dir spielt, wäre ich wohl auch auf ihn hereingefallen. Aber es endete genauso, wie ich mir das gedacht hatte.”
Crispin schluckte, als er das hörte. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, denn zu hören, dass ihm nun ein anderer sagte, der Engel hätte nur mit ihm gespielt, tat unglaublich weh. Ein kleiner Teil von ihm hatte immer noch gehofft, dass er sich irrte, dass es eine vernünftige Erklärung für alles gab, die ihm nicht das Herz brach. Und auch jetzt noch klammerte sich ein winziger Funken in ihm genau an diese Hoffnung.
“Wieso sollte ich dir das glauben?! Ich kenne dich nicht einmal!”
“Gegenfrage: Wieso solltest du ihm noch glauben, was er dir alles erzählt hat, nachdem er dir den Rücken zugekehrt hat? Kanntest du ihn denn wirklich, obwohl du so viel Zeit mit ihm verbracht hast?”
Zu seinem Leidwesen war diese Frage mehr als nur berechtigt. Was von dem, was August ihm während ihrer Zeit erzählt hatte, konnte er wirklich für bare Münze nehmen? Wann hatte er die Wahrheit gesagt und wo ihn vielleicht einfach nur schamlos angelogen? Er konnte es nicht sagen und diese Tatsache grub sich genauso schmerzhaft in sein Herz wie der Verlust der einzigen Person, der er voll und ganz vertraut hatte und auch das breite Grinsen in Rixons Gesicht machte das alles nicht besser.
“Deinem Schweigen entnehme ich, dass ich voll ins Schwarze getroffen habe. Er hat dich vermutlich die ganze Zeit belogen, ganz egal, was er gesagt hat, aber er war so überzeugend, dass du ihm alles geglaubt hast.”
Volltreffer… Nicht einen Moment lang hatte Crispin daran gezweifelt, dass August ihm die Wahrheit sagte, denn er war für ihn da, verstand ihn und sein Verhalten und das war mehr, als er je von jemand anderem bekommen hatte und aus diesem Grund hatte er nie einen Gedanken daran verschwendet, ihn und seine Absichten anzuzweifeln. Um genau zu sein, hatte er auch keinen Grund, Rixon nun zu glauben, doch dass er genau das aussprach, was er sich immer mehr dachte - vor allem seit er seinem neuen Schutzengel begegnet war - machte es ihm schwer, es nicht zu tun.
Verwirrt und völlig überfordert von all den Informationen, die er hörte, und den Gefühlen, die diese Situation in ihm auslösten, wandte er den Blick von Rixon ab. Er hatte das Gefühl, dass ihm das alles einfach viel zu viel wurde, als würde man ihm die Luft zum Atmen nehmen und bereits ein zweites Mal an diesem Tag hatte er das Bedürfnis, raus und weg zu müssen. Raus aus dieser Wohnung und weg von dem Dämon, der ihn durch seine Aussagen bestätigte und gleichzeitig unglaublich verwirrte. Nach einem kurzen Augenblick, den er noch brauchte, bis er sich rühren konnte, wandte er sich komplett von dem anderen ab und schwankte wortlos Richtung Flur und der Ausgangstür.
Crispin glaubte schon, dass Rixon ihn wirklich einfach gehen ließ, doch als er an der Tür ankam und sie öffnen wollte, legte sich eine Hand neben ihm auf diese und kurz darauf spürte er den warmen Atem des anderen an seinem Hals, der ihn unangenehm erschauern ließ.
“Im Grunde ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht, kleiner Cris, aber lass mich dir noch eins sagen:
Du solltest nichts von dem glauben, was ein Engel dir sagt und stattdessen alles hinterfragen, was er tut. Nach außen hin tun sie hilfsbereit, als würden sie nur dein Bestes wollen. Doch eigentlich wollen sie doch nur ihren Spaß haben. Für sie sind Menschen nichts weiter, als niedere Wesen und sie hassen jeden einzelnen, weil sie für euch da sein müssen. Und genau aus diesem Grund spielen sie Spielchen mit euch, doch sobald sie die Lust an ihrem Spielzeug verlieren oder es - wie in deinem Fall - an dem Punkt haben, wo ihr am verletzlichsten seid, werfen sie euch weg, wie ein benutztes Taschentuch. Es wird immer gesagt, die Dämonen wären Monster, aber die wahren Monster sind die Engel. Erst, wenn sie einem Dämon ihre Waffe ins Herz rammen, um ihn zu töten, tun sie etwas ohne Hintergedanken.”
Cris versuchte nicht einmal, diese neuen Infos zu verarbeiten. Er wusste, dass sein Kopf durch die noch immer vorhandenen Schmerzen und seinem insgesamten Zustand nicht dazu in der Lage war, weshalb er auch nicht darauf reagieren konnte, dass Rixon seinen Namen kannte, obwohl er ihm diesen nicht genannt hatte und es somit bedeutete, dass er ihn wohl wirklich beobachtet hatte. Anstatt jedoch darauf einzugehen, drehte er seinen Kopf ein wenig zur Seite, bis er ihn sehen und ihm einen giftigen Blick zuwerfen konnte.
“Bleib mir vom Leib und komm mir ja nicht zu nahe!”, fauchte er und zu seiner Überraschung nahm der andere mit einem Schmunzeln im Gesicht tatsächlich Abstand. Doch auch dies war etwas, worüber er nicht nachdenken wollte. Durch die kurze Nähe des anderen hatte er noch mehr das Gefühl bekommen, hier weg zu müssen und so riss er die Tür auf und trat aus der Wohnung. Die letzten Worte des Dämons bekam er allerdings noch mit, bevor sie hinter ihm wieder ins Schloss fiel.
“Ich weiß, dass du in ihn verliebt bist und solltest du dich rächen wollen und dabei Hilfe brauchen… Du weißt ja nun, wo ich wohne.”

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Schlaflose Nächte waren absolut nichts Neues für ihn. Im Gegenteil. Crispin kannte sie gut. Schon bevor er August kennengelernt hatte, gab es unzählige von ihnen, in denen er kein Auge zugetan hatte. Sei es, weil ihn die ganze Situation mit seiner Familie um den Schlaf brachte oder der Schmerz der unzähligen blauen Flecken, Prellungen und Verstauchungen, die er sich immer wieder bei seinen Prügeleien zuzog und eine Weile brauchten, eh sie soweit abgeheilt waren, dass sie ihn nicht mehr beeinträchtigten. Doch auch nach dem Aufeinandertreffen mit seinem Schutzengel hatte er sie immer wieder erlebt. Jede Nacht, in der der andere nicht an seiner Seite war, wenn er einschlief, hatte er Probleme und dies änderte sich auch nicht, nachdem er ihn hatte fallen lassen. Es wurde eher noch schlimmer. Die Gedanken, Zweifel und seine achterbahnfahrenden Gefühle ließen ihn weder am Tag noch in der Nacht in Ruhe. Er wälzte sich im Bett hin und her und irgendwann gab er es auf. Meistens schlich er sich dann aus dem Haus, weil er es nicht ertrug, länger als nötig im Haus seiner Eltern zu bleiben. Ein Zuhause nannte er es schon lange nicht mehr. Dieses hatte er an der Seite seines Schutzengels - des Engels, dem das alles scheinbar nicht so wichtig war wie ihm.
Heute war es jedoch anders. Mit seiner dünnen Kuscheldecke, Kopfhörern im Ohr und seinem Handy, über das er Musik hörte, saß er auf der Fensterbank und sah in die Nacht hinaus. Sein Kopf dröhnte noch immer leicht von der Auseinandersetzung mit dem Dämon, bei dem er an diesem Tag aufgewacht war. Er hatte keine Ahnung, was genau passiert war. Wenn er versuchte daran zu denken, war an der Stelle, wo die Erinnerungen sein sollten, ein schwarzes Loch und er wusste auch nicht, ob sich dies noch ändern würde. Darum machte er sich aber auch keine Sorgen. Viel zu sehr kreisten die Gedanken in seinem Kopf. Um die Tatsache, dass August ihn hatte fallen lassen, nichts von all dem der letzten Monate von seiner Seite ernst gemeint war und er nur mit ihm gespielt hatte. Aber auch um das Angebot, das Rixon ihm gemacht hatte.
Eigentlich hatte sich Crispin fest vorgenommen, nie wieder dort aufzutauchen und ihm im besten Fall auch nie wieder über den Weg zu laufen. All seine Alarmglocken waren angesprungen und er hatte sich mehr als unwohl in der Nähe des anderen gefühlt. Ob es allgemein an seiner Art oder an der Tatsache lag, dass er ein Dämon war, konnte er nicht sagen, aber wegen genau diesen Gefühls sträubte sich alles in ihm, auch nur daran zu denken, noch einmal zu ihm zu gehen. Sein Angebot, ihm zu helfen, sollte er sich rächen wollen, war jedoch… sehr verlockend, denn Gott, genau das wollte er. Seit dem Moment, in dem ihm der Engel sagte, August hätte sich wichtigeren Sachen zugewandt, geisterte diese Idee in seinem Kopf herum. Bisher war sie nicht konkreter geworden, weil er keine Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte. Schließlich war er nur ein Mensch und August ebenfalls ein Engel. Wie sollte jemand wie er schon jemandem wie ihm ernsthaft schaden, um ihm zu zeigen, was er ihm angetan hatte?
Die Begegnung mit Rixon änderte die Machtverhältnisse. Wenn er tatsächlich darauf einging und ihn um Hilfe bat, würden seine Chancen beträchtlich steigen. Zudem wusste er mit Sicherheit, was man einem Engel antun konnte, um ihm zu schaden.
Leise seufzend lehnte Crispin seinen Kopf gegen die Fensterscheibe und genoss den kurzen kühlen Effekt des Glases auf seiner Haut. Einen Moment lang half es gegen die Kopfschmerzen und gab ihm die Chance zu entscheiden, was er tun sollte. Noch nie hatte er so stark das Bedürfnis gehabt sich an jemandem zu rächen. Bisher hatte er neben seiner Familie aber auch nie jemanden so nah an sich herangelassen, dass er so tief verletzt werden konnte, wie August es getan hatte und bei seiner Familie war es ein schleichender Prozess, der früh angefangen hatte, sodass er sich daran gewöhnt hatte. Es war nicht so ein harter Bruch wie mit dem Engel. Normal sagte man: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Beides war ihm vertraut und beides war unglaublich schmerzhaft. Wobei er nicht sagen konnte, was von beidem er bevorzugte, denn alleine der Gedanke, dass ihm die Person, die ihn besser als jeder andere kannte und der er mehr vertraut hatte als jedem anderen, verraten und lediglich als Spielzeug und Zeitvertreib benutzt hatte, schnürte ihm das Herz zusammen und nahm ihm die Luft zum Atmen.
Crispin biss sich auf die Unterlippe, zog die Beine enger an seinen Körper und legte seine Stirn auf seine Knie, während er mit aller Macht versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen wollten. Zu weinen war allerdings keine Alternative und würde ihm nichts bringen. Das Ganze musste aufhören, der Schmerz musste verschwinden und er hatte keine Ahnung wie er das machen sollte, außer indem er es August heimzahlte.
Mit diesem Gedanken im Kopf, hob er diesen wieder und fasste einen Entschluss. Auch wenn sich sein Körper immer noch dagegen sträuben wollte, ein weiteres Mal zu Rixon zu gehen, war es die einzige Möglichkeit, die er hatte. Er schwang die Beine von der Fensterbank, warf die Decke auf sein Bett und machte sich fertig, um sich auf den Weg machen zu können. Dass es mitten in der Nacht war, interessierte ihn dabei herzlich wenig. Sollte Rixon nicht da sein, würde er eben ausharren, bis er wiederkam und sollte er sauer sein, weil er ihn aus dem Bett klingelte… Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken gar nicht weiterzuführen. Im Grunde hatte er ohnehin nichts mehr zu verlieren, außer vielleicht sein eigenes Leben und im Moment gab es nichts darin, worum es ihm schade wäre, denn er hatte nichts mehr. Aus diesem Grund war er auch fest entschlossen, alles zu tun, was nötig wäre, um August leiden zu lassen.

Etwa eine halbe Stunde später stand er vor dem Haus, das er am Nachmittag fluchtartig verlassen hatte. Crispin verschwendete keine Zeit und drückte auf die Klingel, in der Hoffnung, Rixon war da. Tatsächlich dauerte es jedoch einige Minuten und häufigeres Klingeln, bis er ein Lebenszeichen im Inneren des Hauses wahrnahm. Er sah, wie das Licht anging und kurz darauf hörte er ein ziemlich unwilligen und missgestimmtes Brummen, bevor auch Worte folgten.
“Wer zur Hölle stört um diese Uhrzeit…?!”
Keine Minute später ging die Tür auf und Crispin bemerkte noch den wütenden Ausdruck im Gesicht des Dämons, der jedoch sofort verschwand, als er ihn sah, und zu einem breiten - und beinahe wissenden - Grinsen wurde.
“Na sieh mal einer an, wen wir da haben: Das Häschen. Das ging schneller, als ich gedacht hätte.”
Rixon fuhr sich einmal mit den Fingern durch die vom Schlafen wirren Haare und trat anschließend einen Schritt beiseite - fast so, als wüsste er, warum er da war. Ein seltsames und ungutes Gefühl beschlich ihn, aber er ignorierte es und kam der stummen Aufforderung nach, indem er eintrat. Das, worüber sie sprechen würden, musste niemand anderes mitbekommen. Als er das Wohnzimmer betraf, drehte er sich zu dem anderen und sah ihn mit einem festen Blick an, während er eine Hand zur Faust ballte, da ihm die nächsten Worte schwer fallen würden. Er bat einfach ungern um Hilfe.
“Ich nehme dein Angebot an und mache alles, was nötig ist, wenn du mir hilfst.”

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Die Sonne stand hoch am Himmel und nur vereinzelte Wolken zogen über den Himmel und über ihr vorbei, sodass für kurze Zeit alles im Schatten lag. Für diese Jahreszeit war es trotzdem relativ angenehm und kühl, aber nicht so kalt, dass man im Pullover herumlaufen musste. Crispins Blick wanderte aus diesem Grund nun schon zum gefühlt hundertsten Mal skeptisch über den Schwarzhaarigen neben sich, der zum gefühlt genauso vielten Mal seine Wunden mit einer ungewöhnlich aber angenehm riechenden Salbe versorgte, bei der er inzwischen wusste, dass in kürzester Zeit nichts mehr von seinen Verletzungen zu sehen sein würde. Besagter Schwarzhaariger trug selbst bei diesem Wetter ein langärmeliges Shirt und nachdem er ihn auf der Straße aufgelesen hatte, wollte er als erstes irgendwo Schutz vor der Sonne suchen. Er fand das unglaublich seltsam, doch der andere ließ nicht locker und somit hatte Cris ihn kurzerhand zur erstbesten Stelle gebracht, wo sie im Schatten und auch ungestört waren: das alte Atelier, in dem er so viel Zeit verbrachte. Bisher hatte er noch nie jemanden mit hierher genommen. Dieser Ort war ihm sozusagen heilig, denn es war der einzige Rückzugs- und Zufluchtsort, den er hatte. Dass er August mit hierher nahm, war also schon ungewöhnlich, aber auch wenn er es nicht geglaubt und es auch nicht zugegeben hätte, es fühlte sich richtig an, dass sie hier zusammen waren. Dabei konnte er auch nicht sagen, warum es sich so anfühlte, aber er wollte es gerade auch nicht weiter hinterfragen.
“Willst du mir verraten, warum du dich heute wieder geprügelt hast?”
Beinahe ertappt, zuckte er kurz zusammen und merkte, wie er ihn angestarrt hatte, während er seinen Gedanken nachhing. Zu seinem Glück war der andere jedoch noch immer konzentriert dabei, die Salbe zu verteilen und hatte es nicht bemerkt.
“Ich wüsste nicht, dass dich das was angeht!”, grummelte er, während er ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen weiterhin ansah. August tat es ihm gleich und unterbrach seine Arbeit, um seinen Blick nun seinerseits auf ihn zu heften.
“Da ich dir regelmäßig deinen Allerwertesten rette und dich wieder zusammenflicke, geht mich das sehr wohl was an. Ich kann dich demnächst aber auch so auf der Straße liegen lassen…”
Unwillkürlich presste Crispin die Lippen zusammen. Ein Teil von ihm sträubte sich bei dem Gedanken, August könnte dies wirklich in die Tat umsetzen und er würde ihn nicht wieder sehen. Wenn er ehrlich war, verspürte er schon so etwas wie Vorfreude, selbst wenn er vor Wut aus der Haut fuhr, da er wusste, dass der andere auftauchen würde. Dennoch wandte er trotzig den Blick ab, da er nicht wusste, ob er es ihm wirklich erzählen sollte, schließlich wäre dies der erste Schritt in eine Richtung, die er bei jedem anderen vermied: dass er hinter seine Fassade schauen konnte. Andererseits hatte er auch das Gefühl, dass es vielleicht gut so war. Es war genauso unwirklich und nicht greifbar wie das Gefühl, dass es richtig war, August mit hierher zu nehmen.
“Weißt du wie es ist, sich verstecken zu müssen, weil man so wie man ist, nirgendwo erwünscht ist…?”, flüsterte er leise, durch die Stille um sie herum und weil August ihm nah genug war, aber laut genug, um ihn doch zu verstehen.
Die Entscheidung, ihm davon zu erzählen, brach das Eis und änderte alles zwischen ihnen. Und er bereute es nicht…

Crispin Cipriano

Crispin

Mit einem herzhaften Gähnen verließ Crispin das Tierbedarfsgeschäft, in dem er für Cookie großzügig einkaufen gegangen war, da ihm in den letzten Tagen aufgefallen war, dass ihm erstens immer noch einiges für ihr leibliches Wohl fehlte und sie zweitens einen äußerst gesunden Appetit an den Tag legte, der mit Sicherheit nicht nur etwas damit zu tun hatte, dass sie noch so klein und im Wachstum war, wodurch sie jede Menge Energie brauchte. Die Zeit auf der Straße, wo sie über jede Mahlzeit froh sein konnte, hatte offensichtlich Spuren hinterlassen, sodass sie alles in Windeseile in sich hineinstopfte, was man ihr vor die Nase stellte, nur um ihn anschließend um noch etwas anzubetteln. Dies führte dazu, dass sein kleiner Vorrat, den er an dem Tag, als sie zu ihm kam, besorgt hatte, bereits schon wieder so gut wie aufgebraucht war, sodass er nicht darum herum kam, Nachschub zu kaufen. Bei dem Gedanken an die kleine Fellnase, die nun seine Mitbewohnerin war, erschien ein schwaches und durch die Müdigkeit gezeichnetes Lächeln auf seinen Lippen. Im Grunde war er froh darüber, dass er somit etwas zu tun hatte und Zeit totschlagen konnte, die er andernfalls damit gefüllt hätte, sich darum Gedanken zu machen, wie es August ging, und darauf zu hoffen, dass er so schnell wie möglich unverletzt zu ihm zurückkam.
Das Lächeln verschwand, als er unweigerlich wieder daran dachte, und die innere Unruhe, die ihn schon begleitete, seit er den Engel vor seiner Haustür hatte gehen lassen müssen, machte sich wieder in ihm breit. Crispin biss sich auf die Unterlippe und schob seine Kopfhörer in seine Ohren, um die Welt um sich herum soweit ausblenden und sich selbst ein wenig ablenken zu können, während er den Weg nach Hause antrat. Sehr weit kam er jedoch nicht. Gerade als er eine eher ruhige Seitenstraße entlang lief und nach seinem Handy in der Hosentasche griff, um die Musik einzuschalten, wurde er am Arm gepackt und aufgehalten. Mit einem Knurren wandte er sich zu der Person um und wollte sie zusätzlich angehen, doch als er sah, um wen es sich dabei handelte, blieben ihm sämtliche Worte im Halse stecken und er konnte Aiden einfach nur anstarren. Wenn man von den gefärbten Haaren absah, die auf einer Seite ein auffälliges rosa zeigten und auf der anderen Seite blond waren, hatte er sich kaum verändert - außer, dass er eben älter geworden war. Dass er auch seine große Klappe noch immer besaß, zeigte er einen Augenblick später - völlig ungeachtet dessen, dass Crispin hoffte, er würde einfach nur träumen und gleich wieder aufwachen.
"Du bist echt widerlich! Findest du es vielleicht witzig, dich wie dein Bruder anzuziehen? Glaubst du ernsthaft, du würdest damit sein Andenken in Ehren halten? Denn genau das tust du nicht! Es ist einfach nur geschmacklos."
Noch immer unfähig, etwas zu sagen, und wegen der Worte auch ein wenig überrumpelt, sah er einen Moment lang an sich hinab: auf die Timberlands an seinen Füßen, die zerschlissenen Jeans und das mit mehreren Löchern übersäte Shirt und somit auf alles, was seinen Stil in den meisten Fällen ausmachte und ihn von Cyrian deutlich unterschied. Eine leise Stimme in seinem Inneren machte ihm deutlich, dass er das Spiel mitspielen sollte, dass er so tun sollte, er wäre sein Bruder und eben nicht Crispin, doch alles in ihm sträubte sich dagegen, dies auch nur ansatzweise in die Tat umzusetzen, auch wenn er wusste, dass es vernünftiger wäre.
"Aber dir geht's vermutlich nur um dich selbst - so wie jedem anderen aus deinen Kreisen auch."
Dieser Satz brachte ihn zudem dazu, nicht einmal mehr eine Sekunde darüber, nachzudenken, wie er reagieren sollte, denn als dieser an seine Ohren drang, biss er die Zähne zusammen und blickte wieder zu ihm auf.
"Du bist wohl der allerletzte, der sich über den Egoismus von anderen beschweren dürfte! Du bist keinen Deut besser! Dir geht es auch nur um dich selbst und dass im besten Fall alle nach deiner Pfeife tanzen! Also kehr gefälligst erst vor deiner eigenen Tür, Aiden!"
Aus der anfänglichen Ablehnung und dem tiefen Hass, der in den dunklen Augen seines Gegenübers zu sehen waren, wurde langsam etwas ganz anderes, als die Bedeutung der Worte bis zu ihm durchdrang. Fassungslosigkeit machte sich bei ihm genauso breit, wie die Stille, die sich dadurch über sie legte. Sekunden zogen sich gefühlt zu Minuten, in denen Aiden ihn einfach nur anstarrte und nach Fassung rang, während er damit zu kämpfen hatte, seine Wut nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, denn er hatte das Gefühl, dass sich in ihm mit einem Mal all das Bahn brach, was sich während seiner Zeit in Aidens Clique in ihm angesammelt, das er aber erfolgreich zurückgehalten hatte.
"C-cris? Was…? Das… das kann unmöglich sein… Wie…?", stammelte er vor sich hin und wusste scheinbar nicht, wie er das Chaos in seinen Gedanken ordnen und in Worte fassen sollte. Crispin hingegen hätte sich am liebsten abgewandt und wäre verschwunden, denn mit der Erwähnung seines Namens wurde ihm vollends bewusst, was er gerade getan hatte: Er hatte preisgegeben, dass er noch lebte und das vor einer Person, die mit Sicherheit ganz genau wusste, dass er vor fast zwei Jahren gestorben war.
"Das geht dich nichts an!", rutschte ihm heraus, anstatt es abzustreiten, denn dafür war es ohnehin viel zu spät. Dies schien allerdings auch Aiden aus seiner Starre zu lösen, denn dieser zuckte leicht zusammen, bevor er seine Muskeln anspannte und die Hände zu Fäusten ballte.
"Wir waren mal beste Freunde, bevor du für dich entschieden hast, lieber Zeit mit August zu verbringen. Denkst du nicht, dass ich somit ein recht darauf gehabt hätte, zu erfahren, dass du noch lebst?"
Den Namen des Engels spuckte er ihm beinahe vor die Füße, was dazu führte, dass er seine Wut noch viel weniger in Schach halten konnte. Dass sich dadurch ein leichter silberner Schimmer durch seine Augen zog, wusste und merkte er nicht, doch selbst wenn es anders wäre, würde es ihn gerade herzlich wenig interessieren, da seine ganze Aufmerksamkeit auf dem lag, was Aiden ihm gerade an den Kopf geworfen hatte. Am liebsten hätte er bitter aufgelacht, doch er unterdrückte den Impuls.
“Wir und beste Freunde? Dein Ernst?! Wir waren niemals beste Freunde. Unter einem besten Freund verstehe ich jemanden, der mich akzeptiert, wie ich bin und vor dem ich keine essentiellen Sachen verschweigen muss! Eine Art Familienmitglied, das man sich aussucht. Du warst das nicht einmal ansatzweise! Nie im Leben hätte ich dir erzählen können, dass das Klavier spielen meine große Leidenschaft ist, dass mein Bruder früher mein großes Vorbild war und ich mit dem Spielen angefangen habe, weil ich genauso sein wollte wie er oder dass mich die ganzen Weiber, die du immer auf Partys angeschleppt hast, nicht im geringsten interessiert haben! August hat mich hingegen so genommen, wie ich war!”
Ein erneuter Schock zeigte sich in Aidens Gesicht, doch das interessierte Crispin nicht. Für ihn fühlte es sich befreiend an, ihm all das einmal sagen zu können. Schon damals, während seiner Zeit in der Clique, hatte ihn all das genervt, sobald er merkte, welche Vorurteile der andere mit sich herumtrug und dass er in dessen Hassschema zu 100% hineinpasste. Dabei ließ er sich ungern in Schubladen stecken, doch er hatte das Gefühl, dass Aiden nicht einlenken und ihn stattdessen rausschmeißen würde, wenn er es wüsste, und die Angst, wieder vollkommen alleine dazustehen, saß zu tief in ihm - vor allem da die anderen drei vollkommen in Ordnung waren und er bei ihnen mit Sicherheit trotz seiner Herkunft und seiner sexuellen Neigung nicht abgeblitzt wäre. Aiden hingegen schien sich selbst völlig falsch einzuschätzen oder sah die damalige Situation anders als er.
"Du hättest mir das alles sagen können, anstatt dich in die Freundschaft mit jemand anderem zu flüchten. Du wusstest von Anfang an, wie wichtig mir Ehrlichkeit ist und dass nichts Wichtiges verschwiegen wird. Es ist also alleine deine Schuld, wenn du das Ganze als falsche Freundschaft interpretierst. Für mich warst du mein bester Freund - ganz egal, was du darüber denkst."
Nun war es an Crispin, den anderen fassungslos anzusehen, als er das hörte. Ein Schlag in die Magengrube wäre keineswegs effektiver gewesen, um ihn für einen Moment vollkommen sprachlos zu machen. Meinte er das, was er da gerade gesagt hatte, tatsächlich ernst oder wollte er ihn testen und für dumm verkaufen? Doch ganz egal, was von beidem es auch war, es erzielte lediglich die Wirkung, dass er noch wütender wurde, seinen Einkauf für Cookie fallen ließ, um stattdessen Aiden am Kragen zu packen und noch ein Stück näher zu ziehen.
“Willst du mich eigentlich verarschen?! Wenn du das alles gewusst hättest, hättest du mich schon viel eher aus der Clique geschmissen oder nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, mich überhaupt aufzunehmen, weil du mich mit allen anderen in einen Topf geworfen hättest! Im Grunde bist du nämlich genauso oberflächlich und vorurteilsbehaftet, wie all die reichen Snobs, die du so sehr hasst! Also mach dich nicht lächerlich!”
Als er merkte, was er da gerade tat und dass ihn das Aufeinandertreffen mit dem anderen viel zu sehr aufwühlte, um sich unter Kontrolle zu halten, ließ er ihn abrupt los und trat einen Schritt zurück, um Abstand zwischen sie zu bringen. Aiden ließ es geschehen und schien unfähig zu sein, darauf mit einer Erwiderung zu reagieren. Diese Chance nutzte er, um seinen Beutel wieder aufzuheben und sich von ihm abzuwenden.
"Und wenn du wirklich mein bester Freund gewesen wärst, wäre es vielleicht nie so weit gekommen…", murmelte er so leise, dass der andere es nicht hören konnte. Worüber er wirklich froh war, da er seine Gedanken, die sich unweigerlich in seinen Kopf geschlichen hatten, unbeabsichtigt laut ausgesprochen hatte. Um nicht noch mehr zu sagen, trat er, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Rückzug an.

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Die Sonne näherte sich bereits langsam dem Horizont, färbte den Himmel in die satten Farben der Abenddämmerung und zog stellenweise schon das dunkle Blau der Nacht mit sich. Das alles nahm Crispin allerdings gar nicht wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Jungen, der in seinem Alter war und den er nur zu gut kannte. Bewusstlos lag dieser auf dem Boden in einer schwer einsehbaren Gasse und er hockte neben ihm, nicht wissend, was er tun sollte. Er prügelte sich gerne, das stand außer Frage, aber das hier war etwas ganz anderes. Jemanden zu töten, war eine Grenze, die er niemals übertreten wollte, und doch lag das Messer nun in seiner Hand. Es fühlte sich schwer an, obwohl es das überhaupt nicht war. Doch an dem eigentlichen Gewicht lag dieses Gefühl auch gar nicht, sondern viel mehr an der Bürde, die es mit sich brachte.
“Du solltest nicht so lange zögern, Cris. Wie willst du deinem ehemaligen Schutzengel all das heimzahlen, was er dir angetan hat, wenn du es nicht einmal schaffst, diesen Jungen zu töten. Er kann sich nicht einmal mehr wehren und bekommt von dem Ganzen vermutlich nicht einmal etwas mit.”
Eine warme Hand legte sich über seine und auch wenn er im Normalfall sofort zurückgezuckt wäre, ließ er es jetzt doch zu. Crispin blickte starr auf seinen Mitschüler und die unterschiedlichen Gefühle kämpften in seinem Inneren miteinander. Auf der einen Seite war da der Gedanke, dass er das nicht tun konnte, dass er das nicht schaffte, aber auf der anderen Seite wusste er auch, dass Rixon recht hatte, wenn es darum ging, dass er es schaffen musste, wenn er Rache an August üben wollte.
Der Griff um das Messer wurde stärker, doch er konnte sich noch immer nicht rühren. Rixon schien es zu merken, dass er noch immer zögerte. Zudem schien er langsam die Geduld zu verlieren, weshalb er Druck auf seine Hand ausübte und sie mitsamt der Waffe langsam auf Calebs Hals zusteuerte. Dort drückte er die Klinge leicht gegen die Haut, ohne sie zu verletzen und beugte sich zudem näher zu ihm.
“Tu es, Cris! Oder bist du zu feige und zu schwach, um das Ganze durchzuziehen? Wenn du haderst, wirst du es niemals hinbekommen, August bluten zu lassen und ich habe meine Zeit mit dir verschwendet. Also tu es oder stirb hier und jetzt als Feigling, ohne die Chance darauf, dich zu rächen!”
Crispin schluckte und als er den Namen August aus Rixons Mund hörte, waren seine Bedenken mit einem mal wie weggewischt. Es war ein Unterschied, den Namen nur zu denken oder ihn wirklich zu hören, und er spürte, wie die Wut über den Verrat des Engels in ihm hochkochte. Sein Arm zitterte und er biss die Zähne aufeinander, bevor er die Augen schloss, ein wenig mehr Druck auf das Messer ausübte und es zum Schluss mit einer einzigen Bewegung zur Seite zog.

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Mit der eher noch wenig ausgeprägten Präzision eines Kindes versenkte Crispin die Schneide der Schere in dem dunklen Stoff, der vor ihm lag. Allzu große Genauigkeit war in diesem Fall aber auch gar nicht gefragt, denn er hatte nicht vor, etwas aus dem Stoff herauszuschneiden und damit womöglich etwas zu basteln. Sein Vorhaben bezog sich einzig und allein darauf, den Fetzen mit Löchern zu versehen - ganz egal wie groß oder klein diese wurden. Am Ende hätte jedes einzelne denselben Effekt: dass er den Anzug, der extra maßgeschneidert wurde, damit er perfekt saß, nicht tragen musste.
"Pino?", kam es fragend aus Richtung seiner Zimmertür, die sich kurz darauf öffnete. Erschrocken, da er glaubte, erwischt zu werden, rutschte er mit der Schere ab und traf einen seiner Finger, der ungünstig auf dem Stoff lag und sogleich zu bluten begann.
"Autsch", kam es nur von ihm anstatt auf seinen Bruder zu reagieren, der den Raum inzwischen betreten hatte. Für einen kurzen Moment war es still, bis er das Geräusch von sich schnell nähernden Schritten auf dem Teppichboden hörte und kurz darauf zwei Hände nach seiner griffen, an der er sich verletzt hatte.
"Bist du verletzt?"
"Das geht schon, Cyr. Es ist nicht so schlimm."
Ein dennoch leicht besorgter Blick traf ihn, bevor Cyrian nickte und zu dem kaputten Stück Stoff sah.
"Was machst du denn eigentlich?", kam die Frage und bevor Crispin überhaupt antworten konnte, weiteten sich die Augen seines Bruders, als er scheinbar ganz von alleine erkannte, um was es sich handelte.
"Ist das dein neuer Anzug?"
"Ja, was sonst? Ich hab absolut keine Lust, den zu tragen und wenn er kaputt ist, geht das auch nicht", erwiderte er trotzig und steckte sich anschließend den Finger in den Mund, der durch die Wunde noch immer blutete.
"Mom und Dad wird das absolut nicht gefallen."