Wind Beyond Shadows

Normale Version: The things you hide in your heart, eats you alive
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Crispin Cipriano

》Cris…

Ich weiß, dass du diesen Brief niemals zu Gesicht bekommen wirst und es somit eigentlich sinnlos ist, ihn überhaupt zu schreiben, doch ich weiß gerade nicht, wohin sonst mit meinen Gedanken. Andernfalls… würdest du mich vermutlich zum Teufel schicken, wenn du es wüsstest. So wie du es immer getan hast.

Im Nachhinein betrachtet, hatte ich das aber vielleicht verdient. Obwohl ich tagtäglich gesehen und erlebt habe, wie Mom und Dad dich behandeln, habe ich nichts dagegen getan. Dabei wäre es so einfach gewesen, dich zu unterstützen und dir den Rücken zu stärken, indem ich einfach mal etwas gesagt hätte, aber dafür war ich zu feige. Ich habe an dir gesehen, was passiert, wenn man nicht das tut, was sie wollten und ich hatte Angst, dass es mir genauso ergeht. Heute bereue ich zutiefst, dass ich damals nicht in der Lage war, anders zu handeln, denn ich vermute, dass du dich auch deswegen von mir entfernt hast.
Doch trotz allem, was passiert ist, habe ich gehofft, dass unsere Eltern dich dennoch lieben auch wenn sie es vielleicht einfach nur nicht zeigen konnten. Vermutlich würdest du jetzt sagen, dass es eine naive Hoffnung war und inzwischen würde ich dir sogar recht geben, denn Mom und Dad… Sie verhalten sich, als wäre nicht vor kurzem einer ihrer Söhne gestorben. Sie gehen ihrem ganz normalen Alltag nach und verlieren kein Wort darüber. Es scheint fast so, als wären sie beinahe erleichtert, dass du nicht mehr da bist. Selbst deine Sachen haben sie bereits entsorgt und das einzige, was ich retten konnte, war Cooky. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein und sie flüchten sich in ihren Alltag, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen, aber ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass ich doch richtig liege. Und der Gedanke, dass es so ist, schmerzt, denn ganz egal, was auch war, du warst ein Teil dieser Familie.
Seit feststand, dass du ihren Erwartungen nicht entsprichst, schienen die beiden aber ganz anderer Meinung zu sein. Nie haben sie gesehen, dass es an ihnen lag, dass du rebellierst und haben es stattdessen auf den falschen Umgang geschoben. Wahrscheinlich kamen die beiden nicht einmal auf den Gedanken, dass du den ganzen Mist nur gebaut hast, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen - die Aufmerksamkeit, die ich in vollem Umfang bekam und die dir verwehrt blieb. Spätestens da hätte ich wohl etwas sagen müssen, doch ich wusste nicht wie und außerdem hatte ich irgendwann auch keine Zeit, um wirklich darüber nachzudenken.
Gerade weil sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hatten und ich ihre ganze Liebe erhielt, hieß das nicht, dass ich nicht auch darum kämpfen musste. Ihren Anforderungen gerecht zu werden, war alles andere als einfach. Ganz so, als wollten sie, dass ich mich noch mehr beweise, weil du es nicht geschafft hast… Und wenn ich ehrlich bin, beneidete ich dich immer ein wenig darum, dass du einfach getan hast, was du wolltest. Dir waren die Regeln egal und du hast dich einfach darüber hinweg gesetzt, ganz egal, welche Konsequenzen dies zur Folge hatte. Ich weiß, dass du das vor allem wegen der abweisenden Haltung unserer Eltern getan hast und dennoch beneide ich dich darum, da ich selbst wohl nie in der Lage dazu sein werde.

Es tut mir so leid, kleiner Bruder… Dass ich mir nicht mehr Zeit genommen habe, um für dich da zu sein, und wahrscheinlich hab ich mich zu sehr auf der Tatsache ausgeruht, dass ich irgendwann auch wusste, dass du nicht vollkommen alleine warst. Oh man, ein Teil von mir ist gerade doch ein wenig froh, dass du das hier niemals lesen wirst. Du würdest mir die Hölle heiß machen, wenn du wüsstest, dass ich dir den einen Abend gefolgt bin, als du dich rausgeschlichen hast und dachtest, es würde keiner merken. Ich war einfach neugierig, wo du hingehst, wenn du selbst die Nächte nicht zuhause verbringst, weil ich mir doch irgendwo Sorgen gemacht hab. Du warst trotz allem schließlich immer noch mein kleiner Bruder.
Und als ich dich zusammen mit dem anderen Jungen gesehen hab, war ich ehrlich gesagt erleichtert. Du warst anders ihm gegenüber - immer noch aufmüpfig und frech, aber er schien dennoch jemand zu sein, den du nicht komplett von dir gestoßen und stattdessen an dich herangelassen hast. Ehrlich gesagt, hatte ich schon befürchtet, dass das niemand mehr schafft…
Aber dennoch mache ich mir Vorwürfe. Ich habe einfach viel zu lange geschwiegen, anstatt etwas zu sagen und nur weil es jemanden gab, der scheinbar für dich da war, hätte ich nicht einfach aufgeben dürfen, dasselbe zu tun. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen und du wärst noch am Leben…

Ich vermisse dich, Pino...《