Wind Beyond Shadows

Normale Version: (P)Art of my Life
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Crispin Cipriano

》Art speaks
where words are unable to explain.《

》Art is the only way
to run away
without leaving home.《

》Life is a work of art.
If you don't like what you see, paint over it.《

》Learn the rules like a pro,
so you can break them like an artist.《


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•°°♧ Kapitel 1 ♧°°•
Ein verlockendes Angebot

Prüfend warf er einen Blick zum Fenster hinaus, über dessen Sims er gerade ins Innere des Gebäudes geklettert war, um herauszufinden, ob ihn dabei jemand bemerkt hatte und er sich somit darauf gefasst machen sollte, nicht länger als nötig anwesend zu bleiben. Zu seinem Glück war die kleine Gruppe vor dem Tor des Anwesens dabei, wild gestikulierend auf einen der Angestellten einzureden, der ruhig im Eingang stehen blieb und niemanden hinein ließ. Raffaele - der Mann im Smoking, dessen schwarzer Stoff auch noch die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu schlucken schien - war bekannt dafür, nie die Beherrschung zu verlieren, ganz egal wie viele Leute auf ihn einredeten oder wie viel Stress er hatte. Er war die sogenannte Ruhe in Person und die Situation, die sich einige Meter von ihm entfernt abspielte, zeigte dies deutlich.
"Der Pinguin da unten scheint echt alle Hände voll zu tun zu haben", gab er kopfschüttelnd von sich, ohne zu beachten, dass die Person, die sich ebenfalls im Raum befand, noch gar nicht wusste dass er anwesend war, da er sich dafür leise genug hereingeschlichen hatte. Krachend ging hinter ihm etwas zu Boden, gefolgt von einem ungläubigen "Pino?".
Crispin löste den Blick von dem Tumult vor dem Anwesen und drehte sich zu dem anderen herum, ein breites Grinsen im Gesicht, als er sah, dass sich dieser noch nicht ganz wieder gefangen hatte.
"Jetzt sag nicht, du bist wieder durchs Fenster gekommen."
"Doch natürlich. Es ist der einfachste Weg, um unbehelligt zu dir zu kommen."
Nun ebenfalls kopfschüttelnd machte sich Cyrian daran, die Scherben der Tasse aufzuheben, die er durch die Überraschung hatte fallen lassen. Vorsichtig nahm er eine nach der anderen in die Hand und sammelte sie in der anderen, immer darauf bedacht, sich nicht an dem scharfkantigen Porzellan zu schneiden.
"Du könntest auch wie jeder andere ganz normal durch die Vordertür kommen."
Für einen Moment schwieg Crispin, sah den anderen an, als hätte er einen Geist gesehen oder als wäre ihm plötzlich ein dritter Arm gewachsen, bevor er schnaubte.
"Um mir dann von einem der Pinguine sagen zu lassen, dass der Pöbel hier keinen Zutritt hat?! Nein danke. Mein Bedarf daran ist gedeckt."
Cyrian sah von den letzten Scherben auf dem Boden auf und direkt zu ihm, während er hinüber zum Schreibtisch lief, neben dem ein Abfalleimer stand. Mit diesem in der Hand überbrückte er die kurze Distanz bis zu dem anderen und stellte ihn neben ihn. Ein dankbares Lächeln erschien auf den Lippen des Schwarzhaarigen, bevor er wieder ernst wurde und die Stirn runzelte, während er das aufgesammelte Porzellan entsorgte.
"Du glaubst nicht wirklich, dass Raffaele dich nicht herein gelassen hätte, oder?"
Crispin sah ihm entgegen, zu der Person, die ihm beinahe bis aufs Haar glich. Er wusste durchaus, dass er darauf hinaus wollte. Sie konnten bei weitem nicht abstreiten, miteinander verwandt zu sein, und das wollte er auch gar nicht - so unangenehm ihm die Vergleiche mit seinem älteren Bruder auch waren, der so viel talentierter und erfolgreicher war als er selbst. Er liebte Cyrian, der immer hinter ihm stand, ganz egal, was er auch anstellte, und ohne den er vollkommen aufgeschmissen wäre.
"Gut, okay, er vielleicht, aber Lorenzo nicht", schnaubte er, um sein Handeln weiterhin zu verteidigen, denn Lorenzo war konsequent, wenn es darum ging, niemanden ins Haus zu lassen, dessen Nase ihm nicht gefiel, oder jeden wieder hinauszubefördern, auf den dies zutraf. Die Tatsache, dass er seinem Bruder trotz ihres Altersunterschieds von eineinhalb Jahren wie aus dem Gesicht geschnitten sah, spielte dabei überhaupt keine Rolle.
"Das liegt aber nur an deiner Kleidung. Damit würde er nicht einmal den Papst persönlich ins Haus oder auch nur aufs Anwesen lassen."
Crispin sah an sich hinab, um zu sehen, worauf der andere anspielte. Er wusste, was er trug, hatte sich nach seiner Arbeit allerdings nicht die Mühe gemacht, sich umzuziehen, und wer nicht vorher wusste, womit er arbeitete, tat dies spätestens mit einem Blick auf ihn - zumindest konnte man dadurch eine Vorstellung davon bekommen. Er trug ein schlichtes Shirt und eine ebensolche Hose, auf deren schwarzem Stoff viele verschiedene Farbspritzer prangten und ihn beinahe aussehen ließen, als wäre er das Opfer mehrerer Airbrushpistolen geworden, anstatt selbst damit zu arbeiten. Nach der Begutachtung sah er wieder zu seinem Bruder und schnaubte erneut.
"Wo gehobelt wird, da fallen nun mal Späne, oder in meinem Fall eben Farbe. Aber das ist kein Grund, jemanden gleich wie einen Aussätzigen zu behandeln."
Ein schmerzhafter Stich zog sich bei dem letzten Satz durch sein Herz, da dieser eine Erinnerung auslöste, die nichts mit ihrem derzeitigen Gespräch zu tun hatte, ihn aber dennoch nicht los ließ und sich stattdessen immer weiter ausbreitete, sodass auch der Schmerz mit jeder Sekunde heftiger wurde. Crispin wandte den Blick ab, starrte den Boden vor sich an, auf dem inzwischen keine Scherbe mehr zu sehen war, und presste die Lippen zusammen.
Sanft legte sich eine Hand auf seine Schulter, deren Wärme trotz der hohen Außentemperaturen wohltuend war und ihm Halt gab.
"Denk nicht mehr daran, Pino. Sie sind weg."
Es war, als hätte Cyrian seine Gedanken gelesen, doch das musste er nicht einmal. In diesem Punkt war er zumindest ihm gegenüber wie ein offenes Buch. Er konnte vor seinem Bruder nicht verstecken, was die Gedanken an ihre Eltern für Gefühle in ihm auslösten. Bei allen anderen kompensierte er dies mit Wutausbrüchen und versteckte es hinter einer Mauer, die niemanden hindurch ließ, der nicht genug Mühe und Geduld mitbrachte, um sie für sich Stück für Stück einzureißen.
Sein großer Bruder hatte dies nie gebraucht, denn er war jedes mal dabei, wenn er zu spüren bekam, dass er offensichtlich nur etwas wert war, wenn er in die Vorstellung passte, die ihre Eltern von ihren Kindern hatten. Darin sahen sie ihn genau wie ihren Ältesten als angesehenen Haus- und Hof-Pianisten einer reichen Familie und ganz gewiss nicht als mittellosen Maler, der seine Zeit mit dieser Kunst verschwendete. Sie würden sich für ihn vermutlich in Grund und Boden schämen, wenn sie wüssten, dass er seine Bilder nicht einmal verkaufte und somit mehr oder weniger finanziell von seinem Bruder abhängig war. Oder besser gesagt: Dass er diesem auf der Tasche lag, wenn das, was er sich unerlaubt aneignete, nicht ausreichte - etwas, dass zumindest bei seiner Miete sehr oft der Fall war. Ohne Cyrian säße er schon lange auf der Straße. Doch davon wussten sie nichts und selbst wenn, wäre es ihm egal, denn er hatte irgendwann eingesehen, dass es keinen Sinn machte, sich die Liebe seiner Eltern zu verdienen, die völlig normal sein und jedem eigenen Kind zuteil werden sollte, sodass er den Kontakt bereits abgebrochen hatte, bevor sie nach Amerika auswanderten und Cyrian und ihn hier in Livorno zurückließen.
"Und das ist auch gut so", gab Crispin nach einer gefühlten Ewigkeit von sich, nachdem sich der Schmerz durch den Rückhalt seines Bruders wieder gelegt hatte. Dennoch stand er auf, wodurch Cyrians Hand von seiner Schulter rutschte, und ging etwas auf Abstand, denn auch wenn er anderen und sich selbst gegenüber so tat, als hätte er mit all dem abgeschlossen und diesen Teil seiner Familie abgehakt, hinterließ ihr Fehlen doch ein großes Loch in seinem Inneren, das niemand sonst füllen konnte, da es immer für sie reserviert sein würde - ohne Hoffnung darauf, dass es jemals gefüllt wurde.
Um seinem Bruder gegenüber nicht zu zeigen, dass ihn die Gedanken noch immer nicht ganz los ließen, wandte er sich von ihm ab und durchquerte den großen Raum, der geschickt durch einige Raumtrenner in mehrere Bereiche aufgeteilt war und Cyrians persönliches Reich im großen Anwesen der Bellonas gemütlich wirken ließ. Genau wie das, was er bereits vom Rest des Hauses zu Gesicht bekam, war auch dieses Zimmer für seinen Geschmack viel zu protzig eingerichtet. Als müsse man unbedingt zur Schau stellen, wie viel Geld man im Gegensatz zu anderen besaß. Seinem Bruder machte er dabei keinen Vorwurf, denn bis auf all die kleinen persönlichen Details - seine Kleidung, Fotos von ihnen beiden, ein rosafarbenes Hasenplüschtier, das er ebenfalls besaß und ein Geschenk ihrer Großeltern war, als sie noch klein waren, und einiges anderes - war hier bereits alles für ihn vorbereitet gewesen, als er einzog.
Im Gegensatz zu anderen hatte Crispin ihn nie darum beneidet, hier zu arbeiten und zu leben. Er mochte seine kleine Wohnung, die ihm gleichzeitig auch als Atelier diente. Es gab nur eine einzige Sache, auf die er insgeheim und ohne, dass er sich dies selbst oder anderen eingestand, neidisch auf seinen Bruder war…
Ganz automatisch suchte und fand sein Blick den Grund für dieses Gefühl, als er am Fenster ankam, das gegenüber von dem lag, durch das er hereingekommen war und direkt auf den großen Garten hinauszeigte. Schweigend und beinahe vergessend, dass er nicht alleine war und Cyrian ihn beobachten konnte, versank er im Anblick, der sich ihm bot: August - der jüngste Sohn der Familie.
Als er das erste mal zum Anwesen kam, um seinen Bruder zu besuchen, war er noch der Meinung, dass es niemals einen anderen Grund als diesen geben würde, weshalb er sich auch nur in die Nähe dieser Gegend begab, da sich das Grundstück etwas außerhalb der Stadt befand. Bereits an diesem Tag wurde er allerdings eines besseren belehrt, als er sich auf der Suche nach Cyrians Zimmer in den Garten verirrte, zu dem er gerade hinabblickte, und dort das erste mal auf den jungen Mann traf, der ihn seinerseits nicht mitbekommen hatte, da er auf einer der Bänke saß und in einem Buch vertieft war. Die Brille rutschte ihm dabei immer wieder beinahe von der Nase, sodass er sie öfter wieder zurück schieben musste.
Man sollte meinen, dass dies nichts besonderes war. Ganz besonders, wenn man seine Meinung über reiche Familien betrachtete, die alles andere als positiv ausfiel. Somit sollte sein erstes Gefühl bei August ebenfalls Abneigung sein und doch war da etwas, das ihn daran hinderte, den Blick von ihm abzuwenden und weiter nach seinem Bruder zu suchen. Genau wie heute versank er in dem Anblick vor ihm und wurde dabei von Lorenzo erwischt, der ihn leise aber postwendend wieder nach draußen beförderte.
An diesem Abend zeichnete er sein erstes Bild von August, von dem er nicht einmal eine Skizze hatte, diese aber auch nicht brauchte. Jedes Detail, das er mit den Augen hatte erkennen können, hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt und nach diesem Bild folgten viele weitere - manche rein aus der Fantasie, die meisten jedoch nachdem er hier war und ihn gesehen hatte. Ohne, dass es der andere wusste, war er still und heimlich zu seiner Muse geworden, auch wenn er dies so ebenfalls nicht zugeben würde.
"Bei dem Tumult unten am Tor, ging es übrigens um ihn", wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Crispin zuckte leicht zusammen und sah zu seinem Bruder, der ihn wissend anlächelte. Ertappt wandte er den Blick wieder ab.
"Ich habe keine Ahnung, von wem du redest."
Es war ein schwacher Versuch, sich herauszureden, denn er hatte durchaus verstanden, dass es scheinbar um August ging. Nur der Grund erschloss sich ihm nicht ganz, außer der jüngste Spross der Bellonas hatte vor, bald zu heiraten und die Leute vor dem Tor wollten ihre Töchter feilbieten. Der Gedanke daran setzte sich in ihm fest, formte Bilder in seinem Kopf, die ihm unweigerlich die Galle nach oben trieben und das nicht nur, weil es ihn an eine moderne Art des Sklavenhandels erinnerte, wenn man jemanden zwangsverheiratete.
"Der Ausdruck in deinen Augen hat dich verraten. Bestimmt sitzt August wieder an seiner Lieblingsstelle und liest."
Als wollte er sichergehen, dass er damit richtig lag, sah er noch einmal aus dem Fenster, obwohl er bereits wusste, dass er recht hatte. August saß mit der Nase in einem Buch unter einem der Bäume und suchte wie gewohnt kühlenden Schatten an diesem warmen Tag. Er konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal in der Sonne sitzen gesehen zu haben, als scheute er diese. Ebenso war er ihm noch nie in etwas anderem als langärmeliger Kleidung begegnet, was dazu führte, dass er selbst im Sommer, während alle anderen braun gebrannt waren, noch immer jeder Porzellanpuppe Konkurrenz machte.
Crispin konnte nicht leugnen, dass ihm besonders das sofort ins Auge fiel und seinen Blick an ihm hängen ließ. Unter der italienischen Sonne wirkte er mit seiner blassen Haut, den dazu im starken Kontrast stehenden schwarzen Haaren und den dunklen Augen, die ihn an eine Katze erinnerten, wie ein exotisches Kunstwerk, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. So auch jetzt, sodass er ertappt zusammenzuckte, als er das leise Lachen seines Bruders neben sich hörte.
"Ich sehe dir einfach sofort an, ob du ihn ansiehst oder die Landschaft betrachtest."
Crispin grummelte leise etwas Unverständliches vor sich hin, da es ihm doch ein wenig unangenehm war, dass man es ihm derart ansah.
"Erklärst du mir jetzt auch noch genauer, was es mit ihm zu tun hat oder soll ich raten?!", entgegnete er angesäuerter und damit schärfer als es beabsichtigt war und als er seinen Blick von August löste, um zu seinem Bruder zu schauen, bemerkte er noch, wie dieser gerade seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle brachte, wodurch es ihm ein wenig leid tat, ihm gegenüber so aufbrausend reagiert zu haben. Doch zu seinem Glück schien es ihm Cyrian nicht übel zu nehmen, denn bereits wenige Sekunden später schlich sich bereits wieder ein Lächeln auf seine Lippen.
"Im Grunde wäre es sogar etwas für dich", begann er und Crispin hob skeptisch eine Augenbraue, hinter der er seine aufkeimende Neugier versteckte. "Seit ein paar Jahren lässt Signora Bellona jedes Jahr zu seinem Geburtstag ein Bild von ihm anfertigen. Den genauen Grund dafür kennt keiner und dieses Jahr ist es das erste Mal, dass sie eine Art Ausschreibung dafür macht, bei der sich jeder Künstler bewerben kann."
Cyrian beendete seine Erklärung, die Crispin Erleichterung verschaffte, indem sie die grauenhaften Bilder in seinem Kopf verscheuchte, die sich dort festgesetzt hatten, als er hörte, dass es sich bei dem Tumult am Tor um August drehte.
"Du weißt ganz genau, dass ich meine Bilder nicht verkaufe und du kennst auch den Grund dafür. Wieso denkst du also, dass ich bei so etwas mitmache?", erwiderte er und war gespannt auf die Antwort. Er konnte nicht leugnen, dass sich ein seltsames Gefühl in ihm breit machte, wenn er daran dachte, jemand anderes könnte ihn malen, auch wenn dies die letzten Jahre offensichtlich bereits der Fall war. Gleichzeitig juckte es ihm in den Fingern, diesen Job zu übernehmen, doch derselbe Grund, der ihn daran hinderte, seine Werke zu verkaufen, tat dies auch in dieser Situation.
"Yuliya bezahlt den Auftrag immer wirklich sehr großzügig. Du wärst also für eine Weile nicht mehr von mir abhängig", zählte er den ersten Grund auf und traf dabei bei ihm mitten ins Schwarze, denn genau das war etwas, das ihn insgeheim störte und ihn dazu brachte, auf seiner Unterlippe kauend den Blick wieder abzuwenden. "Aber vom finanziellen abgesehen, könntest du ihn einmal aus der Nähe zeichnen und müsstest es nicht heimlich nach einem Besuch hier auf dem Anwesen tun. Und außerdem bin ich mir sicher, dass kein anderer von denen, die sich beworben haben, so viel Gefühl in seine Bilder legt, wie du es tust. Du musst nur mehr Vertrauen in dein eigenes Talent haben."

Crispin Cipriano

•°°♧ Kapitel 2 ♧°°•
Schatten der Vergangenheit

Mit an den Körper gezogenen Beinen, den Kopf auf die Knie gebettet und seinen Blick auf den Himmel gerichtet, saß Crispin in seinem Atelier auf der Fensterbank. Schwere dunkle Wolken zogen an ihm vorbei, die den Regen und das Gewitter ankündigten, auf das die Natur und er warteten, damit es sich endlich ein wenig abkühlte. Inzwischen war es mitten in der Nacht - die Luft war drückender und schwüler als am Tag - und er hatte noch nicht ein Augen zugetan, konnte es nicht, da ihm zu viele Dinge durch den Kopf gingen. Leichte Kopfschmerzen kündigten sich bereits an, drückten dumpf und schwach gegen seine Schädeldecke, aber er wusste, dass es dabei nicht bleiben würde und er verzog bei der Erinnerung daran, wie stark sie werden konnten, bereits jetzt das Gesicht.
Seine Gedanken konnte er dennoch nicht abschalten, die sich immer wieder im Kreis drehten. Sie sprangen von einer Szene zur nächsten, die sich am Nachmittag bei seinem Bruder abgespielt hatte:
Von dem Menschenauflauf am Eingang, den er geschickt umging, in dem er durchs Fenster kletterte.
Über die Erkenntnis, dass all diese Leute für ein Bild anstanden, welches die Dame des Hauses von ihrem jüngsten Sohn angefertigt haben wollte, und Cyrians Hinweis, dass er sich ebenfalls melden könnte.
Bis hin zu dem Kribbeln in seinen Fingern und seinem Bauch, wenn er daran dachte, genau das trotz all seiner Prinzipien, seine Bilder nicht zu verkaufen, zu tun.
Gerade Letzteres machte ihm zu schaffen. Wenn er daran dachte, anderen als seinem Bruder, seine Kunst zu zeigen, bildete sich ein Knoten in seinem Magen, der ihm die Luft zum Atmen nahm - ein Überbleibsel seiner Vergangenheit, das ihm deutlich zeigte, dass die Sache mit seinen Eltern, ihre fehlende Liebe und der nicht existente Rückhalt, weil er nicht in ihr vorgefertigtes Raster passte, noch lange nicht abgehakt war.
Crispin löste den Blick von den Wolken am Himmel und versteckte sein Gesicht hinter seinen Armen, die er enger um seine Knie schlang. Gerade in Nächten wie heute, in denen er nicht schlafen konnte, holte ihn seine Vergangenheit wieder ein - ob er wollte oder nicht. Früher hatte ihn Cyrian in solchen Momenten geschickt davon abgelenkt und ihn auf andere Gedanken gebracht, auch wenn dies mit jedem Jahr, in dem er spürte, wie unterschiedlich sie behandelt wurden - er wie ein Aussätziger, ein Unfall, den man bereute, und sein Bruder wie das Kind, das man sich so lange wünschte und daher mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttete - schwerer für den anderen wurde. Dabei konnte sein Bruder nichts dafür. Er hatte keine Kontrolle über die Handlungen ihrer Familie und doch konnte er nicht verhindern, dass er neidisch auf ihn wurde - ein absurdes Gefühl, wenn man bedachte, dass die Liebe der Eltern das einzig selbstverständliche auf dieser Welt sein sollte, ohne dass man dafür kämpfen musste. Erst als Yoona und Nevio - er nannte sie schon lange nicht mehr Mutter und Vater - entschieden, nach Amerika zu ziehen, entspannte sich ihre Beziehung wieder und er konnte nicht in Worte fassen, wie froh er darüber war, denn Neid wollte er der einzigen Person gegenüber, die immer hinter ihm stand, nicht empfinden.
Umso mehr belastete es Crispin, dem anderen auf der Tasche zu liegen. Er wäre lieber unabhängig von ihm und dessen Geld, doch wenn er nur daran dachte, seine Bilder zu verkaufen, sperrte sich etwas in ihm dagegen.
Du solltest deine Zeit nicht für diese sinnlosen Bilder verschwenden, die du Kunst nennst.
Yoonas Stimme hallte in seinen Ohren nach. Dieser Satz war nur einer von vielen, die er in all den Jahren zu hören bekommen hatte. Sie empfanden es als sinnlose Zeitverschwendung. Dabei war er ganz anderer Meinung. Da er sich im Gegensatz zu seinem Bruder nicht im Klavierspiel verlieren konnte, waren seine Zeichnungen die einzige Möglichkeit der Realität zu entfliehen, ohne dabei sein Zimmer verlassen zu müssen - was er oft nicht einmal konnte und durfte, wenn er wieder einmal Hausarrest aufgebrummt bekam.
Doch obwohl es für ihn ein Zufluchtsort war, wenn ihm alles zu viel wurde, fühlte er sich gleichzeitig auch gefangen und eingeengt durch seine Unfähigkeit, seine Vergangenheit genau das sein zu lassen, was sie war: vergangen.
Und außerdem bin ich mir sicher, dass kein anderer von denen, die sich beworben haben, so viel Gefühl in seine Bilder legt, wie du es tust. Du musst nur mehr Vertrauen in dein eigenes Talent haben.
"Vertrauen…", murmelte er leise.
Kurz nach diesem einen Wort zuckte der erste Blitz über den Himmel und erleuchtete die Stadt, die trotz der Straßenlaternen um diese Uhrzeit beinahe stockdunkel vor ihm lag. Das Grollen des Donners und die ersten Regentropfen, die gegen seine Fensterscheibe prasselten, ließen nicht lange auf sich warten, sodass Crispin entschied, seine Sitzposition zu ändern. Etwas steif vom langen sitzen, rutschte er von der Fensterbank, öffnete das Fenster und setzte sich anschließend wieder darauf - mit den Füßen nach draußen, sodass sie in der Luft hingen.
Der Regen durchweichte schon nach kürzester Zeit seine Kleidung, fühlte sich aber auch wohltuend auf der Haut an. Er schloss die Augen und streckte sein Gesicht Richtung Himmel, um die Tropfen darauf besser spüren zu können. Dass er klatschnass wurde und sich auf dem Fußboden hinter ihm bereits die ersten Pfützen bildeten, interessierte ihn nicht. Beides würde immerhin wieder trocknen.
Während Crispin den Regen genoss und dem Donner lauschte, dachte er über Cyrians Worte bezüglich des Vertrauens nach.
Vielleicht sollte er tatsächlich einfach etwas mehr Vertrauen in das haben, was er tat. Vielleicht musste er wirklich versuchen, über seinen eigenen Schatten zu springen, um sich von seinen negativen Erfahrungen, die er durch seine Eltern gesammelt hatte, lösen zu können. Mit Cyrian hatte er immerhin eine Person, die an ihn glaubte und zudem wurde es womöglich langsam Zeit, dass er sich sein Leben nicht länger von zwei Menschen vorschreiben ließ, die sich nie für ihn und das, was er konnte, interessiert hatten. Und welcher Moment, welcher Anlass, um damit anzufangen, wäre besser, als die Suche nach einem Künstler von Signora Bellona?
Die Vorstellung, August einmal zeichnen zu können, während er wirklich vor ihm saß, bescherte ihm eine Gänsehaut. Unbewusst löste er eine Hand vom Fenstersims, an dem er sich festhielt, und fuhr sich über den linken Arm, um das Gefühl zu vertreiben. Das Bild von dem jungen Mann vor ihm, das sich noch deutlicher vor sein inneres Auge schob, als er diese schloss, war allerdings nicht so einfach zu verscheuchen. Ganz im Gegenteil. Es wurde dadurch nur noch deutlicher erkennbar und das Kribbeln in seinen Fingern und seinem Bauch nahmen mit jeder Sekunde zu, in der er es betrachtete.
Es war eine Sache, August zu zeichnen, nachdem er ihn auf dem Anwesen gesehen und sich dabei jedes kleinste Detail von ihm eingeprägt hatte, um es anschließend auf die Leinwand zu bringen. Eine ganz andere war es, ihn leibhaftig vor sich zu haben und ihn während des zeichnens immer wieder beobachten zu können, ohne dass er aufpassen musste, dabei erwischt zu werden, denn jemanden anzusehen gehörte nun einmal zu seiner Arbeit dazu, um keine Kleinigkeit auszulassen oder falsch zu verewigen. Dieser Grund war für ihn nicht mehr nötig, denn er kannte den Schwarzhaarigen in diesem Punkt bereits in- und auswendig, doch das änderte nichts daran, dass er ihn gerne ansah.
Crispin biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, wie seine Gedanken klangen: als wäre er ein kranker Stalker, der nicht genug von seinem eigens auserwählten Ziel bekam. Anschließend sah er über die Schulter und hinüber zu der Tür, die in den Raum führte, in dem er - gut verschlossen - seine Bilder aufbewahrte. Viele der Leinwände zierten tatsächlich nur eine Person, was den Eindruck seines Gedankens wohl noch deutlich verstärkte. Und womöglich hatte er wirklich eine seltsame Obsession entwickelt - nur mit einer anderen Intention als sie Stalker für gewöhnlich hatten. Mit einem Seufzen fuhr er sich mit beiden Händen durch die inzwischen komplett durchnässten Haare, als ihm klar wurde, dass genau dies ein weiterer Grund wäre, um auf das Angebot einzugehen und es ebenfalls zu versuchen, den Zuschlag für diesen Auftrag zu bekommen, denn vielleicht war eine direkte Arbeit mit August genau das, was er brauchte, um seine Passion für ihn ein wenig abzuschwächen…

Ein nerviges und durchdringendes Geräusch holte Crispin nur wenige Stunden später und somit nach viel zu wenig Schlaf genau aus diesem heraus. Grummelnd verkroch er sich tiefer unter seiner Decke, versuchte so den Störenfried einfach auszublenden und hoffte, dass die Person, die ihn gerade anrief, einfach aufgab, wenn er nicht an sein Handy ging. Tatsächlich brach der Ton nach etwa einer Minute mit einem Mal ab, als er den Anruf schon genervt wegdrücken wollte, und er atmete erleichtert durch. Trotz allem neugierig, wer es war - und das notfalls nur, um denjenigen später dafür anzugehen - schob er seine Hand unter der Decke hervor, suchte tastend nach dem kleinen Mobilgerät und warf es beinahe von dem provisorisch aus Paletten zusammengeschusterten Tisch, der vor seinem Sofa stand, das ihm gleichzeitig auch als Bett diente. Wüssten seine Eltern, wie er lebte, wären sie wohl erschrocken, doch als mittelloser Maler war eben kein Geld für schicke Möbel vorhanden. Das, was er von Cyrian bekam und sich auf nicht legalem Wege beschaffte, ging entweder für seine Miete, Essen und Trinken oder für neue Farbe und Leinwände drauf.
Die Meinung der beiden war ihm allerdings nicht mehr wichtig, weshalb er diesen Gedanken beiseite schob und das tat, was er vor hatte. Als Crispin das Handy erwischte, schlug er die Decke zurück und bereute es sofort, da ihm sofort die Sonne in den Augen stach. Er kniff die Lider zusammen und grummelte erneut, gewöhnte sich auf diese Weise aber schnell an die Helligkeit, sodass er auf das Display schauen konnte - nur um festzustellen, dass er sich geirrt hatte. Es war kein Anruf, der ihn daran hinderte, weiter zu schlafen, sondern der Wecker, den er sich gestellt hatte, nachdem er die Entscheidung traf, genau wie die Leute am Tag zuvor, eines seiner Bilder bei der Familie Bellona abzugeben.
Um noch eins herauszusuchen, war es in der Nacht allerdings bereits zu spät. Die Kopfschmerzen hinter seiner Stirn hatten sich von einem leichten Hintergrundrauschen zu einem Pochen gesteigert, dass er kaum ignorieren konnte. Sich darauf zu konzentrieren, etwas passendes aus seinen Kunstwerken auszuwählen, war ihm unmöglich. Die Tatsache, dass er zumindest ein paar Stunden hatte schlafen können, waren lediglich der Schmerztablette geschuldet, die er zuvor noch genommen hatte und deren Wirkung recht schnell eingetreten war. Ein wahres Wundermittel, welches er von seinem Bruder bekommen hatte, wenn er daran dachte, wie lange er sich sonst noch damit herumquälte.
Die Wahl eines passenden Kunstwerkes musste somit aber wohl oder übel jetzt kurz nach dem wach werden stattfinden, denn da er keine Ahnung hatte, wie viel Zeit die Entscheidung beanspruchen würde, hatte er sich den Wecker auf drei Stunden vor Abgabeschluss gestellt. Genau diese drei Stunden hatte er nun, um sich fertig zu machen und mit einem Bild auf dem Anwesen aufzutauchen.
Viel zu wenig, denn am liebsten hätte er sich einfach wieder unter der Decke versteckt, die Welt ausgeblendet und weiter geschlafen. Für einen Moment kam ihm die Idee, seinem Bruder anschließend zu erzählen, er hätte es verschlafen, sollte er danach fragen, doch bereits einen Augenblick später verwarf er sie direkt wieder. Cyrian hatte diese Lüge nicht verdient und wenn er daran dachte, welche Chance vor ihm lag, würde er eine versäumte Abgabe wohl selbst bereuen, sollte er anschließend sehen, welcher Dilettant womöglich den Zuschlag bekam.
Mit diesem Bild vor Augen und einem beklemmenden Gefühl, das sich dabei in ihm breit machte, quälte sich Crispin aus dem Bett. Der Boden unter seinen nackten Füßen fühlte sich bereits wieder unglaublich warm an, da die Sonne genau darauf schien. Von der Abkühlung durch das Gewitter in der letzten Nacht war kaum noch etwas zu spüren und obwohl er nicht sonderlich wetterempfindlich war - egal ob Hitze oder Kälte - entschied er für sich, dass es wohl das Beste war, sich zu beeilen und nicht erst in der letzten Sekunde bei den Bellonas aufzutauchen, denn auf dem Weg bis zu ihrem Anwesen war Schatten durch entsprechende Vegetation eher Mangelware.
Crispin drückte sich vom Sofa nach oben, lief hinüber zu seinem ebenfalls eher provisorisch wirkenden Kleiderschrank aus Stoff und zog dort das erstbeste heraus, was er finden konnte. Ausgestattet mit einer Jeans, die auf der Vorderseite an den Beinen mehr aus Löchern als aus Stoff zu bestehen schien, einem schlichten dunklen Shirt und Unterwäsche machte er sich auf den Weg ins Bad. Oder eher dem, was er als solches bezeichnete, denn von der Größe her machte der Raum jedem Badezimmer in einem Krankenhaus Konkurrenz. Komfort konnte man da nicht wirklich erwarten. Für ihn war es im Moment allerdings ausreichend, denn es hatte dennoch alles zu bieten, was er brauchte.
Mit der Zeit, die er zum duschen und fertig machen brauchte, stellte er sicherlich einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf, denn nach nur etwa zehn Minuten hockte er bereits angezogen in dem kleinen Raum, in dem seine Bilder, sowie leere Leinwände und Farbe lagerten. An einem der Wände prangte sein Werk vom letzten Tag, dem er die Farbspritzer auf seiner Kleidung zu verdanken hatte. Es handelte sich dabei um ein Landschaftsbild, welches die Weinberge in der Nähe von Livorno zeigte, die früher einmal seinen Großeltern gehörten. Nach ihrem Tod waren sie in den Besitz seiner Eltern gelangt, die damit nichts anfangen konnten oder anfangen wollten und sie somit ohne langes Überlegen an den Meistbietenden verkauften.
Noch heute schmerzte ihn diese Tatsache, da er als Kind gerne dort war und mit Cyrian Verstecken gespielt hatte. Aus diesem Grund wollte er sie unbedingt in seinen eigenen vier Wänden verewigen, auch wenn er es durch den aufsteigenden Schmerz gerade nicht ansehen konnte. Stattdessen konzentrierte er sich auf die bemalten Leinwände vor sich, sortierte sofort die aus, auf denen August zu sehen war, denn er konnte keineswegs mit einem dieser Bilder bei dessen Familie auftauchen, in der Hoffnung einen Auftrag zu erhalten, mit dem er ihn zeichnen konnte. Für einen kurzen Augenblick hatte er tatsächlich darüber nachgedacht, denn auf der einen Seite wäre es durchaus positiv. Immerhin konnte er damit zeigen, dass er den jüngsten Sohn der Familie nicht verunstalten würde. Auf der anderen Seite würde es die Frage aufwerfen, warum er ihn bereits gezeichnet und wo er ihn gesehen hatte, denn bislang hatte ihn bis auf Lorenzo niemand der Familie oder der Angestellten auf dem Anwesen bemerkt und niemand von ihnen wusste, dass er dort ab und an ein- und ausging, wie es ihm gefiel und genau dabei wollte er es auch belassen, wenn es nach ihm ging.
Nach weiteren fünf Minuten, in denen ihm immer wieder August von seinen Bildern entgegenblickte und er diese sofort als unpassend beiseite legte, hielt er bei einem anderen, auf dem er den jüngsten Spross der Bellonas gezeichnet hatte, inne und überlegte erneut.
Es zeigte den jungen Mann in für ihn untypischer Kleidung, wenn er bedachte, dass er ihn immer nur auf dem Anwesen zu Gesicht bekam. Dort bestanden seine Sachen aus formeller und weniger legerer Kleidung. Hier sah die Sache ganz anders aus und Crispin hatte sich die Szene auf dem Bild nicht etwa ausgedacht, sondern den anderen tatsächlich so gesehen.
Noch gut konnte er sich an den Abend erinnern, als er während der Dämmerung draußen unterwegs war, um nach einem neuen Motiv für seine nächste Arbeit Ausschau zu halten. Dabei war er an einem Spielplatz ganz in der Nähe seiner Wohnung vorbeigekommen und hatte erst geglaubt, seine Augen und sein Unterbewusstsein würden ihm einen Streich spielen. Einsam und verlassen lag der Platz vor ihm, da die Kinder, die dort normalerweise spielten, alle bereits zu Hause waren. Nun ja, fast verlassen. Als er seinen Blick über die Spielgeräte schweifen ließ, blieb er mit diesem an der Wippe hängen - und an der Gestalt, die abwesend und mit dem Blick in den Himmel gerichtet darauf saß. August wirkte damals nachdenklich und genauso verloren, wie er sich oftmals tief in seinem Inneren fühlte.
Crispin hatte sich in den letzten Minuten immer wieder gesagt, dass er unmöglich eines seiner Werke nehmen konnte, das August zeigte, und doch juckte es ihn in den Fingern, genau das Bild zu nehmen, das er gerade betrachtete. Im Gegensatz zu allen anderen war er auf diesem nicht zu einhundert Prozent zu erkennen, wenn man ihn in diesen Klamotten nicht kannte. Der einzige, der erkennen würde, wer auf dem Bild zu sehen ist, war August selbst und ob dieser bei der Entscheidung über den Künstler, dem er dieses Jahr Modell sitzen sollte, ein Mitspracherecht hatte, wusste er nicht. Allerdings war trotz Cyrians aufbauenden Worten und dessen Zuversicht auch nicht gesagt, dass er den Zuschlag wirklich bekam. Immerhin wussten bis auf die Personen, die sich die eingereichten Kunstwerke ansahen und darüber entschieden, niemand, wie begabt die anderen im Grunde waren. Somit blieb offen, ob es überhaupt zu einer Situation kam, in der er mit seiner Wahl konfrontiert werden würde und obgleich Crispin hoffte, dass er keine Niederlage einstecken musste, und wusste, dass er in diesem Fall mit unangenehmen Fragen rechnen müsste, entschied er sich schlussendlich doch für das Werk, in dessen Momentaufnahme ihm August ähnlicher wirkte, als dieser ahnte oder er sich selbst eingestehen wollte.

[Bild: M2OObLA.png]

Crispin Cipriano

•°°♧ Kapitel 3 ♧°°•
Ein erster Versuch?

Wie es war, ablehnend gemustert zu werden, wusste Crispin bereits seit seiner Kindheit. Im Prinzip hatten seine Eltern nie einen Hehl daraus gemacht, wie wenig sie von ihm hielten, seit sie feststellen mussten, dass sein Talent nicht wie bei Cyrian im Klavier spielen lag, der bereits mit zwölf Jahren Chopins Etude Op. 10 No. 4 fehlerfrei spielen konnte. Sie dachten, er würde es nicht merken, da er am Anfang noch zu jung war und sie es später versuchten, besser zu verstecken, um das Bild der harmonischen und perfekten Familie nach außen hin aufrecht zu erhalten. Was auch gut klappte, bis er begann, seine Gefühle, welche die ablehnende Haltung seiner Eltern in ihm auslösten, mit Schlägereien zu kompensieren, weil er sich anders nicht zu helfen wusste und es genug Situationen gab, die sich sehr gut dafür eigneten.
Dabei hatte er es wirklich versucht. Er hatte sich als Kind an den großen weißen Flügel im Haus gesetzt, wollte seinem Bruder nacheifern, dessen Klavierspiel er schon damals wunderschön fand, doch zu seinem eigenen Frust war er gescheitert. Die Noten waren für ihn ein Buch mit sieben Siegeln, wodurch er keinen Zugang zur Musik fand, ganz egal wie sehr er es auch versuchte. Irgendwann hatte er begonnen zu malen und Cyrian kam auf die Idee, dass er sich nicht weiter mit etwas abmühen sollte, was ihm nicht lag, und seinen Fokus lieber darauf legen sollte, was er konnte: das Zeichnen.
Zu Beginn war er skeptisch, wollte er doch genauso werden wie sein großer Bruder, bis er eines Tages im Alter von neun Jahren auf dem großen Marktplatz der Stadt saß, der in der Nähe seines Zuhauses lag, und einen anderen Jungen zeichnete, der sich nicht weit von ihm entfernt am Rand des Springbrunnens niedergelassen hatte. Er war nicht viel älter als er und bis heute konnte Crispin nicht sagen, warum er ausgerechnet ihn als Motiv gewählt hatte, da er eigentlich das Meer hinter sich zeichnen wollte. Doch es war dieses Ereignis, das ihn dazu brachte, weiter zu zeichnen und den Versuch Klavier spielen zu lernen, über den Haufen zu werfen - ganz zum Unmut seiner Eltern.
Schlussendlich war es somit aber auch das Erlebnis, das dafür sorgte, dass er nun hier unter der heißen Sonne Italiens am Eingang zum Grundstück der Bellonas stand und Lorenzo vor sich stehen hatte, der nicht den Anschein machte, als wolle er ihn aufs Anwesen lassen. Abschätzig wanderte der kühle Blick des Butlers von oben herab über ihn, als wäre er jemand, der es nicht wert war, dass man ihm auf gleicher Augenhöhe entgegentrat. An seiner Jeans und den Löchern darin blieb er besonders lange hängen, verzog für den Bruchteil einer Sekunde angewidert das Gesicht, bevor er seine Miene wieder unter Kontrolle brachte, doch Crispin hatte es gesehen und für ihn sagte diese eine Reaktion mehr, als der andere mit Worten ausdrücken könnte: Er war hier nicht willkommen. Zumindest nicht, wenn es nach Lorenzo ging. Gleichzeitig wurde ihm wieder einmal bewusst, dass er in diese Welt einfach nicht hineingehörte und würde Cyrian nicht hier arbeiten - und gäbe es August nicht - würde er sich auch freiwillig hüten, dieser Gesellschaft zu nahe zu kommen.
"Was wünschen Sie?", durchbrach Lorenzo die Stille zwischen ihnen, die sonst nur durch das Zwitschern der Vögel in der Umgebung als leises Hintergrundgeräusch unterbrochen wurde. Seine Stimme war tief und genauso kalt wie der Ausdruck in seinen dunklen Augen und obwohl er wusste, dass er immer so sprach, weil er ihn während seiner Besuche oft genug mitbekommen hatte, ohne dass er ihn sah, fachte seine Art gemeinsam mit den Blicken, die er ihm zugeworfen hatte, die Wut in seinem Inneren an. Crispin presste die Kiefer fest aufeinander und ballte die Hand zur Faust, die er frei hatte. Er wusste, dass er sich zusammenreißen musste, denn wenn er an diesem Wettbewerb teilnehmen und gewinnen wollte, wäre es absolut kontraproduktiv sich mit Lorenzo anzulegen - gegen den er rein körperlich ohnehin keine Chance hatte.
Aus diesem Grund schluckte er die aufsteigenden Gefühle herunter, auch wenn ihm dies schwerer fiel, als er glaubte. Für eine gefühlte Ewigkeit, die jedoch nur ein paar Sekunden andauerte, schloss er die Augen, um sich zu beruhigen. Im Grunde war es nicht nur die herablassende Art des Angestellten, die ihn reizte, sondern auch die Frage. Einerseits war ihm bewusst, dass er das fragen musste, aber andererseits war die Leinwand in seiner rechten Hand, die durch ein Tuch verdeckt war, um das Bild vor Staub und ungewollten Einblicken anderer zu schützen, kaum zu übersehen.
Als er die Augen endlich wieder öffnete, fühlte sich Crispin nicht einmal ansatzweise ruhig genug, um nicht bei dem kleinsten falschen Wort oder Blick in die Luft zu gehen, doch er ahnte, dass sich diese Ruhe auch nicht einstellen würde, solange er Lorenzo gegenüber stand.
"Ich wollte noch etwas für Signora Bellonas Suche nach einem passenden Künstler abgeben."
Erneut glitten die Augen des anderen über ihn, blieben dieses Mal jedoch nicht an seiner Kleidung sondern dem Gegenstand in seiner Hand hängen. Lorenzos Augenbraue wanderte nach oben. Ob er damit Unglaube oder etwas anderes ausdrücken wollte, vermochte er nicht genau zu sagen, aber ganz egal, was es war, es gefiel ihm nicht.
"Nun, Sie sind spät und die Signora ist im Moment ein wenig… indisponiert."
War das sein verdammter Ernst?!
Wollte er ihn gerade tatsächlich abwimmeln, nur weil ihm nicht passte, was er vor Augen hatte? Dass Lorenzo einen Besucher in so einem Fall nicht aufs Anwesen ließ, wusste er gut genug, denn er hatte es während seiner Besuche bei seinem Bruder bereits mehrfach mit eigenen Augen gesehen und Cyrians Worte, dass er selbst den Papst in nicht angemessener Kleidung nicht hinein lassen würde, traf mitten ins Schwarze.
Doch er wollte nicht aufs Grundstück oder gar ins Haus. Er wollte einfach nur das Bild abgeben und anschließend wieder verschwinden, denn für den Fall, dass er gewann, musste er sich mental darauf vorbereiten, noch einen Schritt weiter über seinen Schatten zu springen.
"Aber ich bin nicht zu spät und ich hab mit keinem Wort erwähnt, dass ich der Signora ihre kostbare Zeit stehlen will. Das Bild mit hinein zu nehmen, schaffen Sie sicher auch selbst!"
Crispin wusste, dass er sich gerade auf äußerst dünnes Eis begab und seine Teilnahme an dem Ganzen gefährdete, doch Lorenzo reizte ihn alleine mit seiner Erscheinung. Er erinnerte ihn an einen Professor an einer Zaubererschule aus einem Film, den er als Kind gesehen hatte und bei dem er - jetzt im Nachhinein betrachtet - wohl ständig aus der Haut gefahren wäre.
Die Augen seines Gegenübers weiteten sich für einen kurzen Moment, bevor er wieder die kalte Maske aufsetzte, die nicht durchblicken ließ, was er dachte. Zusätzlich zog er eine kleine, filigran verzierte Taschenuhr aus der Brusttasche seines Jacketts, um nach der Uhrzeit zu sehen.
"Wie ich gestehen muss, haben Sie recht. In der Einhaltung von Fristen scheinen Sie ein besseres Händchen zu haben, als bei der Wahl Ihrer Kleidung. Und Sie haben Glück, dass Letzteres keine Rolle bei der Entscheidung der Signora spielt. Respektvolles Verhalten hingegen schon, wobei Sie in diesem Punkt wohl wieder einmal Glück haben, da sie im Moment keine Zeit hat, Ihr… Werk persönlich entgegenzunehmen."
Lorenzo hatte den letzten Satz noch nicht ganz beendet, als Crispin der Geduldsfaden riss. Erneut ballte er seine freie Hand zur Faust, grub die Fingernägel in die Innenfläche und holte aus. Die Kraft in dem Schlag war bei weitem nicht so hoch, wie er es sich gewünscht hätte, doch er war nun einmal Rechtshänder. Die Leinwand zuvor auf die andere Seite zu nehmen, verbrauchte aber zu viel Zeit und hätte ihm womöglich das Überraschungsmoment gekostet - welches ihm auch so nichts nützte. Sein Gegenüber fing den Schlag ohne weiteres ab. Anschließend griff er weiter nach unten zu seinem Handgelenk und verdrehte ihm den Arm, sodass er mit dem Rücken zu ihm stand. Crispin zischte vor Schmerz, biss sich aber sofort auf die Zunge, um keinen weiteren Laut von sich zu geben. Diese Genugtuung wollte er ihm nicht auch noch geben. Weder jetzt, wo er ihn äußerst wirkungsvoll außer Gefecht gesetzt hatte, noch in irgendeiner anderen Situation.
"Ich denke, es ist besser, wenn Sie nun gehen. Das hier", setzte er an und nahm ihm die Leinwand aus der Hand, "nehme ich trotz Ihres ungebührlichen Verhaltens aber dennoch an mich. Danken Sie Ihrem Bruder dafür, der bereits verkündete, dass Sie womöglich ebenfalls Ihren Beitrag leisten werden, und auch der Signora, die sehr angetan von dieser Idee war. Ich hoffe, dass Ihre Kunst nicht genauso… inadäquat und dissonant ist wie Sie."
Crispin entfuhr ein Knurren, doch er hielt sich gerade so zurück, dem anderen etwas darauf zu erwidern - wobei ihm der Schmerz, der sich von seinem Arm aus in seinem gesamten Oberkörper ausbreitete und ihn lähmte, effektiv dabei half, nichts von sich zu geben, was er hinterher bitter bereute. Er hasste es, nur nach dem Äußeren beurteilt zu werden, doch wenn er genau darüber nachdachte, sollte er an einem Ort wie diesem wohl nichts anderes erwarten. Die Familie Bellona gehörte zur selben Gesellschaftsschicht, in der er sich teilweise durch seine Eltern fast sein ganzes Leben lang bewegt hatte. Die Oberflächlichkeit, die dort an den Tag gelegt wurde, war ihm nur zu vertraut, was aber im Umkehrschluss nicht bedeutete, dass er sich bereits so sehr daran gewöhnt hatte, dass er es einfach hinnahm.
Für den Moment war es aber klüger so und er gab Lorenzo recht: es war besser, wenn er nun ging. Erleichtert durchatmend rieb er sich seinen lädierten Arm, als der Angestellte ihn los ließ, und entfernte sich zwei Schritte von ihm.
"Ich hoffe für Sie, dass Sie mit Ihrer verdammten oberflächlichen Haltung irgendwann einmal ordentlich auf die Nase fallen!", konnte und wollte er sich dann doch nicht verkneifen zu sagen. Er warf Lorenzo noch einen wütenden Blick zu, den dieser nur ruhig erwiderte.
"Wohl kaum. Der erste Eindruck sagt sehr viel über einen Menschen aus und Kleider machen nun einmal Leute, Signor Cipriano."
Diese Worte hatte er in ähnlicher Weise schon sehr oft zu hören bekommen. Von seinen Eltern, seinen Lehrern und auch anderen Leuten, die der Meinung waren, ihn belehren, ja fast schon bekehren zu wollen, wenn es darum ging, was er am Leib trug. Dabei wäre er im Prinzip kein anderer Mensch, wenn er in einem Anzug stecken würde, denen er geflissentlich aus dem Weg ging, weil er sich in diesen eher verkleidet als gut gekleidet fühlte.
"Wenn Sie meinen…", war alles, was er dazu noch von sich gab, auch wenn ihm sehr viel mehr auf der Zunge lag, doch er musste sich zusammenreißen, ganz egal, wie sehr ihn die Art des anderen auch nervte. Um zu verhindern, dass er doch noch etwas Dummes sagte oder tat, wandte er sich von Lorenzo ab und machte sich auf den Rückweg in die Stadt.

Für den Weg zurück brauchte Crispin fast die doppelte Zeit, als auf dem Hinweg. Es fehlte ihm nicht nur der Anreiz in Form einer Deadline, um sich zu beeilen, die höhersteigende Sonne brannte zudem mit jedem Meter, den er zurücklegte, und jeder Minute, die verging, mehr auf seinen Schultern und seinem Rücken. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte sich für ein helles statt einem dunklen Shirt entschieden, doch diese Erkenntnis kam zu spät.
Als er auf dem großen Platz ankam, der das Herzstück Livornos darstellte, das sonst aus den typischen kleinen Gassen bestand, und die wenigen Touristen anlockte, die die Stadt besuchten, klebte seine Kleidung an ihm wie eine zweite Haut. Seine Haare blieben ebenfalls nicht verschont und hingen ihm in schweißnassen Strähnen in den Augen. Den letzten Zeitpunkt für die Abgabe der Bilder auf vor den Vormittag zu legen, war im Grunde ein kluger Schachzug von Signora Bellona, damit sich Nachzügler wie er nicht auf den Weg machten, wenn die Sonne ihren Zenit und die Wärme ihren Höhepunkt erreichten. Nur leider brachte dies nicht viel, wenn man den Rückweg dennoch erst beendete, wenn beides bereits der Fall war. Die anderen Bewohner der Stadt, Besitzer kleiner Läden und Restaurants und selbst die Touristen waren in dem Punkt schlauer als er. Sie hatten sich in die kühleren Gebäude zurückgezogen, soweit diese über Klimaanlagen verfügten, oder saßen entspannt im Schatten der Bäume und Häuser, um ihre Siesta abzuhalten.
Genau das hatte er ebenfalls vor, doch bevor er es sich irgendwo im Kühlen gemütlich machen konnte, um abzuwarten, bis die Wärme etwas nachließ, brauchte er dringend eine weitere Dusche, um den Schweiß von der Haut und aus den Haaren zu bekommen und auch um sein Gemüt ein wenig abzukühlen.
Die Auseinandersetzung mit Lorenzo hing ihm noch immer nach - und das nicht zuletzt, weil dieser ihn so vorgeführt hatte. Jedes einzelne Wort, das der Angestellte von sich gegeben hatte, reizte ihn und ließ ihn auch jetzt noch, wo er nur daran dachte, wütend werden. Gleichzeitig war er aber auch enttäuscht über sich selbst. Er wusste, wie er reagierte, denn seine erste Begegnung mit Lorenzo war ebenfalls nicht ohne eine Auseinandersetzung und einem unschönen Wortwechsel vonstatten gegangen. Aus diesem Grund hatte er sich fest vorgenommen, nicht aus der Haut zu fahren, wenn es nicht Raffaele war, der heute die Aufgabe übernahm, Besucher in Empfang zu nehmen. Insgeheim hatte er aber doch auf diesen gehofft, denn im Gegensatz zu Lorenzo war er bei weitem nicht ganz so ablehnend eingestellt. Raffaele hätte das Bild vermutlich entgegen genommen, ohne noch abfällige Bemerkungen über ihn oder seinen Kleidungsstil von sich zu geben.
So sehr er das arrogante und oberflächliche Gehabe auch hasste und den übertriebenen Lebensstil der Oberschicht auch ablehnte, musste er zugeben, dass Raffaele zumindest der sympathischste Angestellte einer reichen Familie war, den er bisher erlebt hatte. Selbst die seiner eigenen Familie hatten sich von der Ignoranz, die die gehobene Gesellschaft gerne an den Tag legte, anstecken lassen und hielten sich dementsprechend für etwas besseres.
Wie Cyrian es tagaus, tagein ertrug, in dem Haus zu leben und zu arbeiten, war ihm bis heute ein Rätsel, denn bei jemandem wie Lorenzo würde er wohl ständig an die Decke gehen und er konnte sich vorstellen, dass der Pinguin nicht der einzige mit einer derart ablehnenden Haltung zum gemeinen Volk war. Doch sein Bruder war schon immer ruhiger, ausgeglichener und vielleicht auch ein wenig verständnisvoller als er, sodass er diese Sachen besser ignorieren konnte.
"Ah, Crispino. Du kommst genau richtig."
Die Stimme, die quer über den Platz schallte und nach ihm rief, war etwas, das er ebenfalls nicht ignorieren konnte. Crispins Blick wanderte nach vorn und auf die gegenüberliegende Seite der Piazza, auf der Signora Esposito bereits energisch zu ihm winkte, um ihm zu zeigen, dass sie diejenige war, die nach ihm gerufen hatte. Dabei wäre dies nicht einmal nötig gewesen, denn es gab sonst niemanden, der ihn Crispino nannte und ganz egal, wie oft er sie auch berichtigte, ließ sie sich nicht davon abbringen. Ihrer Meinung nach klang es in der italienischen Version sehr viel runder und nicht so abgehackt.
Damit teilte sie die Meinung seiner Großeltern, die enttäuscht darüber waren, dass sich seine Eltern lediglich für seinen jetzigen Namen entschieden hatten. Angeblich, um in Amerika, wohin sie seinen Bruder und ihn eigentlich hatten mitnehmen wollen, nicht ganz so aufzufallen. Er fand diese Erklärung schon immer äußerst skurril, denn es war vollkommen egal, ob sie nun einen an die Staaten angepassten Vornamen besaßen oder nicht. Sein Bruder und er fielen schon dadurch auf, dass sie mit ihrem asiatischen Äußeren, welches sie dem Großteil der koreanischen Verwandtschaft zu verdanken hatten, einen italienischen Nachnamen trugen, den sie durch ihren Großvater hatten. Ob Crispin oder Crispino machte seiner Meinung nach somit auch keinen großen Unterschied mehr und insgeheim störte es ihn weit weniger, wie Signora Esposito ihn nannte, als er zugab
Die betagte ältere Frau hatte wie üblich ein strahlendes Lächeln im Gesicht als er näher kam, wodurch die Falten um ihre Augen herum noch deutlicher hervortraten und die zeigten, dass sie noch nie ein Kind von Traurigkeit war. Ganz egal, wann er sie auch sah, strahlte sie mit der Sonne um die Wette. Während er weiter auf sie zulief, fiel ihm jedoch noch eine weitere Person auf, die neben ihr stand und die er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war eine junge Blondine, die nicht viel älter zu sein schien als er selbst und bei der die Vermutung hatte, dass es sich bei ihr um eine Touristin handelte.
Sofort wurde er skeptisch, da sie nicht nur zufällig neben Signora Esposito stand und er wusste, dass es sich die ältere Dame, die nicht nur ein kleines Weingeschäft besaß, sondern auch gleichzeitig seine Vermieterin war, zur Aufgabe gemacht hatte, für ihn eine passende Freundin zu finden, da sie der Meinung war, dass ein junger hübscher Mann wie er nicht alleine sein sollte. Dass er jeden noch so kleinen Flirtversuch von irgendwelchen Interessentinnen schon im Keim erstickte und bisher jede abgelehnt hatte, die sie ihm vorstellte, war dabei scheinbar vollkommen egal, als hätte sie eine neue Lebensaufgabe gefunden. So nett er sie auch fand und so dankbar er ihr auch war, weil sie ihn über dem Laden wohnen ließ, obwohl sie wusste, dass er eigentlich ständig knapp bei Kasse war, so nervig war sie doch in diesem Punkt.
"Für den Fall, dass du wieder vorhast, mich zu verkuppeln, schenk es dir direkt, Nonna", platzte er daher heraus, ohne sie auch nur zu begrüßen, als er bei ihr und der Fremden angekommen war. Letztere schien kein Wort von dem verstanden zu haben, was er sagte, was darauf schließen ließ, dass sie eher versuchte, sich mit englisch durchzuschlagen - so wie es viele andere auch taten.
"Nein, nein, keine Sorge, heute geht es um etwas ganz anderes, Principino", entgegnete sie ihm mit einem noch breiteren Lächeln, das ihre Grübchen auf der sonnengebräunten Haut zur Geltung brachte. Dieses Lächeln konnte ihn allerdings nicht von dem ablenken, wie sie ihn nun nannte, denn auch wenn er gegen die italienische Variante seines Namens nichts einzuwenden hatte, war es bei diesem Kosenamen doch etwas ganz anderes, denn dieser stammte ursprünglich von seinem Großvater.
"Nenn' mich nicht so."
"Ach Papperlapapp. Der letzte Wunsch deiner Großeltern an mich war es, deinen Bruder und dich so zu behandeln, als wärt ihr meine eigenen Enkel und ich werde sie nicht enttäuschen."
Crispins Augen weiteten sich, als er das hörte, denn das war ihm völlig neu. Er wusste, dass seine Großeltern und Signora Esposito sehr gut befreundet waren, doch er hätte nicht damit gerechnet, dass sie einen derart letzten Wunsch an die alte Frau gerichtet hatten. Durch diese neue Erkenntnis setzte sich Stück für Stück das Puzzle zusammen, bei dem ihm so lange immer wieder Teile fehlten.
Von der Tatsache, dass sie ihn über dem Laden wohnen ließ - einen abgebrannten Maler, der nicht einmal seine Bilder zu Geld machte. Über ihre Geduld und ihr Verständnis, wenn er die Miete einmal zu spät oder nicht vollständig zahlte, weil er seinen Bruder nicht jeden Monat darum anbetteln wollte. Bis hin zu ihrer Vehemenz, wenn es darum ging, dass sie wollte, dass er sie mit Nonna und nicht ihrem Namen - Vittoria - ansprach. In diesem Punkt konnte sie wirklich unglaublich stur sein, sodass er es irgendwann aufgab und ihr den Gefallen tat - nicht zuletzt, weil er ihr doch einiges zu verdanken hatte.
All das ergab plötzlich einen Sinn und er wusste nicht, ob er seine Großeltern für diese Art Aufpasser verfluchen oder ihnen danken sollte.
"Aber genug aus dem Nachtkästchen geplaudert", holte ihn Signora Esposito aus seinen Gedanken, "Nun kommen wir zu meinem heutigen Anliegen an dich. Es geht um diese junge Dame hier."
Mit einem weiteren Lächeln wandte sie sich kurz zu der Blondine und Crispin folgte ihrem Blick. Die Fremde wirkte verwirrt, wie es wohl jeder war, wenn sich andere in einer völlig unbekannten Sprache unterhielten und man mit einem Mal angesehen wurde, da man ahnte, dass man gemeint war, aber nicht wusste, worum es genau ging.
"Ihr Name ist Estelle und sie hätte gerne ein Portrait von sich. Es soll wohl ein Geschenk für ihren Verlobten werden. Ist das nicht romantisch?"
Crispin schnaubte leise als erste Antwort darauf. Von dieser Art Romantik hielt er wirklich überhaupt nichts. Wobei er vermutlich froh sein konnte, dass sie nur ein Portrait und kein Aktbild für ihren Verlobten wollte - eine Kunstrichtung, in der er sich noch nie versucht hatte und damit an diesem Tag auch nicht beginnen wollte.
"Du weißt, dass ich so etwas nicht mache. Weder nehme ich Aufträge an, noch verkaufe ich meine fertigen Bilder."
Der Ausdruck in Vittorias Augen strafte seine Worte Lügen, als wüsste sie etwas, was sie nicht wissen sollte.
"Und wieso bist du vor ein paar Stunden mit einer Leinwand aus dem Haus gegangen? Und erzähl mir nicht, du wolltest unter freiem Himmel zeichnen, denn du hattest ganz offensichtlich nichts anderes bei dir."
Sie hat ihre Augen aber auch wirklich überall, ging es ihm durch den Kopf, während er noch einmal schnaubte und alle Mühe hatte, nicht ertappt den Blick abzuwenden.
"Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich meine Bilder in der Regel nicht verkaufe!", gab er noch einmal mit Nachdruck von sich, auch wenn er sich schon jetzt fast sicher war, dass Signora Esposito nicht locker lassen würde, bis er einwilligte, denn er hatte gerade mehr oder weniger zugegeben, dass es eine kleine Ausnahme gab.
Wissend grinste sie ihn an.
"Wenn du den Auftrag annimmst, erlasse ich dir die Schulden, die sich von den Monaten angesammelt haben, in denen du nur zum Teil die Miete gezahlt hast."
"Das ist Erpressung!", knurrte er.
"Ich nenne es ein nettes Angebot. Nun spring schon über deinen Schatten, Crispino. Du musst mit dem Bild keinen Preis gewinnen."
Über seinen Schatten springen…
Mit diesem Satz hatte sie ihn an der Angel, denn im Grunde war es doch genau das, was er tun musste: seine eigenen Bedenken und Ängste über Bord werfen und sich einfach einmal trauen, jemanden zu zeichnen, der direkt vor ihm saß, um dieser Person das Ergebnis am Ende auch noch zu überlassen. Es war dasselbe wie mit August, nur mit dem winzigen Unterschied, dass er diesen schon zig mal gezeichnet hatte und diese Frau heute das erste mal vor Augen hatte.
Hin- und hergerissen zwischen den Erinnerungen, die ihn bis heute prägten und davon abhielten, anderen seine Werke auch nur zu zeigen, und dem Wissen, dass dieser Auftrag eine gute Übung war, falls er die Ausschreibung von Signora Bellona gewinnen sollte, ballte er eine Hand zur Faust und presste die Kiefer aufeinander. Man sollte meinen, dass es einfach war, sich für Letzteres zu entscheiden, doch das war es nicht, da er noch immer die Stimme seiner Mutter im Kopf hatte, die das alles als Schwachsinn abtat und das zu einer Zeit, in der er sich nach der Anerkennung seiner Familie sehnte und alles dafür getan hätte, was ihm möglich war. Nur war alles nicht genug, solange er kein Klavier spielen konnte, doch er war kein Musiker sondern ein Künstler.
"Okay, ich mache es", kam es ihm schneller über die Lippen, als sein Unterbewusstsein ihn davon abhalten konnte und ein zufriedenes Lächeln erschien auf Vittorias Gesicht. Einen Rückzieher zu machen, war nun unmöglich. Die Frage war nur, ob er das wirklich schaffte…