Crispin Cipriano
31.01.2021, 01:12
》Art speaks
where words are unable to explain.《
》Art is the only way
to run away
without leaving home.《
》Life is a work of art.
If you don't like what you see, paint over it.《
》Learn the rules like a pro,
so you can break them like an artist.《
_____________________________________
•°°♧ Kapitel 1 ♧°°•
Ein verlockendes Angebot
where words are unable to explain.《
》Art is the only way
to run away
without leaving home.《
》Life is a work of art.
If you don't like what you see, paint over it.《
》Learn the rules like a pro,
so you can break them like an artist.《
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•°°♧ Kapitel 1 ♧°°•
Ein verlockendes Angebot
Prüfend warf er einen Blick zum Fenster hinaus, über dessen Sims er gerade ins Innere des Gebäudes geklettert war, um herauszufinden, ob ihn dabei jemand bemerkt hatte und er sich somit darauf gefasst machen sollte, nicht länger als nötig anwesend zu bleiben. Zu seinem Glück war die kleine Gruppe vor dem Tor des Anwesens dabei, wild gestikulierend auf einen der Angestellten einzureden, der ruhig im Eingang stehen blieb und niemanden hinein ließ. Raffaele - der Mann im Smoking, dessen schwarzer Stoff auch noch die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu schlucken schien - war bekannt dafür, nie die Beherrschung zu verlieren, ganz egal wie viele Leute auf ihn einredeten oder wie viel Stress er hatte. Er war die sogenannte Ruhe in Person und die Situation, die sich einige Meter von ihm entfernt abspielte, zeigte dies deutlich.
"Der Pinguin da unten scheint echt alle Hände voll zu tun zu haben", gab er kopfschüttelnd von sich, ohne zu beachten, dass die Person, die sich ebenfalls im Raum befand, noch gar nicht wusste dass er anwesend war, da er sich dafür leise genug hereingeschlichen hatte. Krachend ging hinter ihm etwas zu Boden, gefolgt von einem ungläubigen "Pino?".
Crispin löste den Blick von dem Tumult vor dem Anwesen und drehte sich zu dem anderen herum, ein breites Grinsen im Gesicht, als er sah, dass sich dieser noch nicht ganz wieder gefangen hatte.
"Jetzt sag nicht, du bist wieder durchs Fenster gekommen."
"Doch natürlich. Es ist der einfachste Weg, um unbehelligt zu dir zu kommen."
Nun ebenfalls kopfschüttelnd machte sich Cyrian daran, die Scherben der Tasse aufzuheben, die er durch die Überraschung hatte fallen lassen. Vorsichtig nahm er eine nach der anderen in die Hand und sammelte sie in der anderen, immer darauf bedacht, sich nicht an dem scharfkantigen Porzellan zu schneiden.
"Du könntest auch wie jeder andere ganz normal durch die Vordertür kommen."
Für einen Moment schwieg Crispin, sah den anderen an, als hätte er einen Geist gesehen oder als wäre ihm plötzlich ein dritter Arm gewachsen, bevor er schnaubte.
"Um mir dann von einem der Pinguine sagen zu lassen, dass der Pöbel hier keinen Zutritt hat?! Nein danke. Mein Bedarf daran ist gedeckt."
Cyrian sah von den letzten Scherben auf dem Boden auf und direkt zu ihm, während er hinüber zum Schreibtisch lief, neben dem ein Abfalleimer stand. Mit diesem in der Hand überbrückte er die kurze Distanz bis zu dem anderen und stellte ihn neben ihn. Ein dankbares Lächeln erschien auf den Lippen des Schwarzhaarigen, bevor er wieder ernst wurde und die Stirn runzelte, während er das aufgesammelte Porzellan entsorgte.
"Du glaubst nicht wirklich, dass Raffaele dich nicht herein gelassen hätte, oder?"
Crispin sah ihm entgegen, zu der Person, die ihm beinahe bis aufs Haar glich. Er wusste durchaus, dass er darauf hinaus wollte. Sie konnten bei weitem nicht abstreiten, miteinander verwandt zu sein, und das wollte er auch gar nicht - so unangenehm ihm die Vergleiche mit seinem älteren Bruder auch waren, der so viel talentierter und erfolgreicher war als er selbst. Er liebte Cyrian, der immer hinter ihm stand, ganz egal, was er auch anstellte, und ohne den er vollkommen aufgeschmissen wäre.
"Gut, okay, er vielleicht, aber Lorenzo nicht", schnaubte er, um sein Handeln weiterhin zu verteidigen, denn Lorenzo war konsequent, wenn es darum ging, niemanden ins Haus zu lassen, dessen Nase ihm nicht gefiel, oder jeden wieder hinauszubefördern, auf den dies zutraf. Die Tatsache, dass er seinem Bruder trotz ihres Altersunterschieds von eineinhalb Jahren wie aus dem Gesicht geschnitten sah, spielte dabei überhaupt keine Rolle.
"Das liegt aber nur an deiner Kleidung. Damit würde er nicht einmal den Papst persönlich ins Haus oder auch nur aufs Anwesen lassen."
Crispin sah an sich hinab, um zu sehen, worauf der andere anspielte. Er wusste, was er trug, hatte sich nach seiner Arbeit allerdings nicht die Mühe gemacht, sich umzuziehen, und wer nicht vorher wusste, womit er arbeitete, tat dies spätestens mit einem Blick auf ihn - zumindest konnte man dadurch eine Vorstellung davon bekommen. Er trug ein schlichtes Shirt und eine ebensolche Hose, auf deren schwarzem Stoff viele verschiedene Farbspritzer prangten und ihn beinahe aussehen ließen, als wäre er das Opfer mehrerer Airbrushpistolen geworden, anstatt selbst damit zu arbeiten. Nach der Begutachtung sah er wieder zu seinem Bruder und schnaubte erneut.
"Wo gehobelt wird, da fallen nun mal Späne, oder in meinem Fall eben Farbe. Aber das ist kein Grund, jemanden gleich wie einen Aussätzigen zu behandeln."
Ein schmerzhafter Stich zog sich bei dem letzten Satz durch sein Herz, da dieser eine Erinnerung auslöste, die nichts mit ihrem derzeitigen Gespräch zu tun hatte, ihn aber dennoch nicht los ließ und sich stattdessen immer weiter ausbreitete, sodass auch der Schmerz mit jeder Sekunde heftiger wurde. Crispin wandte den Blick ab, starrte den Boden vor sich an, auf dem inzwischen keine Scherbe mehr zu sehen war, und presste die Lippen zusammen.
Sanft legte sich eine Hand auf seine Schulter, deren Wärme trotz der hohen Außentemperaturen wohltuend war und ihm Halt gab.
"Denk nicht mehr daran, Pino. Sie sind weg."
Es war, als hätte Cyrian seine Gedanken gelesen, doch das musste er nicht einmal. In diesem Punkt war er zumindest ihm gegenüber wie ein offenes Buch. Er konnte vor seinem Bruder nicht verstecken, was die Gedanken an ihre Eltern für Gefühle in ihm auslösten. Bei allen anderen kompensierte er dies mit Wutausbrüchen und versteckte es hinter einer Mauer, die niemanden hindurch ließ, der nicht genug Mühe und Geduld mitbrachte, um sie für sich Stück für Stück einzureißen.
Sein großer Bruder hatte dies nie gebraucht, denn er war jedes mal dabei, wenn er zu spüren bekam, dass er offensichtlich nur etwas wert war, wenn er in die Vorstellung passte, die ihre Eltern von ihren Kindern hatten. Darin sahen sie ihn genau wie ihren Ältesten als angesehenen Haus- und Hof-Pianisten einer reichen Familie und ganz gewiss nicht als mittellosen Maler, der seine Zeit mit dieser Kunst verschwendete. Sie würden sich für ihn vermutlich in Grund und Boden schämen, wenn sie wüssten, dass er seine Bilder nicht einmal verkaufte und somit mehr oder weniger finanziell von seinem Bruder abhängig war. Oder besser gesagt: Dass er diesem auf der Tasche lag, wenn das, was er sich unerlaubt aneignete, nicht ausreichte - etwas, dass zumindest bei seiner Miete sehr oft der Fall war. Ohne Cyrian säße er schon lange auf der Straße. Doch davon wussten sie nichts und selbst wenn, wäre es ihm egal, denn er hatte irgendwann eingesehen, dass es keinen Sinn machte, sich die Liebe seiner Eltern zu verdienen, die völlig normal sein und jedem eigenen Kind zuteil werden sollte, sodass er den Kontakt bereits abgebrochen hatte, bevor sie nach Amerika auswanderten und Cyrian und ihn hier in Livorno zurückließen.
"Und das ist auch gut so", gab Crispin nach einer gefühlten Ewigkeit von sich, nachdem sich der Schmerz durch den Rückhalt seines Bruders wieder gelegt hatte. Dennoch stand er auf, wodurch Cyrians Hand von seiner Schulter rutschte, und ging etwas auf Abstand, denn auch wenn er anderen und sich selbst gegenüber so tat, als hätte er mit all dem abgeschlossen und diesen Teil seiner Familie abgehakt, hinterließ ihr Fehlen doch ein großes Loch in seinem Inneren, das niemand sonst füllen konnte, da es immer für sie reserviert sein würde - ohne Hoffnung darauf, dass es jemals gefüllt wurde.
Um seinem Bruder gegenüber nicht zu zeigen, dass ihn die Gedanken noch immer nicht ganz los ließen, wandte er sich von ihm ab und durchquerte den großen Raum, der geschickt durch einige Raumtrenner in mehrere Bereiche aufgeteilt war und Cyrians persönliches Reich im großen Anwesen der Bellonas gemütlich wirken ließ. Genau wie das, was er bereits vom Rest des Hauses zu Gesicht bekam, war auch dieses Zimmer für seinen Geschmack viel zu protzig eingerichtet. Als müsse man unbedingt zur Schau stellen, wie viel Geld man im Gegensatz zu anderen besaß. Seinem Bruder machte er dabei keinen Vorwurf, denn bis auf all die kleinen persönlichen Details - seine Kleidung, Fotos von ihnen beiden, ein rosafarbenes Hasenplüschtier, das er ebenfalls besaß und ein Geschenk ihrer Großeltern war, als sie noch klein waren, und einiges anderes - war hier bereits alles für ihn vorbereitet gewesen, als er einzog.
Im Gegensatz zu anderen hatte Crispin ihn nie darum beneidet, hier zu arbeiten und zu leben. Er mochte seine kleine Wohnung, die ihm gleichzeitig auch als Atelier diente. Es gab nur eine einzige Sache, auf die er insgeheim und ohne, dass er sich dies selbst oder anderen eingestand, neidisch auf seinen Bruder war…
Ganz automatisch suchte und fand sein Blick den Grund für dieses Gefühl, als er am Fenster ankam, das gegenüber von dem lag, durch das er hereingekommen war und direkt auf den großen Garten hinauszeigte. Schweigend und beinahe vergessend, dass er nicht alleine war und Cyrian ihn beobachten konnte, versank er im Anblick, der sich ihm bot: August - der jüngste Sohn der Familie.
Als er das erste mal zum Anwesen kam, um seinen Bruder zu besuchen, war er noch der Meinung, dass es niemals einen anderen Grund als diesen geben würde, weshalb er sich auch nur in die Nähe dieser Gegend begab, da sich das Grundstück etwas außerhalb der Stadt befand. Bereits an diesem Tag wurde er allerdings eines besseren belehrt, als er sich auf der Suche nach Cyrians Zimmer in den Garten verirrte, zu dem er gerade hinabblickte, und dort das erste mal auf den jungen Mann traf, der ihn seinerseits nicht mitbekommen hatte, da er auf einer der Bänke saß und in einem Buch vertieft war. Die Brille rutschte ihm dabei immer wieder beinahe von der Nase, sodass er sie öfter wieder zurück schieben musste.
Man sollte meinen, dass dies nichts besonderes war. Ganz besonders, wenn man seine Meinung über reiche Familien betrachtete, die alles andere als positiv ausfiel. Somit sollte sein erstes Gefühl bei August ebenfalls Abneigung sein und doch war da etwas, das ihn daran hinderte, den Blick von ihm abzuwenden und weiter nach seinem Bruder zu suchen. Genau wie heute versank er in dem Anblick vor ihm und wurde dabei von Lorenzo erwischt, der ihn leise aber postwendend wieder nach draußen beförderte.
An diesem Abend zeichnete er sein erstes Bild von August, von dem er nicht einmal eine Skizze hatte, diese aber auch nicht brauchte. Jedes Detail, das er mit den Augen hatte erkennen können, hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt und nach diesem Bild folgten viele weitere - manche rein aus der Fantasie, die meisten jedoch nachdem er hier war und ihn gesehen hatte. Ohne, dass es der andere wusste, war er still und heimlich zu seiner Muse geworden, auch wenn er dies so ebenfalls nicht zugeben würde.
"Bei dem Tumult unten am Tor, ging es übrigens um ihn", wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Crispin zuckte leicht zusammen und sah zu seinem Bruder, der ihn wissend anlächelte. Ertappt wandte er den Blick wieder ab.
"Ich habe keine Ahnung, von wem du redest."
Es war ein schwacher Versuch, sich herauszureden, denn er hatte durchaus verstanden, dass es scheinbar um August ging. Nur der Grund erschloss sich ihm nicht ganz, außer der jüngste Spross der Bellonas hatte vor, bald zu heiraten und die Leute vor dem Tor wollten ihre Töchter feilbieten. Der Gedanke daran setzte sich in ihm fest, formte Bilder in seinem Kopf, die ihm unweigerlich die Galle nach oben trieben und das nicht nur, weil es ihn an eine moderne Art des Sklavenhandels erinnerte, wenn man jemanden zwangsverheiratete.
"Der Ausdruck in deinen Augen hat dich verraten. Bestimmt sitzt August wieder an seiner Lieblingsstelle und liest."
Als wollte er sichergehen, dass er damit richtig lag, sah er noch einmal aus dem Fenster, obwohl er bereits wusste, dass er recht hatte. August saß mit der Nase in einem Buch unter einem der Bäume und suchte wie gewohnt kühlenden Schatten an diesem warmen Tag. Er konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal in der Sonne sitzen gesehen zu haben, als scheute er diese. Ebenso war er ihm noch nie in etwas anderem als langärmeliger Kleidung begegnet, was dazu führte, dass er selbst im Sommer, während alle anderen braun gebrannt waren, noch immer jeder Porzellanpuppe Konkurrenz machte.
Crispin konnte nicht leugnen, dass ihm besonders das sofort ins Auge fiel und seinen Blick an ihm hängen ließ. Unter der italienischen Sonne wirkte er mit seiner blassen Haut, den dazu im starken Kontrast stehenden schwarzen Haaren und den dunklen Augen, die ihn an eine Katze erinnerten, wie ein exotisches Kunstwerk, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. So auch jetzt, sodass er ertappt zusammenzuckte, als er das leise Lachen seines Bruders neben sich hörte.
"Ich sehe dir einfach sofort an, ob du ihn ansiehst oder die Landschaft betrachtest."
Crispin grummelte leise etwas Unverständliches vor sich hin, da es ihm doch ein wenig unangenehm war, dass man es ihm derart ansah.
"Erklärst du mir jetzt auch noch genauer, was es mit ihm zu tun hat oder soll ich raten?!", entgegnete er angesäuerter und damit schärfer als es beabsichtigt war und als er seinen Blick von August löste, um zu seinem Bruder zu schauen, bemerkte er noch, wie dieser gerade seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle brachte, wodurch es ihm ein wenig leid tat, ihm gegenüber so aufbrausend reagiert zu haben. Doch zu seinem Glück schien es ihm Cyrian nicht übel zu nehmen, denn bereits wenige Sekunden später schlich sich bereits wieder ein Lächeln auf seine Lippen.
"Im Grunde wäre es sogar etwas für dich", begann er und Crispin hob skeptisch eine Augenbraue, hinter der er seine aufkeimende Neugier versteckte. "Seit ein paar Jahren lässt Signora Bellona jedes Jahr zu seinem Geburtstag ein Bild von ihm anfertigen. Den genauen Grund dafür kennt keiner und dieses Jahr ist es das erste Mal, dass sie eine Art Ausschreibung dafür macht, bei der sich jeder Künstler bewerben kann."
Cyrian beendete seine Erklärung, die Crispin Erleichterung verschaffte, indem sie die grauenhaften Bilder in seinem Kopf verscheuchte, die sich dort festgesetzt hatten, als er hörte, dass es sich bei dem Tumult am Tor um August drehte.
"Du weißt ganz genau, dass ich meine Bilder nicht verkaufe und du kennst auch den Grund dafür. Wieso denkst du also, dass ich bei so etwas mitmache?", erwiderte er und war gespannt auf die Antwort. Er konnte nicht leugnen, dass sich ein seltsames Gefühl in ihm breit machte, wenn er daran dachte, jemand anderes könnte ihn malen, auch wenn dies die letzten Jahre offensichtlich bereits der Fall war. Gleichzeitig juckte es ihm in den Fingern, diesen Job zu übernehmen, doch derselbe Grund, der ihn daran hinderte, seine Werke zu verkaufen, tat dies auch in dieser Situation.
"Yuliya bezahlt den Auftrag immer wirklich sehr großzügig. Du wärst also für eine Weile nicht mehr von mir abhängig", zählte er den ersten Grund auf und traf dabei bei ihm mitten ins Schwarze, denn genau das war etwas, das ihn insgeheim störte und ihn dazu brachte, auf seiner Unterlippe kauend den Blick wieder abzuwenden. "Aber vom finanziellen abgesehen, könntest du ihn einmal aus der Nähe zeichnen und müsstest es nicht heimlich nach einem Besuch hier auf dem Anwesen tun. Und außerdem bin ich mir sicher, dass kein anderer von denen, die sich beworben haben, so viel Gefühl in seine Bilder legt, wie du es tust. Du musst nur mehr Vertrauen in dein eigenes Talent haben."
"Der Pinguin da unten scheint echt alle Hände voll zu tun zu haben", gab er kopfschüttelnd von sich, ohne zu beachten, dass die Person, die sich ebenfalls im Raum befand, noch gar nicht wusste dass er anwesend war, da er sich dafür leise genug hereingeschlichen hatte. Krachend ging hinter ihm etwas zu Boden, gefolgt von einem ungläubigen "Pino?".
Crispin löste den Blick von dem Tumult vor dem Anwesen und drehte sich zu dem anderen herum, ein breites Grinsen im Gesicht, als er sah, dass sich dieser noch nicht ganz wieder gefangen hatte.
"Jetzt sag nicht, du bist wieder durchs Fenster gekommen."
"Doch natürlich. Es ist der einfachste Weg, um unbehelligt zu dir zu kommen."
Nun ebenfalls kopfschüttelnd machte sich Cyrian daran, die Scherben der Tasse aufzuheben, die er durch die Überraschung hatte fallen lassen. Vorsichtig nahm er eine nach der anderen in die Hand und sammelte sie in der anderen, immer darauf bedacht, sich nicht an dem scharfkantigen Porzellan zu schneiden.
"Du könntest auch wie jeder andere ganz normal durch die Vordertür kommen."
Für einen Moment schwieg Crispin, sah den anderen an, als hätte er einen Geist gesehen oder als wäre ihm plötzlich ein dritter Arm gewachsen, bevor er schnaubte.
"Um mir dann von einem der Pinguine sagen zu lassen, dass der Pöbel hier keinen Zutritt hat?! Nein danke. Mein Bedarf daran ist gedeckt."
Cyrian sah von den letzten Scherben auf dem Boden auf und direkt zu ihm, während er hinüber zum Schreibtisch lief, neben dem ein Abfalleimer stand. Mit diesem in der Hand überbrückte er die kurze Distanz bis zu dem anderen und stellte ihn neben ihn. Ein dankbares Lächeln erschien auf den Lippen des Schwarzhaarigen, bevor er wieder ernst wurde und die Stirn runzelte, während er das aufgesammelte Porzellan entsorgte.
"Du glaubst nicht wirklich, dass Raffaele dich nicht herein gelassen hätte, oder?"
Crispin sah ihm entgegen, zu der Person, die ihm beinahe bis aufs Haar glich. Er wusste durchaus, dass er darauf hinaus wollte. Sie konnten bei weitem nicht abstreiten, miteinander verwandt zu sein, und das wollte er auch gar nicht - so unangenehm ihm die Vergleiche mit seinem älteren Bruder auch waren, der so viel talentierter und erfolgreicher war als er selbst. Er liebte Cyrian, der immer hinter ihm stand, ganz egal, was er auch anstellte, und ohne den er vollkommen aufgeschmissen wäre.
"Gut, okay, er vielleicht, aber Lorenzo nicht", schnaubte er, um sein Handeln weiterhin zu verteidigen, denn Lorenzo war konsequent, wenn es darum ging, niemanden ins Haus zu lassen, dessen Nase ihm nicht gefiel, oder jeden wieder hinauszubefördern, auf den dies zutraf. Die Tatsache, dass er seinem Bruder trotz ihres Altersunterschieds von eineinhalb Jahren wie aus dem Gesicht geschnitten sah, spielte dabei überhaupt keine Rolle.
"Das liegt aber nur an deiner Kleidung. Damit würde er nicht einmal den Papst persönlich ins Haus oder auch nur aufs Anwesen lassen."
Crispin sah an sich hinab, um zu sehen, worauf der andere anspielte. Er wusste, was er trug, hatte sich nach seiner Arbeit allerdings nicht die Mühe gemacht, sich umzuziehen, und wer nicht vorher wusste, womit er arbeitete, tat dies spätestens mit einem Blick auf ihn - zumindest konnte man dadurch eine Vorstellung davon bekommen. Er trug ein schlichtes Shirt und eine ebensolche Hose, auf deren schwarzem Stoff viele verschiedene Farbspritzer prangten und ihn beinahe aussehen ließen, als wäre er das Opfer mehrerer Airbrushpistolen geworden, anstatt selbst damit zu arbeiten. Nach der Begutachtung sah er wieder zu seinem Bruder und schnaubte erneut.
"Wo gehobelt wird, da fallen nun mal Späne, oder in meinem Fall eben Farbe. Aber das ist kein Grund, jemanden gleich wie einen Aussätzigen zu behandeln."
Ein schmerzhafter Stich zog sich bei dem letzten Satz durch sein Herz, da dieser eine Erinnerung auslöste, die nichts mit ihrem derzeitigen Gespräch zu tun hatte, ihn aber dennoch nicht los ließ und sich stattdessen immer weiter ausbreitete, sodass auch der Schmerz mit jeder Sekunde heftiger wurde. Crispin wandte den Blick ab, starrte den Boden vor sich an, auf dem inzwischen keine Scherbe mehr zu sehen war, und presste die Lippen zusammen.
Sanft legte sich eine Hand auf seine Schulter, deren Wärme trotz der hohen Außentemperaturen wohltuend war und ihm Halt gab.
"Denk nicht mehr daran, Pino. Sie sind weg."
Es war, als hätte Cyrian seine Gedanken gelesen, doch das musste er nicht einmal. In diesem Punkt war er zumindest ihm gegenüber wie ein offenes Buch. Er konnte vor seinem Bruder nicht verstecken, was die Gedanken an ihre Eltern für Gefühle in ihm auslösten. Bei allen anderen kompensierte er dies mit Wutausbrüchen und versteckte es hinter einer Mauer, die niemanden hindurch ließ, der nicht genug Mühe und Geduld mitbrachte, um sie für sich Stück für Stück einzureißen.
Sein großer Bruder hatte dies nie gebraucht, denn er war jedes mal dabei, wenn er zu spüren bekam, dass er offensichtlich nur etwas wert war, wenn er in die Vorstellung passte, die ihre Eltern von ihren Kindern hatten. Darin sahen sie ihn genau wie ihren Ältesten als angesehenen Haus- und Hof-Pianisten einer reichen Familie und ganz gewiss nicht als mittellosen Maler, der seine Zeit mit dieser Kunst verschwendete. Sie würden sich für ihn vermutlich in Grund und Boden schämen, wenn sie wüssten, dass er seine Bilder nicht einmal verkaufte und somit mehr oder weniger finanziell von seinem Bruder abhängig war. Oder besser gesagt: Dass er diesem auf der Tasche lag, wenn das, was er sich unerlaubt aneignete, nicht ausreichte - etwas, dass zumindest bei seiner Miete sehr oft der Fall war. Ohne Cyrian säße er schon lange auf der Straße. Doch davon wussten sie nichts und selbst wenn, wäre es ihm egal, denn er hatte irgendwann eingesehen, dass es keinen Sinn machte, sich die Liebe seiner Eltern zu verdienen, die völlig normal sein und jedem eigenen Kind zuteil werden sollte, sodass er den Kontakt bereits abgebrochen hatte, bevor sie nach Amerika auswanderten und Cyrian und ihn hier in Livorno zurückließen.
"Und das ist auch gut so", gab Crispin nach einer gefühlten Ewigkeit von sich, nachdem sich der Schmerz durch den Rückhalt seines Bruders wieder gelegt hatte. Dennoch stand er auf, wodurch Cyrians Hand von seiner Schulter rutschte, und ging etwas auf Abstand, denn auch wenn er anderen und sich selbst gegenüber so tat, als hätte er mit all dem abgeschlossen und diesen Teil seiner Familie abgehakt, hinterließ ihr Fehlen doch ein großes Loch in seinem Inneren, das niemand sonst füllen konnte, da es immer für sie reserviert sein würde - ohne Hoffnung darauf, dass es jemals gefüllt wurde.
Um seinem Bruder gegenüber nicht zu zeigen, dass ihn die Gedanken noch immer nicht ganz los ließen, wandte er sich von ihm ab und durchquerte den großen Raum, der geschickt durch einige Raumtrenner in mehrere Bereiche aufgeteilt war und Cyrians persönliches Reich im großen Anwesen der Bellonas gemütlich wirken ließ. Genau wie das, was er bereits vom Rest des Hauses zu Gesicht bekam, war auch dieses Zimmer für seinen Geschmack viel zu protzig eingerichtet. Als müsse man unbedingt zur Schau stellen, wie viel Geld man im Gegensatz zu anderen besaß. Seinem Bruder machte er dabei keinen Vorwurf, denn bis auf all die kleinen persönlichen Details - seine Kleidung, Fotos von ihnen beiden, ein rosafarbenes Hasenplüschtier, das er ebenfalls besaß und ein Geschenk ihrer Großeltern war, als sie noch klein waren, und einiges anderes - war hier bereits alles für ihn vorbereitet gewesen, als er einzog.
Im Gegensatz zu anderen hatte Crispin ihn nie darum beneidet, hier zu arbeiten und zu leben. Er mochte seine kleine Wohnung, die ihm gleichzeitig auch als Atelier diente. Es gab nur eine einzige Sache, auf die er insgeheim und ohne, dass er sich dies selbst oder anderen eingestand, neidisch auf seinen Bruder war…
Ganz automatisch suchte und fand sein Blick den Grund für dieses Gefühl, als er am Fenster ankam, das gegenüber von dem lag, durch das er hereingekommen war und direkt auf den großen Garten hinauszeigte. Schweigend und beinahe vergessend, dass er nicht alleine war und Cyrian ihn beobachten konnte, versank er im Anblick, der sich ihm bot: August - der jüngste Sohn der Familie.
Als er das erste mal zum Anwesen kam, um seinen Bruder zu besuchen, war er noch der Meinung, dass es niemals einen anderen Grund als diesen geben würde, weshalb er sich auch nur in die Nähe dieser Gegend begab, da sich das Grundstück etwas außerhalb der Stadt befand. Bereits an diesem Tag wurde er allerdings eines besseren belehrt, als er sich auf der Suche nach Cyrians Zimmer in den Garten verirrte, zu dem er gerade hinabblickte, und dort das erste mal auf den jungen Mann traf, der ihn seinerseits nicht mitbekommen hatte, da er auf einer der Bänke saß und in einem Buch vertieft war. Die Brille rutschte ihm dabei immer wieder beinahe von der Nase, sodass er sie öfter wieder zurück schieben musste.
Man sollte meinen, dass dies nichts besonderes war. Ganz besonders, wenn man seine Meinung über reiche Familien betrachtete, die alles andere als positiv ausfiel. Somit sollte sein erstes Gefühl bei August ebenfalls Abneigung sein und doch war da etwas, das ihn daran hinderte, den Blick von ihm abzuwenden und weiter nach seinem Bruder zu suchen. Genau wie heute versank er in dem Anblick vor ihm und wurde dabei von Lorenzo erwischt, der ihn leise aber postwendend wieder nach draußen beförderte.
An diesem Abend zeichnete er sein erstes Bild von August, von dem er nicht einmal eine Skizze hatte, diese aber auch nicht brauchte. Jedes Detail, das er mit den Augen hatte erkennen können, hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt und nach diesem Bild folgten viele weitere - manche rein aus der Fantasie, die meisten jedoch nachdem er hier war und ihn gesehen hatte. Ohne, dass es der andere wusste, war er still und heimlich zu seiner Muse geworden, auch wenn er dies so ebenfalls nicht zugeben würde.
"Bei dem Tumult unten am Tor, ging es übrigens um ihn", wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Crispin zuckte leicht zusammen und sah zu seinem Bruder, der ihn wissend anlächelte. Ertappt wandte er den Blick wieder ab.
"Ich habe keine Ahnung, von wem du redest."
Es war ein schwacher Versuch, sich herauszureden, denn er hatte durchaus verstanden, dass es scheinbar um August ging. Nur der Grund erschloss sich ihm nicht ganz, außer der jüngste Spross der Bellonas hatte vor, bald zu heiraten und die Leute vor dem Tor wollten ihre Töchter feilbieten. Der Gedanke daran setzte sich in ihm fest, formte Bilder in seinem Kopf, die ihm unweigerlich die Galle nach oben trieben und das nicht nur, weil es ihn an eine moderne Art des Sklavenhandels erinnerte, wenn man jemanden zwangsverheiratete.
"Der Ausdruck in deinen Augen hat dich verraten. Bestimmt sitzt August wieder an seiner Lieblingsstelle und liest."
Als wollte er sichergehen, dass er damit richtig lag, sah er noch einmal aus dem Fenster, obwohl er bereits wusste, dass er recht hatte. August saß mit der Nase in einem Buch unter einem der Bäume und suchte wie gewohnt kühlenden Schatten an diesem warmen Tag. Er konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal in der Sonne sitzen gesehen zu haben, als scheute er diese. Ebenso war er ihm noch nie in etwas anderem als langärmeliger Kleidung begegnet, was dazu führte, dass er selbst im Sommer, während alle anderen braun gebrannt waren, noch immer jeder Porzellanpuppe Konkurrenz machte.
Crispin konnte nicht leugnen, dass ihm besonders das sofort ins Auge fiel und seinen Blick an ihm hängen ließ. Unter der italienischen Sonne wirkte er mit seiner blassen Haut, den dazu im starken Kontrast stehenden schwarzen Haaren und den dunklen Augen, die ihn an eine Katze erinnerten, wie ein exotisches Kunstwerk, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. So auch jetzt, sodass er ertappt zusammenzuckte, als er das leise Lachen seines Bruders neben sich hörte.
"Ich sehe dir einfach sofort an, ob du ihn ansiehst oder die Landschaft betrachtest."
Crispin grummelte leise etwas Unverständliches vor sich hin, da es ihm doch ein wenig unangenehm war, dass man es ihm derart ansah.
"Erklärst du mir jetzt auch noch genauer, was es mit ihm zu tun hat oder soll ich raten?!", entgegnete er angesäuerter und damit schärfer als es beabsichtigt war und als er seinen Blick von August löste, um zu seinem Bruder zu schauen, bemerkte er noch, wie dieser gerade seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle brachte, wodurch es ihm ein wenig leid tat, ihm gegenüber so aufbrausend reagiert zu haben. Doch zu seinem Glück schien es ihm Cyrian nicht übel zu nehmen, denn bereits wenige Sekunden später schlich sich bereits wieder ein Lächeln auf seine Lippen.
"Im Grunde wäre es sogar etwas für dich", begann er und Crispin hob skeptisch eine Augenbraue, hinter der er seine aufkeimende Neugier versteckte. "Seit ein paar Jahren lässt Signora Bellona jedes Jahr zu seinem Geburtstag ein Bild von ihm anfertigen. Den genauen Grund dafür kennt keiner und dieses Jahr ist es das erste Mal, dass sie eine Art Ausschreibung dafür macht, bei der sich jeder Künstler bewerben kann."
Cyrian beendete seine Erklärung, die Crispin Erleichterung verschaffte, indem sie die grauenhaften Bilder in seinem Kopf verscheuchte, die sich dort festgesetzt hatten, als er hörte, dass es sich bei dem Tumult am Tor um August drehte.
"Du weißt ganz genau, dass ich meine Bilder nicht verkaufe und du kennst auch den Grund dafür. Wieso denkst du also, dass ich bei so etwas mitmache?", erwiderte er und war gespannt auf die Antwort. Er konnte nicht leugnen, dass sich ein seltsames Gefühl in ihm breit machte, wenn er daran dachte, jemand anderes könnte ihn malen, auch wenn dies die letzten Jahre offensichtlich bereits der Fall war. Gleichzeitig juckte es ihm in den Fingern, diesen Job zu übernehmen, doch derselbe Grund, der ihn daran hinderte, seine Werke zu verkaufen, tat dies auch in dieser Situation.
"Yuliya bezahlt den Auftrag immer wirklich sehr großzügig. Du wärst also für eine Weile nicht mehr von mir abhängig", zählte er den ersten Grund auf und traf dabei bei ihm mitten ins Schwarze, denn genau das war etwas, das ihn insgeheim störte und ihn dazu brachte, auf seiner Unterlippe kauend den Blick wieder abzuwenden. "Aber vom finanziellen abgesehen, könntest du ihn einmal aus der Nähe zeichnen und müsstest es nicht heimlich nach einem Besuch hier auf dem Anwesen tun. Und außerdem bin ich mir sicher, dass kein anderer von denen, die sich beworben haben, so viel Gefühl in seine Bilder legt, wie du es tust. Du musst nur mehr Vertrauen in dein eigenes Talent haben."