Wind Beyond Shadows

Normale Version: Mirror mirror on the wall, who's the biggest fool of all?
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Julien Espello

Belebt und hektisch zog die Welt auf der anderen Seite des Fensters an Julien vorbei. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen und die Lichter der Straßenlaternen und Geschäfte wirkten bei der Geschwindigkeit, die das Fahrzeug, in dem er saß, drauf hatte, wie kleine Glühwürmchen, die an ihnen vorbeizogen. Schweigend blickte er darauf und hing seinen Gedanken nach. Dabei strahlte er eine Gelassenheit aus, als wäre er gerade auf dem Weg zu einem geschäftlichen Essen, wie es wohl tausendfach am Tag auf der ganzen Welt vorkam: Geschäftsleute, die sich bei einem netten Essen zusammensetzten und dabei gemeinsam Pläne schmiedeten. Im Prinzip konnte man die Veranstaltung, zu der er unterwegs war, wohl auch genauso beschreiben. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass er keiner der Geschäftsmänner war, die womöglich einen Deal aushandelten. Vielmehr war er das hübsche Beiwerk, mit dem man sich schmückte und von dem man keine große Intelligenz sondern lediglich gutes Aussehen und die wichtigsten Benimmregeln in einer solch noblen Gesellschaft, wie sie ihn erwartete, verlangte. Welchen Eindruck würde es auch hinterlassen, wenn er mit mehr IQ glänzte, als es sein Kunde tat? Einmal hatte er diesen Fehler begangen, indem er sich in ein Gespräch einmischte, weil ihm die Ansichten der beiden Gesprächspartner sauer aufstießen. Am Ende hatte sein Chef eine Beschwerde des Kunden auf dem Tisch und er bekam eine Ansage, die sich gewaschen hatte. Lediglich die Tatsache, dass er zu diesem Zeitpunkt noch sehr neu in dem Geschäft und zudem ein äußerst lukrativer Mitarbeiter war, hatte ihn davor bewahrt, seine erste Abmahnung zu kassieren - wenn nicht gar einen direkten Rauswurf.
Während er an diesen Abend zurückdachte, bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie ihn sein Fahrer Louis durch den Rückspiegel beobachtete. Auch wenn er nichts sagte, konnte er sich vorstellen, was in ihm vorging: Irritation über seinen Fahrgast. Dabei war es nicht das erste mal, dass er ihn als Frau an der Union Station abholte, um ihn zu seinem Job zu fahren, doch es lag wohl an der Tatsache, dass er jedes Mal anders aussah, auch wenn Louis ihn lediglich an seinem ersten Tag in seiner wahren Gestalt gesehen hatte. Doch alleine die Tatsache, dass er ihn als Mann am Bahnhof absetzte und ihn anschließend in weiblicher Gestalt wieder wegfuhr, hinterließ mit Sicherheit mehr als genug Verwirrung in dem Mann, von dem er ausging, dass dieser keine Ahnung hatte, dass es noch ganz andere Dinge auf der Welt gab und die Menschen nicht die einzigen intelligenten Lebewesen waren, die diesen Planeten bevölkerten. Daher glaubte er auch nicht, dass er wusste, was vor sich ging. Allerdings konnte er auch nicht sicher sein, ob er sich nicht doch etwas zusammenreimte und Gerüchte um seine Person konnte er nicht gebrauchen. Es war schlimm genug, dass er mit Amelia eine Mentorin und damit einen Klotz am Bein hatte, bei der er jederzeit Gefahr lief, enttarnt zu werden, denn sie war keineswegs so dumm, wie sie sich geben musste. Da brauchte er keinen Fahrer, auf den dies ebenfalls zutraf. Daher hatte er damals direkt am nächsten Tag über ihn mit seinem Chef gesprochen. Mr. Smith hatte ihm versichert, dass Louis verschwiegen war, was er keine Sekunde anzweifelte. Leute, die zu viele Fragen stellten oder zu viel redeten, waren mit Sicherheit ganz schnell raus aus dem Geschäft - und das sicher nicht aufgrund einer harmlosen Kündigung. Im Endeffekt wusste er zwar dennoch nicht, ob der andere die Puzzleteile richtig zusammensetzte, aber er beharrte dennoch darauf, dass nur er ihn fuhr. Sollte er doch einmal verraten werden, wusste er, dass es nur von Louis oder Amelia kommen konnte.
"Wir sind da, junge Dame", meldete sich Louis zu Wort und brach damit das schweigen. Durch seine Gedanken hatte er nicht einmal gemerkt, dass sie an dem Hotel, in dessen Restaurant das Essen stattfinden sollte, angekommen waren. Julien schenkte ihm ein denkendes Lächeln.
"Ich danke Ihnen sehr für die zügige Fahrt. Ohne Sie wäre ich wohl zu spät gekommen. Ich bin Ihnen etwas schuldig."
Sofort färbten sich Louis Wangen leicht rot und er starrte nach vorn. Durch den Rückspiegel sah Julien dennoch welche Wirkung sein Lächeln und seine Worte auf ihn hatten, denn der Fahrer schluckte trocken und hatte Mühe, sich zu sammeln.
"A-ach was. Nicht der Rede wert. Das ist immerhin mein Job."
"Sie sind gut in ihrem Job", setzte er noch einen drauf, bevor er den Wagen verließ. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Louis noch einen Luftkuss und ein Zwinkern zu schicken, sodass dieser mit hochrotem Kopf davon fuhr. Als selbst von den Rücklichtern nichts mehr zu sehen war, seufzte er. Was tat man nicht alles, um in seiner Rolle zu bleiben? Dafür flirtete er nun sogar schon mit seinem eigenen Fahrer und das obwohl er ihn in dieser Gestalt womöglich nie wieder sehen würde, außer derselbe Kunde buchte ihn erneut oder ein anderer wollte ihn mit genau diesem Aussehen.
Apropos Kunde…
Genau dieser wartete mit Sicherheit bereits auf ihn im Inneren des Gebäudes. Aus diesem Grund verschwendete er auch keine weiter Zeit und betrat durch den Haupteingang die Lobby. Diese war luxuriös ausgestattet und einem 4-Sterne-Hotel würdig. Einen längeren Blick hatte er dennoch nicht dafür. Stattdessen lief er direkt zum Empfang, wo ihn ein Mitarbeiter bereits taxierte. Viel zu lange blieben seine Augen an seinen Kurven hängen, die durch den engen Schnitt des Kleides gut zu sehen waren.
"Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte er dennoch professionell, als er bei ihm ankam.
"Senhor Ramos de Oliveira erwartet mich."
Für einen kurzen Augenblick wirkte er überrascht über seinen Akzent, doch da es sich bei seinem Kunden um einen gebürtigen Brasilianer handelte, hatte dieser ausdrücklich eine Dame des Edel-Escorts verlangt, die der portugiesischen Sprache mächtig war. Den Akzent zu imitieren, wenn man englisch sprach, war dabei nur die Kirsche auf der Sahnehaube.
"Ich bringe Sie zu ihm", brachte er heraus, als er sich wieder gefasst hatte und deutete Julien, ihm zu folgen. Dieser tat, genau dies und stöckelte auf den hohen Absätzen seiner Schuhe inzwischen gekonnt hinter ihm her, als hätte er nie etwas anderes getragen. Doch auch wenn er in Pumps und hochhackigen Sandalen inzwischen laufen konnte, schmerzten ihm die Füße dennoch bereits nach kürzester Zeit und er war jetzt schon froh, wenn er den Moment erreichte, an dem er sie wieder ausziehen konnte. Im Augenblick durfte er sich davon allerdings nichts anmerken lassen und so erreichte er so elegant wie es ihm möglich war, den Tisch im Restaurant, an dem sein Kunde bereits wartete. Dieser stand auf, als er ihn sah, musterte ihn ebenfalls von oben bis unten und schien mit seinem Äußeren zufrieden zu sein. Julien setzte ein Lächeln auf und reichte ihm die Hand, die dieser direkt ergriff, um ihm einen Kuss darauf zu hauchen. Überrascht über diese Geste, vergaß er für einen Moment, sich vorzustellen.
"Sie müssen Ms Clark sein", begrüßte er ihn seinerseits, bevor er seine Hand wieder freigab. Julien war versucht, sie an dem Kleid abzustreifen, doch er hinderte sich selbst daran. Ein einfacher Handkuss war nichts im Gegensatz zu dem, was er während seiner Zeit im Bordell bereits getan hatte.
"Nennen Sie mich ruhig Rachel, Senhor Ramos de Oliveira."
"Sehr gern. Wie könnte ich einer so bezaubernden Dame auch einen solchen Wunsch abschlagen. Dann bitte ich aber auch darum, dass Sie mich Juliano nennen."
Hätte er den Namen nicht schon zuvor gewusst, wäre er spätestens in diesem Moment wohl aus seiner Rolle gefallen, denn es wirkte kurios, jemanden bei einem Namen zu nennen, der dem eigenen so ähnlich war. So lächelte er lediglich und nickte. Für mehr blieb keine Zeit, da in diesem Moment auch der Geschäftspartner seines Kunden auftauchte und der Abend konnte somit seinen Lauf nehmen...

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Äußerliche Erscheinung: Ivana Baquero