Wind Beyond Shadows

Normale Version: I'm just as scared as you
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>>And I've been denying this feeling of hopelessness
In me, in me

All the promises I made
Just to let you down
You believed in me, but I'm broken<<

Er konnte nicht glauben, was er da sah. Adrett, wie man wohl sagen könnte. Perfekt, für den baldigen Moment, den er nicht mehr hinauszögern konnte. Der Schneider hatte sich wirklich Mühe gegeben, der Stoff lag dort, wo er sitzen sollte, gut an. An anderen Stellen, wo es wichtiger war, das er locker saß, passte seine Hand dazwischen. Und doch wollte keine Freude in ihm aufsteigen. Viel mehr hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen. Da änderte auch die Klimaanlage nichts, die ihre kühle Luft unablässig in den Raum pumpte. Sie strich sanft über seinen Nacken und hätte ihn unter normalen Umständen sicher frösteln lassen.
Sein Anblick verbesserte das panische Gefühl nicht. Wissen, das der Anzug besser nicht sitzen konnte, rang mit dem Gefühl ersticken zu müssen. Cyrian kämpfte gegen den Drang an, den Finger in den Kragen seines Hemdes zu schieben und den Abstand zum weichen, seidenen Stoff, der sich für ihn wie ein Kartoffelsack anfühlte, zu vergrößern.
Wie hatte es nur soweit kommen können? Im Grunde wusste er es, nur wollte er es sich nicht eingestehen. Die Unfähigkeit gegen das zu wehren, was er nicht wollte. Die Unfähigkeit seine Meinung zu sagen, weil er anderen nicht zu nahe treten, sie nicht verletzen wollte. Was sollte er tun, wenn er auf Ablehnung stieß und die Enttäuschung in den Augen seiner Eltern sah? Sie hatten sich so viel Mühe gegeben für die Planung, hatten so viel Geld ausgegeben... Und er sollte sich undankbar zeigen?
All das Wissen um seine Fehler nutzte nichts, wenn der Weg zwischen Denken und Handeln versperrt war.
Sein Blick wanderte einige Millimeter nach links wo er in der Spiegelung Cris sehen konnte. Dessen Blick schien genau das auszusagen, wie er sich selbst fühlte, doch Cyr war beherrscht. Zu beherrscht um sich die innere Unruhe anmerken zu lassen. Ja es lag sogar ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen und er machte den Eindruck, als würde er sich auf das Kommende freuen.
Das es nicht der eigene Wunsch war, der ihn hier her getrieben hatte, wussten sie beide, da konnte er nicht daran rütteln. Doch machte es einen Unterschied?
„Ich würde zu dem lavendelfarbenen tendieren, oder was meinst du?“, fragte er, den Blick unterbrechend, da er sich schuldig fühlte und es nicht weiter ertragen konnte, seinem Bruder ins Gesicht zu sehen. Es quetschte ihm das Herz zusammen, als hätte man ihm ein Gewicht auf die Brust gelegt, welches er trotz winden und schütteln nicht abwerfen konnte. Ob es sich so anfühlte von Schlingpflanzen umgeben zu sein, die sich, je mehr man sich bewegte, nur fester um einen schlagen? Angeblich sollte es helfen, sich zu entspannen. Welch Ironie, das der Inbegriff seines Lebens genau darauf passte. Je mehr er sich bewegte, desto fester wurden die Fesseln, die ihn an Ort und Stelle zwangen. Ließ er hingegen locker und hoffte darauf, übersehen zu werden, nahm man ihm die Entscheidungen ab, in die er sich fügte.
Seine Eltern wollten doch nur ein perfektes Leben für ihn, wollten, das er glücklich war, schließlich liebten sie ihn! Immer wieder redete er es sich ein, das es zu seinem Besten war, das es gut war, was hier passierte und er sich nur entspannen brauchte. Es war normal. Jeder heiratete, bekam eine Frau, setzte ein Kind in die Welt... warum hatte er dennoch das unsägliche Verlangen weglaufen zu müssen, weil alles viel zu eng wurde und ihn zu ersticken drohte?
Alle Entspannung nutzte nichts, so presste er die Zunge gegen den Gaumen, versuchte so, ein wenig Druck abzubauen, ehe er der Versuchung erlag, sich auf die Lippen zu beißen und die zarte haut daran anzunagen, bis es blutete. Sicher würde er dann noch alles voll tropfen, oder aber man würde ihm anmerken, das ihm all das nicht geheuer war. Unter keinen Umständen durfte jemand etwas bemerken. Cris in seiner rebellischen Art würde auf jeden Hinweis, dass Cyr nicht ganz so entspannt war, anspringen. Lieber einmal mehr durchatmen.
An die Schlingpflanzen denkend, versuchte er dem nachzukommen, was gar nicht so leicht war. Kaum hatte er eine Verspannung gelöst, fiel ihm die nächste auf... wenn man ihm ansehen würde, wie er sich fühlte, wäre Quasimodo ein Witz dagegen. Jahre langes Training sorgte jedoch dafür, das er vollkommen entspannt schien, von der Nervosität des großen Ereignisses mal abgesehen.
„Also? Oder doch eine andere Farbe?“ Wieder huschte sein Blick zu Cris hinüber, als wäre er wirklich unentschlossen darüber, welches Hemd zum schwarzen Sakko passen würde. Die Auswahl war unerträglich groß. Da er auch nicht aussehen wollte, als stünde ein Geschäftsessen bevor.
Während sein fragender Blick auf Cris' Spiegelbild hängen blieb, sah er im Hintergrund eine junge Dame, die Sekt durch die Gegend trug. Wie gern würde er ihr zwei oder drei Gläser vom Tablett klauen und sie ausleeren, das würde zumindest seine Nerven ein wenig beruhigen. Das er keinen Alkohol vertrug würde ihm da ausnahmsweise mal zu Pass kommen, doch welchen Eindruck würde das hinterlassen? Entschlossen, das Ganze schnell hinter sich zu bringen, riss er sich von ihr los.

Crispin Cipriano

》Don't break a bird's wings and then tell it to fly.
Don't break a heart and then tell it to love.
Don't break a soul and then tell it to be happy.
Don't see the worst in a person and expect them to see the best in you.
Don't judge people and expect them to stand by your side.
Don't play with fire and expect to stay perfectly safe.
Life is about giving and taking.
You cannot expect to give bad and receive good.
You cannot expect to give good and receive bad.《

Der Begriff unwirklich beschrieb die Situation, in der sich Crispin befand wohl äußerst passend. Nach außen hin lässig gegen eine Säule gelehnt stand er bei einem der nobelsten und teuersten Schneider, den die Stadt zu bieten hatte, und beobachtete seinen großen Bruder dabei, wie dieser seinen Anzug für den nächsten Tag anprobierte. In der Oberschicht, in der sie sich seit ihrer Geburt bewegten und die einem Minenfeld oder Haifischbecken glich, wenn man nicht akkurat und passend gekleidet war, war dies nichts Ungewöhnliches. Wie oft hatten sie bereits hier vor dem Spiegel gestanden, ihre Eltern daneben, die das Werk des Schneiders begutachteten und bewerteten, um anschließend mit einem perfekt sitzenden Anzug das Geschäft wieder zu verlassen?
Crispin wusste es nicht und er wollte, wenn er ehrlich zu sich war, auch gar nicht nachzählen, denn jedes einzelne Mal war er alles andere als freiwillig hier. Durch die vielen Male, in denen sie bereits hier waren und wodurch sie zu gern gesehen Stammkunden wurden, sollte man meinen, dass es normal sein sollte, doch es gab einen entscheidenden Unterschied zu den früheren Situationen. Die heute war absolut überflüssig und hätte durch seinen Bruder ganz einfach verhindert werden können, indem er einfach mal Nein gesagt hätte.
Nein zu einer weiteren Entscheidung, die ihre Eltern über seinen Kopf hinweg trafen.
Nein zu der Verlobten, die sie ihm vor die Nase setzten.
Und Nein zu dem Leben, was sie ihm damit aufzwingen wollten.
Vermutlich sollte sich Crispin nicht darüber wundern, dass Cyrian nichts dergleichen getan hatte. So rebellisch er selbst war und immer mit dem Kopf durch die Wand wollte, weil ihm die Regeln und Konsequenzen egal waren, so fügsam und zu ihren Gunsten formbar war sein Bruder. Sich gegen eine Entscheidung ihrer Familie zu stellen, lag ihm nicht. Schließlich hatte er bereits an ihm gesehen, was passierte, wenn man Ecken und Kanten hatte, die nicht vorgesehen waren und durch die man nicht in das sorgsam erstellte Bild passte. Was passieren würde, wenn sich der Vorzeigesohn bei der Hochzeit plötzlich querstellen würde, wusste er nicht. Ihn hatten sie vor die Wahl gestellt: entweder er ging auf die Verlobung mit der für ihn sorgsam ausgewählten Frau ein oder sie setzten ihn vor die Tür. Sich für Letzteres zu entscheiden, war ihm nicht schwer gefallen, auch wenn dies bedeutete, dass er im Unterschlupf seiner Clique schlafen musste. Es war immer noch besser, als die Ketten, die ihn erwartet hätten.
Dass Cyrian dasselbe Schicksal treffen würde, glaubte er nicht, denn immerhin war er immer derjenige, der bevorzugt wurde. Selbst nachdem er es schlussendlich doch schaffte, auf seine Weise Klavier zu spielen, denn seine Unfähigkeit, Noten zu lesen, galt bei seinen Eltern dennoch immer als Makel, der ihn im Schatten seines Bruders stehen ließ. Der andere war immer ihr Liebling und aus diesem Grund glaubte er nicht daran, dass sie ihn ebenfalls auf die Straße setzen würden und Crispin wünschte sich, er würde sich nicht derart sein Leben diktieren lassen.
Cyrians Frage nach einem Hemd, das zu seinem Jacket passte, holte ihn aus seinen Grübeleien und er musterte ihn in dem Anzug. Es war so falsch, dass sie hier waren und er war sich sicher, dass sein Bruder dies aus seinem Blick lesen konnte, den er ihm zuwarf. Sie beide wussten es und dennoch versuchte der andere gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aus diesem Grund sagte er auch nichts und blickte sich stattdessen in dem kleinen aber exquisiten Laden um, um so zu tun, als würde er tatsächlich überlegen, welche Farbe nicht nur zum Sakko sondern auch zu Cyrian passte. Dabei fiel ihm eins ganz besonders ins Auge, als er schon erneut gefragt wurde. Crispin stieß sich von der Säule ab und lief zu dem Hemd, das er entdeckt hatte, nahm es samt Bügel an sich und lief anschließend zurück zu dem anderen. Nur wenige Schritte von ihm blieb er stehen und warf ihm die Unfall eines Hemds, das auffällig pink war, vor die Füße.
"Wie wär's mit dem?! Gefällt dem Barbiepüppchen, das du ab morgen deine Frau nennst, sicher ausgesprochen gut. Passt immerhin super zu ihren künstlichen Fingernägeln", gab er abwertend von sich, denn er ertrug es einfach nicht, seinem Bruder dabei zuzusehen, wie er selbst jetzt noch mit einem aufgesetzten Lächeln und sehenden Auges in sein Unglück rannte.
"Oder wie wäre es mit Schwarz?! Immerhin trägst du morgen das letzte bisschen Freiheit, das dir noch geblieben ist, zu Grabe!"
Kaum hatte er den Satz beendet, kam die Frau, die eben noch den Sekt auf einem Tablett balancierte, auf ihren Absatzschuhen zu ihnen gestöckelt. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die anderen Anwesenden in dem Geschäft ebenfalls zu ihnen schauten und in ihren Augen konnte er selbst aus diesem Blickwinkel die Empörung und Ablehnung bezüglich seines Auftretens - sowohl optisch als auch aufgrund seines Verhaltens - erkennen.
"Mr. Cipriano, bitte beruhigen Sie sich-"
"Ich beruhige mich, wenn er endlich zur Vernunft kommt", fuhr er ihr ins Wort und ließ ihr damit keine Gelegenheit, ihre Ansprache zu beenden, die sie ihm mit Sicherheit halten wollte, da sein Verhalten gegen jegliche Etikette verstieß, doch das war ihm gerade vollkommen egal. Crispin ballte die Hände zu Fäusten und musste sich wirklich zusammenreißen, seinem Bruder nicht eine zu knallen, damit er endlich aufwachte. Sich zu prügeln, war für ihn nichts Neues, doch er hatte noch nie die Hand gegen Cyrian erhoben und er hatte auch nicht vor, dies am heutigen Tag zu ändern, weshalb er seine Fingernägel in seine Handflächen grub, in der Hoffnung, der Schmerz würde ihn genug davon ablenken.
"Siehst du überhaupt, was du hier tust, Cyr? Du hast vor, dein Leben in die Hände irgendeiner kontrollsüchtigen Tussi zu legen, die sich vermutlich jetzt schon ins Fäustchen darüber lacht, dass sie mit dir umspringen kann, wie sie will, ohne dass du etwas dagegen tust."
Vielleicht übertrieb er damit, dass sein Bruder selbst dann nichts dagegen tat, wenn man ihn wie Dreck behandelte, denn er war sich sicher, dass Asya genau das tun würde. Dass sie ihn schon jetzt kontrollierte und am liebsten immer wissen wollte, wo er sich befand, war kein Geheimnis. Fehlte nur noch, dass sie in sein Handy schaute.
Wie aufs Stichwort hörte er das leise Summen des Smartphones in Cyrians Kleidung, die er vor der Anprobe getragen hatte und es war beinahe so, als wollte es seine Worte noch bestätigen.
Manchmal fragte er sich, für wen er das alles machte, für wen er all dies durchstand. Für sich definitiv nicht, denn dann würde er hier nicht stehen. Für seine Eltern? Wahrscheinlich. Für Cris, damit dieser mehr Freiheiten haben konnte? Vielleicht. Doch nicht für sich. Gern würde er los lassen, gehen, davon treiben und dann irgendwo wieder aufwachen, wo er sein konnte, wie er es wollte. Wie wäre das? Würde er Seiten an sich entdecken, die er nie gekannt hatte oder in einer Katatonie verfallen, die es ihm lediglich erlaubte, zu Atem, unfähig, irgendwas anderes zu tun?
Wunschgedanken, die er sich selbst einredete. Denn ausbrechen zu wollen, klang in den Gedanken gut, waren aber nie umzusetzen. Manches mal war er sogar froh, die engen Grenzen zu haben, die man um ihn gesteckte, denn sie gaben ihm trotz allem eine gewisse Sicherheit. Er wusste, wohin er sich bewegen konnte, wusste, was er gefahrlos tun konnte, ohne ein Risiko eingehen zu müssen. Sicheres Fahrwasser zu haben war durchaus angenehm... Warum also rebellieren, nur um dann vor etwas zu stehen, mit dem man nicht umgehen konnte? Es kam einem Abgrund gleich, von dem er nicht wusste, wie er diesen überwinden sollte. Er hatte keine Freunde, zu denen er sich flüchten konnte, hatte keinen, mit dem er sprechen konnte... Manchmal war es ihm ganz recht so, aber genau so oft war er einsam und flüchtete sich dann in virtuelle Welten, wo er erkunden und ablenken konnte, bis das Leben ihn wieder einholte.
Er bemerkte, wie seine Gedanken abdrifteten, sich abschotteten um irgendwo anders zu sein, wo er sich nicht der Realität stellen brauchte, die ihn erstickte.
Cyrian holte die Luft, riss sich ins Hier und Jetzt zurück und setze ein wohl studiertes Lächeln auf, was über die Jahre so natürlich geworden war, das man es kaum von einem echten, von Herzen kommenden unterscheiden konnte. Ja es erreichte sogar seine Augen, ließ sie leicht frech funkeln, während sich leichte, nicht vorhandene Fältchen um seine Augen legten.
Gerade rechtzeitig, denn Widererwarten ging Cris sogar los, um ein anderes Hemd zu holen, was sicher einer der Angestellten übernommen hätte, wenn man auch nur den Wunsch angedeutet hätte.
Sein Lächeln verblasste ein wenig, als der feine Stoff zu seinen Füßen landete. Es war nicht mal die Farbe, die ihn störte, wohl aber das verhalten seines jüngeren Bruders. Wie er zu der ganzen Sache stand, wurde mehr als deutlich. Ein Verhalten, das so typisch wie vorhersehbar war. Wo Cyrian immer ausgesprochen höflich blieb, das man es schon fast als Sarkasmus auslegen konnte, konnte man bei Cris sicher sein, das genau das Gegenteil dessen kam, was erwartet wurde. Rebellisch und Entgegen des Verlangtem. So waren sie auf die gleiche Weise berechenbar.
„Meinst du wirklich, sie wird morgen pinke Nägel tragen? Ich denke da eher an ein dezentes Creme-weiß, aber dies bezüglich ist sie so verschwiegen... schade, sonst könnte man es besser aufeinander abstimmen.“, meinte er vollkommen ernst und musterte das pinke Hemd. Seltsam, das es solche intensiven Farben hier gab.
„Schwarz? Nein, das passt nun wirklich nicht.“, murmelte er, den Blick hebend, den er dann auf Cris richtete, der so falsch nicht lag. Asya kontrollierte ihn schon jetzt in jeder Art und weise, das sie sogar sein Handy kontrollierte, wenn er nicht hinsah. Erwischt hatte Cyrian sie noch nicht, aber das musste er auch nicht, denn er hatte es durch Zufall bemerkt, als eines seiner spiele beendet war, als er den Raum verlassen hatte. Kurz hatte er an sich gezweifelt, war sich dann aber sicher. Sie musste es beendet haben. In dem Moment war irgendwas in ihm zusammen gebrochen, was er noch nie hatte flicken können. Schnell hatte er es verdrängt und doch kam es immer wieder hoch, wenn er das Handy in die Hand nahm. Alles, was verwerflich sein könnte, hatte er gelöscht. Nun war sein Handy genau so unpersönlich, wie er sich selbst oft vorkam.
Natürlich hörte er die Worte seines Bruders. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es glatt zum Lachen. Wenn er wüsste. Cyrians Leben kam vom Regen in die Traufe, doch er lächelte leicht über das verhalten Cris, auch wenn es ihm absolut nicht gefiel, wie er gegen die Etikette verstieß, wie er auffiel... daran änderte auch nichts, das er Recht hatte.
„Es ist das Normalste auf der Welt, dass man heiratet, also beruhige dich bitte. Sie liebt mich und will einfach sicher sein, das es keinen Grund zur Eifersucht gibt. Hab du erst mal eine Freundin...“ Ein beschwörender und doch freundlich, beruhigender Blick traf seinen jüngeren Brüder, denn noch mehr auffallen, als ohnehin schon, wollte er nicht. Ob er ungeduldig war, das sich die ganze Anprobe schon so hinzog? Es musste so sein, redete er sich ein, auch wenn er es besser wusste. „Nimm dir einen Sekt, er soll gut sein!“, schlug er daher vor.
Eigentlich hatte er noch was sagen wollen, doch das Klingeln seines Handys unterbrach ihn. Er ahnte, wer da nach seiner Aufmerksamkeit verlangte und verfluchte sie dafür, denn sie unterstrich nur die Behauptungen, die im Raum standen. Da nutzte es auch nichts, zu beschwichtigen oder zu sagen, das sie durch die Hochzeit in ständigem Kontakt stehen mussten. Er presste die Zunge wieder gegen den Gaumen und erstickte die aufkeimende Panik.
„Entschuldigen sie bitte!“, meinte er freundlich zur Angestellten und hüpfte von dem kleinen Podest, auf den man ihn gestellt hatte. Ehe Cris auf die Idee kam, sich das Handy zu nehmen, schnappte er es sich, drückte den Anruf weg und stellte den Ton aus. Glatt lag ihm eine Rechtfertigung auf der Zunge, doch würde er zugeben, um wen es sich bei dem Anrufer handelte, spielte er Cris in die Karten und auch wenn es ihm zu wider war, so zu denken, behielt er es für sich.
Er legte das Handy zurück in die Tasche und stellte sich wieder auf das Runde Podest, straffte durchatmend die Schultern.
„Vielleicht sollte ich Sie einen Moment allein lassen...“ Die freundliche Dame, die seine Anprobe begleitet hatte, lächelte die beiden Herren an und entfernte sich einige schritte, ehe sie sich umwandte und zu ihren Kolleginnen gesellte.
Cyrian sah zu Cris hinüber. Es lag keine Anklage in seinem Blick, auch konnte er sich beherrschen, zu seufzen. „Es dauert sicher nicht mehr lang mit der Anprobe...“, versprach er, um irgendwas zu sagen, das Thema abzulenken und die unerträgliche stille zu überbrücken.

Crispin Cipriano

"Capta avis est melior, quam mille in gramine ruris, Principino." (Ein gefangener Vogel ist besser als tausend im Gras.)
"Aber Nonno…", wollte Crispin auf die gut gemeinten Worte seines Großvaters schon erwidern, doch dieser schüttelte nur den Kopf, um ihm zu zeigen, dass nichts, was er sagte, etwas daran ändern würde und er sich mit seinem Gewinn zufrieden geben musste.
Betrübt blickte er daher zu seinem Bruder hinüber, der beim Angeln der kleinen Enten aus dem Becken deutlich erfolgreicher war und dessen Gewinn somit auch größer ausfiel. Anschließend sah er seinen Trostpreis an und zu dem Plüschtier, das er eigentlich hatte haben wollen. Es war pink und somit laut seinen Eltern sicher alles andere als für einen Jungen bestimmt und doch war ihm das Häschen ins Auge gefallen. Seine Chancen, es zu gewinnen, waren allerdings gering und so ließ er den Kopf hängen.
Seine Freude über den Besuch des Jahrmarkts mit seinen Großeltern und Cyrian wollte anschließend auch den Rest des Tages nicht zurückkommen und wäre es wohl auch nicht, selbst wenn er gewusst hätte, dass sich Cyrian etwas später noch einmal an dem Stand versuchte, nur um das Kuscheltier für ihn zu gewinnen und es ihm zu Weihnachten zu schenken…

Die Erinnerung an diesen Tag flackerte kurz vor Crispins innerem Auge auf, ohne dass er sagen konnte warum, aber die Worte seines Großvaters klangen ihm in den Ohren nach, als stünde er direkt neben ihnen und spräche sie aus. Er verstand, welche Lektion des Lebens er ihm damals hatte beibringen wollen und der eine oder andere würde vermutlich sagen, dass er wirklich nicht über das meckern konnte, was ihm das Leben beschert hatte. Finanziell hatte er sich keine Sorgen machen müssen, er bekam in materieller Hinsicht alles, was er brauchte. Er hatte ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Schlafen, Essen in Hülle und Fülle und warme Kleidung. Dinge, die alltäglich waren und für den einen oder anderen eben genau das doch nicht waren. Zudem besaß er liebevolle Großeltern und einen großen Bruder, der immer für ihn da war und auf ihn aufpasste. Man sollte meinen, er sollte glücklich sein über den Reichtum, den er besaß, und sich damit zufrieden geben, anstatt mehr zu wollen. Was all diejenigen, die ihn um sein Leben beneideten, aber nicht sahen, waren die Ketten, die ihm von Geburt an auferlegt wurden, und die Eltern, die man auf emotionaler Ebene allenfalls als kalt bezeichnen konnte. Was sollte er mit all dem Geld und dem Ansehen, wenn er nicht frei sein konnte, sollte er nach ihren Regeln spielen?
Doch auch wenn er für sich selbst entschieden hatte, den Worten seines Großvaters nicht zu folgen, weil sie einen goldenen Käfig bedeuteten, in den er sich nicht sperren lassen wollte, so waren sie allem Anschein nach bei Cyrian auf äußerst fruchtbaren Boden gefallen. Crispin wusste, dass sein Bruder die Sicherheit des eng gesteckten Rahmens, in dem er sich bewegte, weniger einengend fand, als er es tat. Während ihm die Regeln die Luft zum Atmen nahmen, halfen sie dem anderen, nicht zu viel oder auch gar nichts zu riskieren.
Aber war das wirklich ein Leben? Konnte man das als Leben bezeichnen, wenn man immer nur nach den Regeln anderer spielte, sich vorschreiben ließ, was man zu tun und zu lassen hatte, ohne auch nur einmal etwas zu riskieren oder zumindest etwas zu tun, was man selbst wollte - auch auf die Gefahr hin anderen damit auf die Füße zu treten? Grenzen auszutesten und sie eventuell auch einfach mal zu übertreten, um zu schauen, was passierte? Crispin verlangte mit seinen Worten an seinen Bruder nicht, dass sich dieser von Grund auf änderte. Das wollte er gar nicht, denn er liebte ihn so wie er war. Für ihn war Cyrian nicht nur sein großer Bruder, sondern seine wahrhaftig bessere Hälfte. Sein Gewissen, das ihn davor bewahrte, sich in Probleme und Schwierigkeiten zu manövrieren, die zu groß für ihn waren. Allerdings wollte er, dass er sein Leben selbst in die Hand nahm, anstatt es sich in allen Einzelheiten vorschreiben zu lassen, denn es war sein Leben und am Ende des Tages musste er damit klar kommen und kein anderer.
Dass es nicht so einfach werden würde, wurde ihm bewusst, als Cyrian ernst und trocken reagierte, obwohl er ihm gerade deutlich vor Augen geführt hatte, was er von der ganzen Sache hielt. Crispins Augen weiteten sich für einen Moment, bevor er sie zusammenzog.
"Farblich abstimmen? Ernsthaft?! Hörst du dir mal selbst zu?! Das ist keine verdammte Traumhochzeit, auch wenn unsere Eltern das gerne so aussehen lassen würden! Das wird ne arrangierte Ehe mit einer Frau, von deren Existenz du gerade mal ein paar Monate weißt. Das Ganze ist die reinste Farce, um den Firmendeal unserer und ihrer Familie gut aussehen zu lassen und nichts anderes! Du lässt dich verkaufen, Cyr! Du weißt das genauso gut wie ich und tust nichts dagegen!"
Crispin drückte seine Fingernägel noch tiefer in die Haut, bis der Schmerz ihm deutlich signalisierte, dass er aufhören sollte, doch er tat es nicht. Er hielt den Druck aufrecht, war drauf und dran auch noch weiter zu gehen, denn durch sein Verhalten war Cyrian drauf und dran, dass er komplett aus der Haut fuhr und das wollte er nicht - ganz egal wie schwer es auch war, sich zurückzuhalten.
Das Klingeln des Handys holte ihn für einen Moment aus diesem Zustand und er beobachtete den anderen dabei, wie er zu seinen Sachen lief und den Anruf wegdrückte, bevor er es offensichtlich komplett stumm schaltete.
"Lass mich raten, es war deine Zukünftige?", fragte er mit einem Unterton, der deutlich zeigte, wie wenig er von dieser Frau hielt. Seiner Meinung nach war sie genau wie Marielle, die er, wäre es nach seinen Eltern gegangen, hätte heiraten sollen. Sie waren wie Puppen - äußerlich vielleicht ganz hübsch anzusehen, wenn man auf Plastik-Barbies stand, aber innerlich leer. Oberflächlich und nur auf ihren Vorteil bedacht, so wie die meisten anderen, die am morgigen Tag auf der Hochzeit sein würden.
"Weißt du was?! Du musst es mir gar nicht sagen. Ich kann es mir auch so denken, wer es war", nahm er ihm die Möglichkeit, zu antworten und ihn womöglich mit einer Lüge oder Ausflüchten abzuspeisen. So weh der Gedanke auch tat, weil es vor der Verlobung anders war, rechnete er nicht mit einer ehrlichen Antwort. Allgemein hatte sich einiges zwischen ihnen verändert, seit Cyrian Asya vor die Nase gesetzt wurde und die Entscheidung feststand, dass er sie heiraten würde. Er verschloss sich, als hätte er Angst, er könnte ins Wanken geraten in die Sicherheit, die er brauchte, verlieren, wenn er sich ihm zu sehr offenbarte.
Ein Stich fuhr ihm durch die Brust, als er daran dachte, dass sie vorher über alles offen und ehrlich reden konnten. Die Veränderung schmerzte und war ein weiterer Grund, warum er nicht zulassen wollte und konnte, dass die Hochzeit stattfand. Crispin hatte schlicht und ergreifend Angst, seinen Bruder an eine Frau zu verlieren, die nichts für ihn übrig hatte. Doch er würde sich hüten, dies laut auszusprechen. Nicht solange sich sein Bruder verhielt, als wäre der nächste Tag die Erfüllung all seiner Träume.
Das normalste der Welt…
Sie liebte ihn…
Die Worte klangen wie blanker Hohn in seinen Ohren und für einen Moment war er wirklich sprachlos und unfähig, etwas darauf zu erwidern. Doch dieser Zustand dauert nicht lange, bis er sich wieder gefangen hatte.
"Scheiß auf den Sekt!"
Mit einem deutlichen Blick sah er zu der Mitarbeiterin, die diesen kurz zuvor noch serviert hatte, um ihr zu zeigen, dass sie gar nicht erst den Versuch starten sollte, ihm welchen zu bringen. Andernfalls landete er womöglich auf dem teuren Anzug.
"Mag sein, dass heiraten etwas völlig normales ist, aber dann, wenn man sich liebt und nicht weil andere das so wollen! Glaubst du ernsthaft, dass sie irgendwas für dich empfindet? Bullshit! Würde sie dich lieben, würde sie dir vertrauen. Dann gäbe es absolut keinen Grund, dich auf Schritt und Tritt zu kontrollieren."
Auf den Teil, dass er erst einmal selbst eine Freundin haben sollte, ging er gar nicht erst ein. Es war eine Flucht seines Bruders und ein armseliger Versuch, das ganze Drama schön zu reden und ihn womöglich noch auf seine Seite zu ziehen. Aber darauf konnte er lange warten - nicht zuletzt, weil er sich nicht vorstellen konnte, jemals eine Frau an seiner Seite zu haben, ganz egal, wie diese war.
Um sich jedoch wieder ein wenig zu beruhigen, oder dies zumindest zu versuchen, schloss Crispin die Augen und atmete mehrmals tief durch. Währenddessen ließ sie auch die Angestellte alleine, die Cyrian bei der Anprobe half. Was diese und die anderen von ihm halten mochten, war ihm egal und er blendete auch die anderen Kunden vollkommen aus. Erst als sein Bruder die Stille zwischen ihnen, die dadurch entstand, durchbrach, hob er seine Lider und blickte seinen Gegenüber mit einer Mischung aus Unglaube und Wut und einem Hauch Verzweiflung an.
"Die Zeit, die wir hier für diese sinnlose Anprobe verbringen, ist absolut verschwendet… Du könntest sie sofort beenden. Genau wie den ganzen Mist, den sie mit sich bringt."
Welten konnten gleich erscheinen und doch Grund verschieden sein. Nebeneinander und doch ineinander existieren, ohne, das ein jeder davon wusste, eigentlich nur derjenige, der sich darin befand. Doch wo Cris offen rebellierte, war es Cyrian, der sich fügte, wissend, das er nicht ausbrechen konnte, ohne das Bild zu zerstören, welches man von ihm hatte oder haben wollte und damit konnte er nicht umgehen, hatte er doch im Grunde nur das. So schwer konnte all das doch nicht sein? Aufgewachsen in dem, was man brauchte, was für sie selbstverständlich war, worauf andere hingegen ihr ganzes Leben hinarbeiteten. Wie konnte er es also wagen, ausbrechen zu wollen? Er war einfach nicht dankbar genug, wie er fand, auch wenn er es zu schätzen wusste. Sehr oft erinnerte er sich daran, was er hatte, das er zufrieden sein sollte. Es mangelte an nichts, es hätte ihn wirklich schlechter treffen können... doch.... warum war er dann nicht glücklich? Warum fiel ihm das Lächeln so schwer? Ja er konnte sich nicht mal daran erinnern, wann er das letzte mal gelacht hatte. War das überhaupt mal vorgekommen?
Risiko war nicht das, was er im Leben wollte, da war ihm die Sicherheit lieber, doch konnte man sie oft auch mit beruhigender Monotonie vergleichen, die sein Leben in gewohnte Bahnen verlaufen ließ, doch ermüdete es ihn auch. In Momenten wie diesen wünschte er sich, in sein Bett gehen zu können, die Augen zu schließen und zu schlafen, zu schlafen und zu schlafen, um nicht mehr erwachen zu müssen, wo all das war, was er nicht mehr ertragen konnte. Da war es leichter, zu funktionieren, die Erwartungen zu füllen und zu tun, was getan werden musste. Ob nun für sich oder Cris, das war dahin gestellt, denn es wäre nicht das erste mal, das er die Wogen darüber glätten musste, was dieser wieder angestellt hatte.Nur fragte er sich oft, wo er blieb. Wo er hingehörte. Er war von allein ein kleiner Teil um die Lücke zu füllen, doch einen wirklichen Platz im Leben, hatte er nicht. Irgendwann wären seine Eltern nicht mehr da, Cris würde ihn nicht mehr brauchen, und dann? Wäre er dann weg? Überflüssig...
Leise stieß er die Luft aus. War er das nicht schon jetzt? Sein Blick suchte Cris, der, wie ein kleiner Gnom im Hintergrund stand und versuchte, ein Unwetter herbei zu zaubern, wenn man dessen Gesichtsausdruck richtig deutete. Ein kaum merkliches Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel. Dieser würde oft, sehr oft auf die Nase fallen, doch alles in allem würde er klar kommen, dessen war Cyr sich sicher. Ich sollte mich konzentrieren..., mahnte er sich und schüttelte von einer Sekunde auf die andere alle Gedanken ab und fokussierte sich auf das, was vor ihm lag. Nun zu trödeln, half keinem. Selbst wenn es nicht so aussah, fiel es ihm dennoch schwer, den Faden zu behalten.
Erst das Gezeter des kleinen Wettergnoms, holte ihn gänzlich ins Hier und Jetzt zurück. Sein Blick schärfte sich, ehe er ihn wieder auf seinen Bruder richtete. Es fehlte nur noch, das er mit dem Fuß aufstampfte, ehe auch schon das Unwetter losbrechen würde, ähnlich einer Flut, die über sie kam.
Leicht zuckte er in sich zusammen, was man hoffentlich auf die Distanz, die sie Trennte, nicht sah. Es durchfuhr ihn kalt. Ja, er hörte sich selbst zu, da er zu genau wusste, wann er etwas wie sagen, wie betonen musste, um die Bedanken anderer zu zerstreuen oder sie gar zufrieden zu stellen. Viele kleine Nuancen, die er beachten musste, um den gewünschten Effekt zu erreichen und doch beherrschte er sie. Ebenso wie das Entspannen auf Knopfdruck, welches er jetzt wieder ab rief, um die Muskeln zu lockern. Langsam entspannte er sich wieder.
„Es wird vielleicht ihre Traumhochzeit, an der alles perfekt ablaufen soll. Man heiratet schließlich nur einmal im Leben, da will man alles perfekt haben.“, antwortete er in einem beruhigenden Ton, um zu vermitteln, das es richtig war, wie es ablief. Man konnte schließlich auch nicht an dem Fakt rütteln, das der Himmel nun mal blau war. Arrangiert oder nicht, dennoch musste er niemanden enttäuschen. Niemand, bis auf einen, denn als Cris erwähnte, das er nichts dagegen tat, hätte er fast den Kopf hängen lassen, da dies aber zu auffällig war, unterbrach er lieber den Blick. Die Enttäuschung zu sehen konnte er nicht ertragen. Trocken schluckte er. Ihm lagen tausend Gründe auf der Zunge, um zu erklären, warum er nichts tat, doch wusste er, das keiner davon gut genug war, um seine Situation passend zu erklären. Cris war zu jung, um es zu verstehen... Zudem wollte er nicht den Letzten, der noch zu ihm stand, weg ekeln, obwohl er wissentlich im Begriff war, genau das zu tun. Er konnte nicht über seine Gründe sprechen, wollte sie nicht formulieren, denn seine Zunge weigerte sich. Als würde irgendwas verhindern, die Worte zu artikulieren... Ganz davon ab, das er sich so erschlagen fühlte, so Energielos und müde, als Stünde er vor einem Berg, den er erklimmen musste, wissend, das der alles verbergende Nebel immer ein Stückchen mehr offenbaren würde, wenn er glaubte, den Gipfel erreicht zu haben.
Seine Atmung beschleunigte sich. Er fühlte sich gehetzt. Hoffnungslosigkeit wurde zur Angst und diese würde ihn zur Flucht treiben, doch er konnte kein solches Aufsehen erregen. Nicht auszudenken, was der Ausstatter denken würde. Da auch ihre Eltern hier her kamen, würden sie vom seltsamen verhalten ihres Sohnes erfahren. Die Blamage, die darauf folgen würde, konnte er ihnen nicht aufbürden. Würde Cris doch einfach nur den Mund halten! Selbst presste er die Lippen zu einem schmalen Strich, um die Worte besser in die viel zu enge Kehle hinunter pressen zu können. Ihn zu verletzen wäre nicht gerecht. Irgendwie musste es doch möglich sein, das innere Gleichgewicht wieder zu finden, sich zu entspannen und wieder zu konzentrieren. Gern hätte Cyr einen Punkt gehabt, auf den er sich konzentrieren und somit alles andere ausblenden zu können, doch er fand keinen!
Das Handy kam da gerade recht, doch erinnerte es ihn auch an das unausweichliche.
„Sie macht sich eben Gedanken.“, meinte er ruhiger, als er selbst geglaubt hätte, zu sein. Froh über den Umstand, klammerte er sich an diesen, um die innere Leere wieder zu finden, die ihm half, alles auszublenden und zu durchstehen.
Morgen. Es kam ihm vor, als würde dieses Morgen noch wenigstens zwei Jahre auf sich warten lassen, so sehr hatte er es verdrängt. Meistens dachte er nur von Heute auf morgen, auch wenn er wesentlich länger voraus plante. Das Jetzt machte ihm genug zu schaffen, als das er sich schon zu sehr auf das Kommende konzentrieren konnte.
Sekt wäre da wirklich eine Willkommene Abwechslung, doch würde dieser zweifelsohne seine Zunge lockern und ihn mehr verraten lassen, als er es wollte. Kontrolle war das, woran er sich klammerte, auch wenn diese mehr als trügerisch war. Kontrolle über sein Leben hatte er keine und doch redete er sich ein, alles im Griff zu haben und so zu lenken, wie es sein sollte.
„Arrangierte Ehen sind nichts neues. Du solltest um die Vorteile wissen, die diese oft mit sich bringen.“ Cyr, der nicht wusste, woher er plötzlich den Mund und die Standfestigkeit hernahm, suchte durch den Spiegel den Blick seines Bruders. Die Kälte der Angst ließ ihn wieder zur Vernunft finden, an die er sich klammerte. Es würde geschehen, gleich was die Beteiligten – er – oder die Zusehenden – Cris – davon hielten. „Alles andere wird sich mit der Zeit ergeben.“, fügte er leiser werdend dazu, presste kurz die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste. Anspannung durchlief seinen Körper, verschwand aber alsbald wieder. Ihm lag etwas auf den Lippen, was er besser nicht sagen sollte und doch...
„Du könntest dich auch einfach für mich freuen, statt alles schlecht zu reden.“ Und da war es draußen, wissend, das das wohl das letzte Tröpfchen Öl war, das es brauchte, um Cris explodieren zu lassen. Selbst wenn jetzt ein Eklat entstand, wusste er, das er sein kleines Brüderchen später wieder in Schutz nehmen würde, um alles von ihm abzulenken, was ihm schaden könnte. Das würde er immer tun, gleich, was sich ihm entgegen stellte.
Ihm kam die Erinnerung, wie Cris zu ihm ins Bett gekrochen war, in den Sinn. Ein Gewittersturm tobte draußen und Cris zitterte am ganzen Leib. Cyr hatte die decke über sie beide gezogen und mit leiser Stimme eine Geschichte erzählt. Um ihm die Angst vor dem Sturm zu nehmen, hatte er diesen glatt benutzt und ihn in seine Geschichte eingeflochten. Es war eine seiner liebsten Erinnerungen auch wenn er nicht einmal mehr sagen konnte, wie alt sie damals waren. Die Arme hatte er um ihn geschlungen, an seinen Haaren gezupft, das sie am Morgen darauf noch chaotischer aussahen, als ohnehin schon. Er vermisste diese Zeit schrecklich.
Er stieß erneut den Atem aus. Konnte oder wollte Cris nicht verstehen, dass das, was dieser so vehement wollte, nicht ging?! Vereinbarung waren getroffen worden, Verträge geschlossen. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde das Ansehen der Familie Schaden nehmen, dann würden sie so viel Geld verlieren...
„Man kann nicht immer mit dem Kopf durch die Wand.“ Denn bei mir Räumt keiner hinter her auf oder verbindet mir den Schädel, weil ich nicht einsehe, das es nicht geht., fügte er in Gedanken dazu.

Crispin Cipriano

Dankbarkeit…
Wie oft hatte er zu hören bekommen, dass er dankbar für das sein sollte, was er besaß? Die Worte seines Vaters, kurz bevor dieser ihn mit der Zustimmung seiner Mutter regelrecht vor die Tür setzte, waren ihm deutlich im Gedächtnis geblieben und das nicht nur, weil es noch nicht allzu lange her war, dass er sie gehört hatte. Sie hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt, wie ätzende Säure, die das letzte positive Gefühl, das er tief in seinem Inneren für die beiden selbst zu diesem Zeitpunkt noch in sich trug, und den letzten Funken Hoffnung, der auf eine Einsicht im Verhalten ihrer Eltern noch vorhanden war, unwiderruflich zerstörte.
Du hast immer alles von uns bekommen, was du brauchtest. Alles, was wir getan haben, war für deine Zukunft und so dankst du es uns?! Du benimmst dich wie ein bockiges und undankbares Kleinkind!
Wie ein bockiges und undankbares Kleinkind…

Mochte sein, dass er sich wenig dankbar für das zeigte, was sie ihm gaben. Ein Dach über dem Kopf und finanzielle Sicherheit war nicht für jeden selbstverständlich, doch etwas, das für alle Kinder und deren Eltern selbstverständlich und nicht an Bedingungen geknüpft sein sollte, war die Liebe, die zwischen ihnen existierte. Für was sollte er also Dankbarkeit empfinden, wenn alles, was sie ihm auf emotionaler Ebene gaben, Kälte und Ablehnung war? Sollten nicht gerade Eltern die sein, die ihre Kinder so nahmen, wie sie waren und sie mit all ihren Ecken und Kanten liebten - unabhängig von der einen oder anderen Ausnahme? Sollte sich ein Kind nicht in aller Regel von den beiden Personen, die es Mom und Dad nannte, in erster Linie geliebt fühlen, anstatt dafür kämpfen zu müssen, nur um am Ende festzustellen, dass selbst das nicht ausreichte?
Dankbarkeit war tatsächlich das Letzte, was Crispin empfand, wenn er an die beiden Menschen dachte, die ihn großgezogen hatten und auch wenn es Cyrian in dem einen oder anderen Punkt doch besser ging, weil es ihm leichter fiel, die geforderten Vorgaben und Erwartungen zu erfüllen, war er der Meinung, dass er genauso wenig dankbar für das sein musste, was sie ihm im Gegenzug dafür antaten. Sie dankten es ihm, indem sie ihn für einen Firmendeal verkauften. Er selbst schien dies nur einfach nicht zu sehen oder er sah es und es war ihm vollkommen egal, weil es ihm wie gewohnt wichtiger war, was die anderen dachten und dass er es ihnen recht machte.
Eine Tatsache, die sein großer Bruder bestätigte, als er erneut versuchte, sich und sein Handeln zu verteidigen und es in seinen Augen nur noch schlimmer machte.
"Unter einer Traumhochzeit stelle ich mir zwei Menschen vor, die sich lieben und die sich aus diesem Grund das Eheversprechen geben. Wenn du dich morgen vor den Altar stellst und auf die Frage, ob die sie in guten wie in schlechten Tagen lieben und ehren wirst, mit ja antwortest, belügst du nicht nur den Pfarrer, sie und die anderen Hochzeitsgäste, sondern in allererster Linie dich selbst! Oder kannst du ihr dieses Versprechen wirklich aus voller Überzeugung geben?! Ich denke nicht!"
Innerlich hoffte er darauf, dass Cyrian endlich einlenkte. Dass er endlich einsah, dass er in Begriff war, den größten Fehler seines Lebens zu begehen, den er irgendwann bereuen würde. Nur wäre es dann vermutlich bereits zu spät, denn er kannte die Kunstfertigkeit des anderen, sich in Gegebenheiten einfach einzufügen - ganz egal, ob ihn diese langsam aber sicher kaputt machten oder nicht. Etwas, das er ebenfalls versucht hatte und niemals wieder tun würde. Dafür waren ihm seine Freiheit und sein eigenes Glück viel zu wichtig, um sein Leben nur nach dem Willen von anderen auszurichten.
"Und selbst wenn es für sie die Traumhochzeit schlechthin sein sollte, wo bleibst du bei der ganzen Sache?! Was ist mit dem, was du willst?! Und damit meine ich nicht, dass du niemanden enttäuschen willst, sondern das, was du für dich selbst willst. Denn gerade weil man nur einmal in seinem Leben heiraten sollte, sollte es doch eine Person sein, die man liebte und nicht irgendeine x-beliebige dahergelaufene und aufgeblasene Barbiepuppe!", führte er weiter aus, spürte weiter, wie sich die Wut in seinem Bauch ansammelte, bei der er immer größere Mühe hatte, sie zurückzuhalten, bevor er etwas äußerst Dummes tat. Daher nahm er mit leiser Hoffnung war, wie Cyrian den Blick abwandte, weil er den Kontakt offenbar nicht weiter aufrechterhalten konnte, und durchatmete. Hoffnung darauf, dass er endlich vernünftig wurde.
Eine Bezeichnung, die die anderen Anwesenden in dem Geschäft für ihn wohl nicht wählen würden. Leise hörte er sie tuscheln, während sich andere verabschiedeten, um entweder später oder aber nie wieder hier aufzutauchen. Beides war ihm egal. Auch, ob sein Bruder womöglich derselben Meinung wie sie war. Dass er überreagierte und sich alles andere als korrekt verhielt, denn alles, was er wollte, war, dass der andere verstand, was er vorhatte zu tun. Was er vorhatte, sich selbst anzutun, obwohl er es ganz einfach verhindern könnte.
Doch die Hoffnung, die er spürte, wurde jäh wieder zerstört. Sie zerplatzte wie eine Seifenblase und hinterließ nichts weiter als Leere in seinem Inneren, als er sah, wie sich Cyrian wieder straffte, als würde er wieder zurück in seine Hülle schlüpfen, in der er wie in Watte gepackt war. Es war das ruhige, beinahe gefühllose Pendant zu seiner Mauer aus Wut und Ablehnung. Beides hatte dieselbe Aufgabe: das, was sich dahinter verbarg, zu schützen. Vor erneuten Verletzungen oder dem Zusammenbrechen unter der harten Realität.
Dass sein Bruder diese Mauer auch zwischen ihnen aufbaute, dass er sich selbst vor ihm in diesen schützenden Kokon zurückzog, war allerdings das Letzte, was er wollte. Aus diesem Grund machte sich auch mit jeder Sekunde, in der sich der andere mehr verschloss, immer mehr Verzweiflung in seinem Inneren breit. Nach außen hin mochte diese nicht zu sehen sein - auch nicht als Cyrian erneut zu ihm sah und seinen Blick suchte - doch sie suchte sich bereits den passenden Weg durch sein Innerstes. Besetzte Ecken, von denen er nicht einmal mehr wusste, bevor sie langsam aber sicher sein Herz erreicht.
Crispin presste die Kiefer zusammen, hatte alle Mühe, sich nicht auf die Unterlippe zu beißen, was viel zu verräterisch wäre und hielt dem Blick seines Bruders stand. Erwiderte ihn mit derselben Standfestigkeit, die dieser in seine Worte legte. Beinahe hätten diese ihn schwanken lassen, doch er weitete lediglich die Augen, da er nicht fassen konnte, was der andere gerade von sich gab.
Vorteile einer arrangierten Ehe...
Alles andere würde sich ergeben…

Wollte er ihn verarschen oder meinte er das wirklich ernst?
"Welche verdammten Vorteile denn?! Die finanzielle Sicherheit?! Die Sicherheit, dass du sonst bereits kurz nach der Hochzeit vielleicht feststellen musst, dass dich die Person, von der du sonst dachtest, dass sie dich liebt, am Ende doch nur wegen des Geldes und des Ansehens geheiratet hat?! Oder welche Vorteile willst du mir hier gerade als ultimativen Beweis verkaufen, dass das morgen kein Fehler sondern das absolut richtige ist?!", platzte es aus ihm heraus, doch er war noch lange nicht fertig. "Willst du ernsthaft darauf bauen, dass sich alles andere mit der Zeit schon ergibt?! Und was wenn sich da nichts ergibt?! Hast du wirklich vor, in vielleicht fünfzig Jahren zur goldenen Hochzeit auf dein Leben zurückzublicken, nur um festzustellen, dass es eben nicht das Richtige war?! Denn dann ist es lange zu spät, um es zu bereuen!"
Mit jedem Wort breiteten sich die widersprüchlichen Gefühle weiter in ihm aus und die Verzweiflung in seinem Herzen traf auf die Wut in seinem Bauch. Vermischte sich zu einem abstrakten und höchst explosiven Konstrukt, das er kaum zurückhalten konnte, weshalb er seine Fingernägel so tief in die Haut bohrte, das er merkte, wie diese unter dem Druck nachgab. Den Schmerz, der daraufhin folgte, hieß er willkommen. Er war um weiten besser, als der, der sich unter der verzweifelten Wut versteckte und nur darauf wartete, über ihn herzufallen.
Er verlor seinen Bruder… Stück für Stück…
Der Gedanke kam so plötzlich, das er sich doch auf die Unterlippe biss, um nichts falsches zu sagen. Er wusste nicht, woher er diese Gewissheit nahm, aber er hatte das Gefühl, dass er ihn endgültig verlor, wenn er am morgigen Tag tatsächlich heiratete. Und das konnte und wollte er nicht zulassen, denn auch wenn es so wirkte, als würde er ihn womöglich nicht brauchen, weil er Freunde hatte, die ihm den Rücken stärkten und ihn auffingen, war die Sache mit Cyrian doch etwas ganz anderes.
Er war sein Bruder. Er kannte ihn besser als jeder andere, wusste um seine Ecken und Kanten. Um die Fehler, die er machte und anders als andere Teile ihrer Familie liebte er ihn dennoch bedingungslos. Wollte ihn nicht ändern und in eine Form pressen, in die er nicht passte. Ganz egal, was auch war, er konnte zu ihm gehen. Cyrian war der einzige, mit dem er offen über alles reden konnte, ohne dafür verurteilt zu werden.
Zumindest früher einmal. Vor der Verlobung und den Hochzeitsvobereitungen. Ein Ereignis, auf das er sich tatsächlich freuen würde, wenn die Umstände andere und die Beweggründe nicht so falsch wären. Doch als Cyrian mit einem Mal meinte, er könnte sich auch einfach für ihn freuen anstatt alles schlecht zu reden, glaubte er für einen Moment, er würde sich verhören oder dass der andere sich gerade einen äußerst miesen Scherz erlaubte. Gleichzeitig rissen ihm die Worte den Boden unter den Füßen weg und er konnte den älteren nur entgeistert anstarren, unfähig die passende Reaktion zu zeigen oder auch nur darüber nachzudenken.
"Ich soll was…?", gab er nach einer gefühlten Ewigkeit von sich, noch immer überrumpelt, was ihm Cyrian mit Sicherheit ansah, denn es passierte selten, dass ihm derart die Worte fehlten.
"Ich soll mich für dich freuen? Sag mal spinnst du?! Hast du mir die letzten Minuten überhaupt richtig zugehört?! Würdest du heiraten, weil du deine Verlobte liebst und sie dich, wäre ich der Letzte, der etwas dagegen sagt, aber ich sehe nicht ein, warum ich mich darüber freuen sollte, dass du dich verkaufen lässt! Wo bleibst du denn bei der ganzen Sache?! Was ist mit deinem Glück?! Ist dir das vollkommen egal, Hauptsache die anderen sind zufrieden?!"
Crispin versuchte, sich ein wenig zu beruhigen, atmete tief durch, doch es half nicht. Er spürte immer mehr, wie die Verzweiflung gewann und als auch nach einigen Augenblicken noch keine Erwiderung kam, sagte er etwas, von dem er nie geglaubt hätte, dass er es einmal über die Lippen bringen würde: "Sollte das aber wirklich dein Wille und deine Meinung sein, habe ich dir nichts mehr zu sagen…"
Cyrian wollte nicht streiten, war die Situation doch schon schwierig genug. Aber nun an die Vernunft, an die Objektivität Crispins zu appellieren, war sicher das Falsche. Wahrscheinlicher war es, das dieser sich nur noch mehr in die Sache hineinsteigerte und alles in einem Streit, vor versammelter Mannschaft ausartete. Nicht auszudenken, was das nach sich ziehen würde.
Besser war es, tief Luft zu holen, sich zu entspannen und es ihm nachzusehen, anstatt nach Ausreden zu forschen, die das Verhalten vielleicht erklären konnten. Denn was nutzte eine Erklärung, wenn er dann noch immer keine Lösung hatte? So aufbrausend Cris oft war, versuchte dieser doch auch nur, ihn vor einem Fehler zu bewahren, der nicht rückgängig zu machen war. Nur musste man manchmal eben Dinge tun, die von einem erwartet wurden, weil sie einem größerem Ganzen dienten, die er vielleicht nicht absehen konnte. Ihr Vater würde keine leichtfertigen Entscheidungen treffen, weil ihm die Laune danach stand. Verstand Cris das denn nicht? Er war ein sehr guter Geschäftsmann und das war er sicher nicht geworden, weil er leichtfertige Entscheidungen traf. Es war sogar sehr wahrscheinlich, das er des öfteren in den sauren Apfel der Entscheidung hatte beißen müssen, obwohl die Wahl zwischen Pest und Cholera stand. Verantwortung zu tragen, war nie leicht. Wenn Cris erwachsen werden würde, wüsste er das.
Cyrian hatte ein schlechtes Gewissen, weil er so von einem kleinen Bruder dachte. Ihn zu verurteilen, war nicht richtig, traute dieser sich doch oft mehr zu, als er es tat. Und doch musste es sein. Entscheidungen waren getroffen worden, Verträge unterschrieben und bis jetzt kam er mit seiner Zukünftigen gut aus. Andere traf es nicht so gut.
Es tut mir leid, dich so zu enttäuschen. Worte, die er vielleicht besser ausgesprochen hätte, die ihm aber nie über die Lippen kommen würden, beinhalteten sie doch ein Eingeständnis, das er selbst nicht wahr haben wollte. Er wollte sie nicht Heiraten, wollte frei sein, doch das ging nicht. Es nun noch auszusprechen würde die Sache schlimmer machen, als sie ohnehin schon war. Es war ja nicht mal der Umstand, das er Cris Recht geben würde, von ihm aus konnte er alles Recht der Welt haben und damit machen, was er wollte, doch in dieser Sache musste er beharren.
Gedankenverloren betrachtete er sein Spiegelbild und bemerkte kaum, wie sehr er versunken war, erst, als Cris erneut zeterte, wie ein kleiner Rohrspatz, den man mit einem Schwall Wasser übergossen hatte, lächelte er. Es erreichte seine Augen nicht und es interessierte ihn in diesem Moment auch nicht, ob man es ihm ansehen konnte. Sein Blick war leer, so, wie er sich innerlich auf fühlte. Wie recht er mit dem hatte, was er sagte, konnte der Jüngere wohl nicht im Ansatz erahnen.
Wie oft hatte er sich nun schon selbst belogen? Wie oft hatte er sich nun schon was in seinem leben vorgemacht? Nicht mal, um es anderen recht zu machen, oder um es leichter zu haben. Viel mehr um selbst nicht wahrhaben zu müssen, wie sein Leben verlief und doch vollkommen unfähig etwas daran zu ändern? Oft hatte er im Bett gelegen, die Gedanken schweifen lassen, wissend, das er sich immer nur nach anderen richtete. Nur, was sollte man tun, wenn man selbst nicht wusste, was man will? War er inzwischen so abgestumpft und folgsam, das er nicht mehr wusste, wer er war?
„Doch, das kann ich.“, sagte er mit fester Stimme und einer Überzeugung, die ihn sowohl selbst überraschte und schockierte. Ihn überlief es fröstelnd. Er glaubte nicht an Gott oder daran, das irgendwer sie alle erretten würde. Auch nicht an den Himmel oder die Hölle und dennoch hatte er irgendwie Skrupel, einen Pfarrer anzulügen, doch was sollte er tun? Es war nun mal so...
Erneut atmete er durch, versuchend, die aufkommende Übelkeit abzuschütteln. Den Moment nutzte er, um auch Cris wieder anzulächeln. Zuversichtlich, aufmunternd, als ob dieser es wäre, der kalte Füße vor dem großen Ereignis bekam.
Cris bewegte sich auf dünnem Eis und zog Cyr einfach mit sich. Letztere tänzelte dabei um die Risse in der feinen, gläsernen Schicht, während Ersterer nach vorn stürmte, als gäbe es keinen Morgen. Bemerkte er er nicht, was hier passierte? Cyr war versucht, ihn und seine Worte zu ignorieren, doch wohin sollte es führen? Es war schwer, de richtigen Worte zu finden, um ihn nicht zu belügen und gleichzeitig nicht zu verraten, was er dabei dachte oder was in ihm vorging. Gern hätte er sich offenbart, doch das konnte er ihm nicht antun. Es würde ihn verletzen, dessen war er sich sicher.
Langsam drehte er sich zu ihm herum, damit er ein wenig Bedenkzeit bekam, doch wollte ihm keine passende Erwiderung einfallen. Viel mehr hatte er das Gefühl, das der Abgrund, der zwischen ihnen herrschte, nur noch breiter wurde. Er sah Cris an. Lächelte und entspannte sich, obwohl Cris wohl kurz davor war, aus der Haut zu fahren. Seltsamer weise durchfuhr ihn ein sanfter Anflug von Stolz, als er ihn so vor sich sah. Wenn einer im leben klar kommen würde, dann Cris.
Ungeachtet dessen Worte, die nach einer Antwort verlangten. „Ich will für mich, das ich sehe, wie du jemand findest, der gut zu dir ist und der dich zum Lächeln bringt.“, sagte er sanft und widerstand dem Drang, zu ihm zu kommen. Ihn zu Umarmen, um dann in dessen Wut unbedacht weggeschoben zu werden, weil es in dieser Situation so unpassend war, würde er jetzt nicht ertragen. So blieb er auf Distanz und schaute zu ihm.
Ehe sich der Moment jedoch vertiefen konnte, wandte er sich wieder ab. Unbedachteheiten waren nun das Letzte, was er wollte.
Durchaus wusste Cyr, was er im begriff war, zu tun. Nur änderte es nichts an den Tatsachen, mit denen er später, wie auch jetzt, umzugehen lernen würde. Wie viele gab es, die vergeblich nach einem Menschen suchten, den sie heiraten konnten? Er bekam es auf dem Tablett serviert... später würde er arbeiten, sie würde wohl daheim hocken, ihre zeit mit shoppen vertreiben... ab und zu würde es Sex geben, damit sie schwanger wurde... im Grunde auch kein anderes Leben, wie all die anderen Menschen auf der Welt. Was spielte da schon Liebe für eine Rolle? Es gab weder eine Garantie, das diese ewig hielt, noch gab es eine darauf, das man sie fand? War ein leben allein, auf der ewigen Suche danach so viel besser? Wohl kaum.
Kurz war er versucht, es Cris so zu entgegnen, doch auf eine Diskussion darüber, hatte er keine Lust. Der Tag solle zu Ende gehen. Er wollte alles hinter sich bringen und erledigt haben, denn desto eher kam er wieder zu Ruhe.
„Absolut richtig, nicht, aber was wäre die Alternative? Eine nie endende Suche nach etwas, das man vielleicht nie bekommen wird?“, sprach er die frage nun doch aus, den Blick hebend, da er grade dabei gewesen war, ein Fussel vom Stoff zu entfernen. Cyr hatte sich nun wieder herum gedreht, sodass ihr Blick sich im reflektierenden spiegel begegnete. „Ein Leben lang allein sein? Ist das besser?“, seine Stimme nahm einen Ton an, das man fast glauben konnte, er würde Cris herausfordern, doch dem war nicht so.
„Ja, es ist ein Vorteil. Finanzielle Sicherheit, man ist nicht allein und man lernt sich zu lieben. Es wird Kindergeben und Vater wird seinen Erben bekommen. Was ist falsch daran? Liebe, vorauf du anspielst, ist vergänglich. Was, wenn du jetzt meinst jemanden zu lieben, es aber in zwei Jahren vergeht, du aber das Versprechen schon gegeben hast? Du wärst in der selben Situation.“ Was nun die bessere Wahl wäre, darüber ließe sich streiten, etwas, das er hier nicht tun wollte, worauf sie beide aber immer mehr zusteuerten.
„Ich habe meine Entscheidung getroffen.“, meinte er nun sanfter, versöhnlicher, aber auch entschiedener, was den Boden jeglicher Diskussion entzog. Sie drehten sich im Kreis und es wurde nicht besser, viel mehr steigerte es die Emotionen, die Cyr versuchte zu beherrschen, damit es nicht ausuferte. „Und ja, darauf werde ich bauen. Im Idealfall verstehen wir uns gut, freunden uns an und haben eine gute Basis, auf der wir miteinander auskommen.“ Dies war besser, als die meisten hoffen konnten, daher war er sich der Entscheidung sicher, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte, eine Frau zu heiraten.
So sehr Cris sich in die Sache hinein zu steigern schien, desto ruhiger schien Cyr zu werden, der mit jedem verstrichenem Moment ein wenig mehr aufgab. Was blieb ihm auch über? An der Situation war nichts zu ändern. Die Alternative wäre, enterbt zu werden, auf der Straße zu landen. Die Musik wäre dann für ihn verloren, wo sollte er dann hin? Sah Cris all die Konsequenzen nicht? Cyr würde mit seiner Entscheidung alles verloren, alles zerstören, was er hatte. Ein Gedanke, den er nicht weiter verfolgen wollte, schnürte dieser ihm doch die Luft ab. Dabei wollte er grade nichts mehr, als die Klamotten von sich zu reißen, zu Cris zu gehen, ihn umarmen und ihn beruhigen. Wie leicht es doch wäre, nun das ganzen geschehen als Geschichte aufzulösen, die er ihm gern erzählte, doch all das war Realität. Eine bittere, erdrückende Realität, aus der man nicht flüchten konnte.
Cyr verschränkte die Hände vor sich und griff sich in die Hand, bohrte die kurzen Nägel in seiner Hand, um sich ein wenig zu beruhigen, ehe er die Hände wieder sinken ließ. Nicht hier... Nicht jetzt... Er fühlte sich verspannt und eingeengt.
„Dich ein wenig freuen.“, wiederholte er schneller, als er wollte. Absurde Worte, die ihm in den Ohren widerhallten und über die er selbst am liebsten den Kopf geschüttelt hätte. Was redete er hier? Gern wäre er sich durchs Gesicht gefahren, um sich zu sammeln. Cris hatte recht, nur... was nutzte es? Es ihm zu zugestehen würde Konsequenzen nach sich ziehen, die nicht abzusehen waren. Nein, es musste passieren, wie es geplant war!
Cyr hob den den Kopf, starrte ihn durch den Spiegel an. Selbst nahm er sich nicht war, als er Cris mit einem emotionslosen Ausdruck in seinen Zügen ansah. Er war sprachlos und spürte, wie der Boden Stück für Stück begann, weg zu bröckeln. Verlor er jetzt auch noch den letzten Halt, den er hatte? Den letzten Menschen, wo er meinte, ein klein wenig aufgehoben zu sein?
Er wollte etwas sagen. Irgendwas, doch er war unfähig auch nur einen Laut zu artikulieren. Wie sehr konnte man sich der Welt entrückt fühlen. Wie leer? Wie eine Puppe stand er da, starrte Cris an, wobei ihm so vieles und gleichzeitig nichts durch den Kopf ging.
„Dein letztes Wort?“, fragte er nach einer schieren Ewigkeit mit einer stimme, die er selbst nie an sich vernommen hatte. Was passierte hier? Wie Sand, der ungehindert durch seine Finger rieselte, musste er zusehen, wie Cris – sein kleiner Bruder – ihm entglitt.

Crispin Cipriano

Noch immer vollkommen sprachlos stand Crispin in dem Geschäft des Schneiders. Vor sich sein Bruder, der in seinem Anzug steckte und vermutlich noch immer nebenbei überlegte, welche Farbe wohl am besten zu ihm, dem Jackett und vor allem aber zu seiner Verlobten passen würde. Das Ganze kam ihm vor wie im Traum. Einem Alptraum, wenn man es genau nahm. Die Situation fühlte sich für ihn abstrakt, unwirklich und absolut falsch an. Er konnte nicht glauben und wollte auch nicht wahrhaben, was hier gerade geschah und immer und immer wieder ließ er sich ihr Gespräch durch den Kopf gehen.
Von der Frage zur Farbe des Hemdes, bei der ihm die Sicherung durchgebrannt war, über die ganze nachfolgende Diskussion und seinem Versuch, Cyrian zur Vernunft zu bringen und ihm aufzuzeigen, welch überaus großen Fehler er vor hatte zu begehen und welche Konsequenzen das für ihn haben würde, was er sich damit selbst antat bis hin zu den letzten Minuten. Zu den Worten seines Bruders, die noch immer nicht ganz in seinem Verstand angekommen waren und bei denen er auch gar nicht wollte, dass sie dies noch schafften, denn andernfalls wäre ihm noch viel mehr bewusst geworden, dass er seinen Bruder mit jeder Sekunde und mit jedem gewechselten Wort mehr verlor. Die Angst davor saß ihm schon jetzt wie ein schwerer Stein im Magen, der es ihm im Moment noch sehr viel schwerer machte, klar zu denken und einen Satz herauszubringen.
Sein Bruder war bereit, selbst den Pfarrer anzulügen. Er würde es tun und das mit absoluter Überzeugung, dass er das Richtige tat.
Er zog eine arrangierte Ehe einer Beziehung, die auf echten Gefühlen aufbaute, vor und hoffte und glaubte, dass sich diese schon ergeben würden. Hauptsache er war nicht sein ganzes Leben lang alleine, obwohl Crispin das nicht einmal glaubte, denn es gab mit Sicherheit genug Leute, die ihn besser zu schätzen wussten, als es Asya jemals tun würde.
Cyrian hatte sogar vor, Kinder mit dieser Plastik-Barbie zu bekommen. Schon bei der Vorstellung, wie sie genau wie ihre Eltern heile Familie spielten, nur um den Schein zu wahren, kam ihm sein Mittagessen wieder hoch.
Und darüber sollte er sich tatsächlich noch freuen. Er sollte sich freuen und guter Dinge sein, während er seinem Bruder, seinem Vorbild als Kind dabei zusah, wie er sein Leben verkaufte und wegwarf.
Crispin kam es vor, als würde er mit einer fremden Person reden. Als würde er den Menschen, der vor ihm stand, absolut nicht mehr kennen. Er wusste, dass Cyrian das Wohl anderer über sein eigenes stellte, dass es ihm wichtig war, was andere über ihn dachten und welchen Eindruck er auf sie machte, denn genau das hatte ihm die Erziehung ihrer Eltern über Jahre hinweg eingeimpft. Dennoch hatte er geglaubt und gehofft, dass dies irgendwo eine Grenze hatte. Ein Punkt, an dem selbst der Ältere einen Strich zog und sich darauf konzentrierte, was für ihn das Beste war und sich auch dafür entschied, ganz unabhängig davon, was andere dazu sagten, denn schließlich war es am Ende immer noch sein Leben. Er hatte gehofft, dass dies an dem Punkt geschehen würde, wenn man versuchte, ihn vorzuschreiben, mit wem er den Rest seines Lebens verbringen sollte, dass er wenigstens dann einsah, dass es nichts brachte, es allen anderen immer recht machen zu wollen, weil man dann nur selbst darunter litt und regelrecht darum bettelte, verletzt zu werden. Doch Crispin hatte sich geirrt…
Erst Cyrians Frage, ob dies wirklich sein letztes Wort war, holte ihn aus seiner Starre und seiner Sprachlosigkeit heraus. Einen Moment lang, in dem er noch verzweifelt hoffte, dass sich diese Situation noch irgendwie anders lösen ließe und der andere noch etwas hinzufügte, versuchen würde, ihn aufhalten, sah er ihn ohne eine Erwiderung an. Als jedoch auch nach einer gefühlten Ewigkeit nichts weiter kam und sich ihre Blicke trafen, presste er die Kiefer aufeinander und schob die Hände in die Tasche seines Hoodies.
"Ja, das war mein letztes Wort. Wenn du wirklich glaubst, dass das, was du da morgen tust, das Richtige ist, dann musst du es tun. Aber glaube nicht, dass ich mir dieses Schauspiel ansehe - weder morgen, noch irgendwann anders. Ich tue mir dieses heile-Welt-Gehabe, was du vorhast, sicherlich nicht eine Minute an. Das hab ich bei unseren Eltern lange genug ertragen."
Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ seinen großen Bruder stehen. Neben seinem Blick spürte er auch die der Angestellten auf sich, doch er beachtete es nicht. Er musste hier raus und das dringend. Ihm wurde das alles viel zu viel und er hatte das Gefühl, ihm würde jeden Augenblick der Boden unter den Füßen wegbrechen. Die Gewissheit, dass er ihn endgültig verloren hatte, legte sich wie eine Stahlklammer um seinen Brustkorb und drückte diesen zusammen, nahm ihm die Luft zum Atmen und ließ jeden Schritt, den er machte, umso schwerer werden. Ein kleiner Teil von ihm bereute, was er soeben gesagt hatte, denn tief in seinem Inneren wusste er, dass er Cyrian nicht hängen lassen würde, wenn dieser zu ihm kam oder er eine Möglichkeit dafür sah, ihm auch ohne dessen Einwilligung zu helfen. Für den Moment war er allerdings viel zu enttäuscht und wütend zugleich, um das alles noch länger zu ertragen.
Aus diesem Grund atmete er beinahe erleichtert durch, als die Tür des Schneiders hinter ihm wieder ins Schloss fiel und er dieses Szenario somit hinter sich gelassen hatte. So einfach wie erhofft, ließ es sich allerdings nicht abschütteln und er zerbrach sich den Kopf darüber, wie er seinen Bruder vielleicht doch noch davor bewahren konnte, diesen Fehler zu machen oder ihn hinterher dort wieder herauszuholen. Dabei gab es einige Möglichkeiten, die er umsetzen könnte, doch eine war in genau diesem Punkt schwieriger und komplizierter und vor allem zeitaufwendiger als die andere, sodass er sie sofort wieder fallen lassen. Oder sie war ethisch gesehen selbst für ihn einfach zu verwerflich, wie die Idee, ihnen beiden einfach eine heimliche Geschwisterbeziehung anzudichten. Es war eine Idee, die ihm aus reiner Verzweiflung in den Kopf kam, aber sofort wieder verworfen wurde.
"Das kann doch alles nicht wahr sein. Lass dir was einfallen, Cris", grummelte er leise vor sich hin und zog damit auch die Blicke von anderen auf sich, die an ihm vorbei liefen.
"Glotz nicht so!", fuhr er einen von ihnen an, der ihn besonders penetrant anstarrte und der sofort die Beine in die Hand nahm. Crispin wollte sich danach bereits wieder abwenden und seinen Weg weiter fortsetzen, als ihm etwas merkwürdiges auffiel, das ihn innehalten ließ. Seine Augen weiteten sich, als er genauer hinsah und erkannte, dass es sich bei dem, was ihn irritiert hatte, um Asya handelte, die in einem Cafe auf der anderen Straßenseite saß - ihr gegenüber ein Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Eine ihrer Hände lagen jeweils an der Seite auf dem Tisch, die Finger miteinander verwoben und das Lächeln auf ihren Lippen wirkte selbst auf die Entfernung tatsächlich echt und nicht so aufgesetzt, wie er es sonst von ihr kannte. Was jedoch der wichtigste Unterschied zu ihrem sonstigen Auftreten war, war der mehr als verliebte Ausdruck in ihrem Gesicht…
Ohne zu zögern oder weiter darüber nachzudenken, fischte Crispin sein Handy aus seiner Hosentasche und schoss einige Fotos von der Szene - darunter eines in genau dem Moment, als sie sich näher zu ihm beugte, um ihn zu küssen. Dies war auch das letzte, das er machen konnte, denn direkt danach standen beide auf und verließen das Cafe. Kurz überlegte er, ihnen zu folgen, doch er verwarf diesen Gedanken, denn die Fotos sollten bereits Beweis genug sein, dass Asya ein falsches Spiel trieb. Um sicher zu gehen, dass man auf den Bildern auch alles gut sehen konnte, wenn er sie Cyrian vor die Nase hielt, navigierte er in seine Galerie und sah sie sich noch einmal genauer an.
Selbst beim Betrachten der Fotos konnte er noch nicht fassen, was sich soeben vor seinen Augen abgespielt hatte. Dass Asya nebenbei etwas laufen hatte und seinen Bruder nach Strich und Faden verarschte, hatte er ihr bereits zugetraut, doch er hätte nie für möglich gehalten, dass sie es so unübersehbar in der Öffentlichkeit tat. Entweder war sie zu dumm, um zu bedenken, dass sie gesehen werden könnte, oder sie war durchtrieben genug, um es in Kauf zu nehmen, da sie einen Plan hatte, wie sie sich herausreden konnte. Was von beiden zutraf, konnte er nicht sagen, denn dafür kannte er sie nicht gut genug. Möglich war beides, aber was es nun war, war für ihn unerheblich. Im Endeffekt spielte es ihm in die Hände und es kribbelte in seinen Fingern, direkt zu dem anderen zurückzugehen und ihm zu zeigen, was er gerade beobachtet hatte.
Crispin war auch bereits drauf und dran, kehrt zu machen, doch dann erinnerte er sich an ihr Gespräch. An die Wut, die Verzweiflung und nicht zuletzt auch an die Enttäuschung aufgrund des Verhaltens seines älteren Bruders, die dieses in ihm ausgelöst hatte. Und schlussendlich auch an seine Worte, die unterschwellig andeuteten, dass er für ihn genauso gestorben war wie ihre Eltern, wenn er die Hochzeit und alles, was danach folgen würde, durchziehen sollte. Ein Stich fuhr ihm durch die Brust und er biss sich auf die Unterlippe. Er bereute, dass er dies gesagt hatte, auch wenn er sich im recht fühlte und Cyrian einfach nicht einsehen wollte, dass er einen Fehler beging. Dennoch wusste er, dass er ihn auf Dauer nicht im Stich lassen würde, wenn er merkte, dass es ihm schlecht ging, denn eines blieb immer bestehen: Sie waren Brüder, wuchsen gemeinsam in demselben goldenen Käfig auf, der ihnen eine Menge abverlangte und der sie doch mehr zusammengeschweißt hatte, als so mancher vielleicht ahnte.
Crispin ballte die Hände zu Fäusten, klammerte sich dabei an sein Handy und haderte mit sich. Doch jetzt zurückzugehen, war dennoch keine gute Idee. Cyrian hatte sich in seinen Panzer zurückgezogen, hatte selbst vor ihm dicht gemacht und auch ein paar Fotos würden in diesem Augenblick wohl nichts an diesem Zustand ändern. Zudem müsste sich sein Bruder immer noch überwinden, die Hochzeit platzen zu lassen, nun hätte eine Nacht, um darüber nachzudenken. Viel besser wäre es, ihn damit zu konfrontieren, wenn er keine Chance hatte, sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, was dieses viel zu eindeutige Bild anderes bedeuten könnte. Er brauchte also einen Plan.
Bei diesem Gedanken blitzte in der Menschenmasse ein grell pinker Haarschopf eines jungen Mannes auf, dessen auch sonstiges Erscheinungsbild darauf schließen ließ, dass er ein Punk war. Für gewöhnlich schenkte er diesen Personen keine allzu große Aufmerksamkeit, doch in diesem Moment brachten ihn die gefärbten Haare auf eine Idee, wie er den nächsten Tag und auch seinen Auftritt dabei für alle Anwesenden auf der Hochzeit unvergesslich machen könnte. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, bevor er sich auf den Weg zum nächsten Friseur machte, der einen Teil seines Plans, der in seinem Kopf Gestalt annahm, umsetzen konnte.
Manchmal war die Verdrängung besser, als der Wahrheit ins Auge zu sehen und zu wissen, das man an dem, was um einen herum passierte, nichts ändern konnte. Selbst wenn er es wüsste, fehlte ihm die Kraft, das Wissen, wo er beginnen sollte oder WIE er es ändern sollte, dazu kam der Stolz und der Unwille, sich anzuvertrauen. Wahrscheinlich würde Cris seine Hand packen, ihn aus dem Laden zerren, sollte er ihm nur einen kleinen Wink geben, doch das konnte er nicht. Der erdrückende Verantwortungsgefühl war einfach zu groß. Es drückte ihn nieder, ließ ihm grade genug, um nicht zu ersticken.
Zwar hatte er gesagt, das eine der Absichten, die ihn antrieb, war, nicht allein sein zu wollen, aber so ganz stimmte es nicht. Zeitgleich war es nicht gelogen. Cris konnte er nicht anlügen. Viel mehr war es ein Grund, von vielen, nur, das der nicht ganz weit oben stand. Wichtiger war es, seinen Eltern den Wunsch zu erfüllen, die Geschäfte und die Absichten, die da hinter standen, nicht zu verderben. Sie wollten doch auch nur das Beste für ihn... oder?
Wie immer nagte der Zweifel an ihm, den er nicht zu bezwingen wusste. Was war richtig? Was war Falsch, was wäre die Alternative? Viel zu viele Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Cris stellte sich das alles immer so leicht vor! Als wäre nichts dabei wenn er nun ging, die Tür hinter sich zu schließen und nur noch für sich allein verantwortlich zu sein! Wahrscheinlich würde er sich dann ins Bett legen und nicht wieder aufstehen, da ihm alles zu sinnlos erschien, schwebte doch die große Frage nach dem WARUM doch stets und ständig über ihm. Wo sollte all das hinführen? Mit welchem Sinn?
Sein Blick wanderte wieder in den Spiegel. Wenn er die Ehe mit Asya einging, hatte er wenigstens einen Hauch von Normalität, wie sie alle anderen auch hatten, auch wenn es sich seiner Vorstellung entzog, sich um Kinder zu kümmern. Bei ihnen kam er sich immer so unbeholfen vor, als würden sie ihm all das, was in ihm vorging, ansehen. Dazu kam der Gedanke, warum er Kinder in die Welt setzen sollte, die für ihn nur einen Hauch von Farbe hatte...
Was blieb ihm, wenn er nicht mehr darum bedacht war, das es anderen gut ging? Da wäre nichts mehr! Dann lieber für andere da sein, sich darum zu sorgen, das es ihnen gut ging und zufrieden darüber sein, das sie sich freuten? Dies war doch ein Zeichen, das er alles richtig gemacht hatte. In dem Falle würde es seiner Frau gut gehen, da er sich um sie kümmern konnte, seinen Eltern, deren Vorstellungen erfüllten und schlussendlich auch ihm, weil es allen gut ging?
Sein Blick wanderte wieder zum spiegel. Cris musste einfach lernen, das es so für alle das Beste ist. Asya wäre gut aufgehoben, würde Kinder bekommen. Ihre Eltern würden das Geschäft abschließen können und Cris würde dann auch irgendwann jemanden finden! So, wie es sein musste. Liebe würde von allein entstehen, wenn sie sich besser kannten, dessen war er überzeugt, zumindest soweit, das es sein Gewissen das Vorhaben zuließ.
Um ihm des zu vermitteln, sah er ihn an, dich schien er seine Meinung nicht zu ändern, was dazu führte, das sich etwas in Cyr verhärtete. Es schien, als würde sich die Mauer, die er eh um sich herum hatte, nur noch zu verdichten, hatte er nun den Letzten, der ein wenig Rückhalt gegeben hatte, verloren. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, doch äußerlich war er ruhig, als Cris ihm den Rücken zudrehte. Dessen Denken war so kindisch, er dachte scheinbar auch, man konnte alles tun, was man wollte, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden! Er war keine zehn mehr! Ihm fehlte der Blick für den ernst des Lebens, aber diesen würde er auch noch finden und dann.... dann...
Was dann? Wäre Cyr nicht mehr da? Der Gedanke ließ eine Leere zurück, von der er nicht wusste, wie er sie füllen oder ignorieren sollte.
Wie war es nur soweit gekommen? Warum verstand Cris nicht einfach!?
Widersprüchliche Gefühle rangen in ihm. Der Wunsch, ihn darum zu bitte, zu bleiben, ebenso sehr, wie ihm hinter her zu brüllen, das er bleiben konnte, wo der Pfeffer wuchs! Irrwitziger weise fragte er sich für den Bruchteil einer Sekunde wirklich, wo dieser wuchs und ob man ihn von Sträuchern oder Bäumen pflückte. Ehe er sich aber wieder besinnen konnte, war die Tür längst ins schloss gefallen. Panik erfasste ihn, es war doch nur eine Sekunde gewesen, in der er abgelenkt war! Wie hatte Cris so schnell verschwinden können?!
Lass dir nichts anmerken!, ermahnte er sich, rang das innerliche Chaos mühsam nieder und setzte ein wohlvertrautes Lächeln auf, obwohl ihm das betretende schweigen der Anwesenden überaus bewusst war. Sehr deutlich sogar.
Leise murmelte er eine Entschuldigung, ehe er darum bat, das man den Anzug fertig stellen sollte. Je eher er hier raus, an die frische Luft kam, umso besser! Das erstickende Gefühl von vermeintlichen Wänden, die sich auf ihn zu schieben und ihn zu ersticken drohten, entsprang seiner Einbildung, das wusste er, doch verhinderte es die Panik nicht, die in ihm aufzusteigen drohte. Wie sollte er das morgen alles durchstehen wenn der wichtigste – der einzige – Halt, den er hatte, nicht da war?!
Seine Brauen hoben sich ein wenig, bildeten eine steile Falte über seiner Nase, als er indessen die Luft anhielt. Ein verzweifelter versuch, Herr über seine Emotionen zu werden. Er durfte sich nun nichts anmerken lassen, denn es gab immer jemand, der das, was passierte, an seine Eltern weiter trug und was ihn dann erwartete, wollte er sich nicht ausmalen. Den Schein zu waren, war wichtiger, als dem nachzugeben, was ihn beschäftigte.
„An der Brust ist es noch ein wenig locker.“, sagte er und versuchte sich in Normalität zu flüchten. Der Alltag bot doch so viel, um sich selbst zu entkommen
„Aber wenn ich das noch enger mache, wird es Sie morgen behindern!“, lächelte die Verkäuferin schüchtern, war sie doch eine der zeugen, die die Szenerie hatten mit verfolgen können. „Ich werde hier eine kleine Änderung vornehmen, dann sitzt er wirklich perfekt.“ Sie wich seinem Blick aus, das bemerkte er, doch er zwang sie nicht, ihn anzusehen, in dem er sie rügte. Nun keinen direkten Blick auf sich zu spüren, beruhigte ihn. Da kam es ihm auch ganz recht, als sie in die Hocke sank und sich um den Saum seiner Hose kümmerte.
Das Gefühl, von dem kleinen Podest zu springen, fluchtartig aus dem laden zu rennen, wurde übermächtig. Die Verkäuferin schien es zu bemerken, doch äußerte sie sich nicht dazu, sondern steckte weiter den Stoff ab. Die Muster hatte sie schon am Vortag erhalten, sodass heute nur noch die Anprobe nötig war, um die passende Länge festzustellen.
„So, das war es!“ Lächeln erhob sie sich. Sie können sich umziehen, den Rest schaffe ich allein. Wie besprochen wird der Kurier das gute Stück heute Abend überbringen!“ Sie strahlte ihn an, wie es die Etikette verlangte und ließ ihn dann zur Umkleide gehen.
Zirrend zog er den Vorhang zu und schälte sich aus dem wertvollen Stoff, als würde es sich um etwas giftiges Handeln, dass ihm die haut versengte. Nur ein kleiner Hüpfer nach rechts verhinderte, dass er dabei fast das Gleichgewicht verlor. Sonst war er alles andere, nur nicht ungeschickt, doch die Situation... machte ihn schlicht weg, fix und fertig. Warum war Cris gegangen? Hatte er nicht einfach mal erwachsen sein können!? Aber vielleicht war es besser so... so unberechenbar, wie er sein konnte, war nicht auszudenken, was er noch getan hätte, um seinen Willen zu bekommen.
Es widerstrebte Cyr, so von ihm zu denken, doch das alles wuchs ihm langsam über den Kopf. Ein einziges mal hätte sich Cris benehmen können! Aber nein...
Den Gedanken abschüttelnd, schlüpfte er in seine Jeans und ließ Hose, Hemd und Jackett, sowie alles, was dazu gehörte, zusammengelegt auf dem Stuhl liegen und verabschiedete sich flüchtig von den Verkäuferinnen. Es war alles geregelt und er konnte endlich nach hause. Ohne nach links und rechts zu sehen, schnappte er sich ein Taxi, ließ sich zur Wohnung bringen. Den ganzen weg über, kam es ihm so vor, als hätte er die Luft angehalten, denn kaum, als die Tür hinter ihm ins schloss fiel, schnappte er wie ein ertrinkender nach Luft. Sein Atem ging sehr schnell, stoßweise und er glaubte, einer Panikattacke zu erliegen, denn er hatte sich, ohne drüber nachzudenken, von innen an die Tür gelehnt, war dann aber daran herunter gerutscht. Unstet wanderte sein Blick durch den Flur, als er wieder halbwegs zu sich kam. Der Blickwinkel war anders, als sonst, stellte er fest und rappelte sich wieder auf, um sich erneut zu entkleiden und im´Bad zu verschwinden.
Heißes Wasser strömte in die Wanne, während er seine Kleidung säuberlich zusammen legte. Das Bad hätte wohl jeden Hummer abgetötet, doch für ihn war es genau richtig. Das er beim Einstieg vor Hitze zusammenzuckte, kam ihm ganz recht. Seine haut färbte sich krebsrot, doch schreckte es ihn nicht ab, als er sich sinken ließ und bis zur Nasenspitze darin versank...

Crispin Cipriano

"Porca puttana!", murrte Crispin leise, während er sich insgeheim fragte, warum er sich das, was er vorhatte, eigentlich antat. Er hasste formelle Kleidung, hatte sie noch nie gemocht und mit den Jahren eine regelrechte Abneigung gegen sie entwickelt. Aus diesem Grund machte er in der Regel inzwischen einen großen Bogen um Hemden, Jacketts und Krawatten. Er mied sie wie der Teufel das Weihwasser, denn während es für andere Leute einfach nur Kleidung für bestimmte Anlässe und Berufsgruppen war, verband er damit den Versuch, ihn in eine Form zu pressen, in die er nicht passte und die er nicht gedrängt werden wollte, weil sie ihm nur die Luft zum Atmen nehmen würde. Wie ein Krawattenknoten, der zu eng gebunden wurde.
Dennoch stand er am heutigen Tag im Unterschlupf seiner Clique vor dem Spiegel und versuchte sich zum gefühlt hundertsten Mal daran, einen anständigen Knoten in den Stoff zu bekommen, der sich bisher erfolgreich geweigert hatte, das zu tun, was er wollte.
"Cazzo!", fluchte er lauter weiter und dachte dabei an seinen großen Bruder, für den er all dies auf sich nahm, da er einfach nicht mit sich reden ließ. Noch immer war ihm schleierhaft, wie er sich zu einer Hochzeit zwingen lassen und sehenden Auges in sein Unglück rennen konnte und dabei auch noch der Meinung war, das absolut Richtige zu tun. "Du bist echt so ein Idiot", murmelte er und schloss dabei die Augen, hoffend, dass dies alles nur ein Alptraum war, aus dem er schnell wieder aufwachte. Dabei wusste Crispin nur zu gut, dass dies nur eine Wunschvorstellung war und somit hoffte er darauf, dass sein Plan aufging und Cyrian zumindest ein Einsehen hatte, wenn er sah, was er kurz nach seinem Abgang aus dem Geschäft zu Gesicht bekommen hatte…
"Man hört dich durch alle Räume", wurde er ins hier und jetzt zurückgeholt, bevor er tiefer in seinen Gedanken darüber versinken konnte, wie dumm oder dreist Asya eigentlich war - ganz gleich, dass es ihm zugute kam, dass er sie dabei erwischt hatte. Er löste seinen Blick von seinem eigenen Spiegelbild und richtete ihn stattdessen durch die spiegelnde Oberfläche zu der anderen Person, die hinter ihn getreten war. Niall lächelte leicht und deutete auf das Kunstwerk an seinem Hals. "Soll ich dir helfen?"
"Das Ding ist einfach widerspenstig."
Dennoch dankbar für die Hilfe, da er allenfalls noch hier stand, wenn das Ja-Wort lange gesprochen und das frisch vermählte Paar vermutlich schon auf dem Weg in die Flitterwochen war, drehte er sich um, damit der Ältere an die Krawatte herankam. Diese Reaktion schien Antwort genug zu sein, um zu wissen, dass er sich helfen lassen würde, sodass Niall näher zu ihm trat und sich sogleich ans Werk machte. Geschickt, als hätte er dies schon unzählige Male getan, band er die Krawatte und nur Sekunden später saß der Knoten so, wie er es für gewöhnlich tun sollte. Crispin drehte sich wieder zum Spiegel, um sich das Endergebnis anzusehen und konnte sein Erstaunen kaum verstecken.
"Woher kannst du das so gut?"
Ein Lächeln, das weit von dem zuvor entfernt war und eher bitter wirkte, war auf Nialls Lippen zu sehen.
"Der Grund liegt lange zurück und ist nicht mehr der Rede wert", redete er sich heraus und er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Er wusste, dass Niall zusammen mit Luan schon eine ganze Weile auf der Straße lebte, auch wenn man es beiden inzwischen nicht mehr ansah. Nur die Gründe dafür hatte er nie erfahren und da er selbst nicht der Typ dafür war, aus dem Nähkästchen zu plaudern, ließ er das Thema auch fallen.
"Ohne dich wäre ich zumindest aufgeschmissen gewesen", beendete er das Ganze und lockerte den Knoten ein wenig, damit er nicht so fest saß.
"Hast du wirklich vor, es durchzuziehen?"
Überrascht weiteten sich Crispins Augen, da er sich denken konnte, worauf er hinaus wollte. Allerdings hatte er dem Älteren nichts davon erzählt und ihm lag bereits die Frage auf der Zunge, woher er es wusste. Bevor er diese jedoch in Worte fassen konnte, dämmerte ihm, woher er es wusste, denn zumindest Luan und Aiden hatte er am Abend zuvor eingeweiht, als er mit den frisch karmesinrot gefärbten Haaren und einem kleinen Einkauf bestehend aus dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte, die er gerade trug, zurückgekommen war. Bei Aiden könnte er sich zwar vorstellen, dass er mit den restlichen beiden Mitgliedern ihrer kleinen Gruppe gesprochen hatte, doch bei Niall war es wahrscheinlicher, dass Luan seine Finger im Spiel hatte, denn auch wenn sein bester Freund auf beiden Augen blind zu sein schien, merkte er sehr wohl, dass zwischen den beiden mehr lief, als nur eine enge Freundschaft. Etwas, dass Crispin absolut nicht störte, bei Aiden aber aufgrund seines familiären Hintergrunds ganz anders aussah und ein Grund dafür war, dass er selbst damit hinter dem Berg hielt, denn auch wenn Cyrian glaubte, dass er irgendwann eine Frau finden würde, war die Wahrscheinlichkeit dafür noch geringer, als ihn freiwillig in Hemd und Krawatte zu sehen.
Was ihn zu seinem eigentlichen Problem zurück brachte…
"Du meinst, meinen Bruder davor zu bewahren, den größten Fehler seines Lebens zu begehen?! Darauf kannst du Gift nehmen!"
"Luan hat mir davon erzählt", begann er seine Erklärung, die beinahe entschuldigend wirkte und seine Vermutung bestätigte. "Er kann sich glücklich schätzen, dass er einen Bruder wie dich hat."
"Ich glaube, nach gestern Nachmittag sieht er das ein wenig anders", erwiderte er und konnte die Gefühle, die diese Aussage und die Erinnerungen, die daran hingen, mit sich brachten, nicht komplett verstecken. Das Gefühl, seinen Bruder endgültig an seine Eltern und deren Bild von dessen Leben verloren zu haben, saß tief und schmerzte jedes Mal aufs Neue, wenn er daran dachte, wie überzeugt der andere war. Verträge sind geschlossen wurden, hingen ihm die Worte des anderen sinngemäß nach und er verzog das Gesicht dabei, denn er verstand nicht, warum ein paar lausige Verträge und der Wille ihrer Eltern schwerer wiegen sollte, als Cyrians Glück und Selbstbestimmung.
"Früher oder später wird er es sehen, glaub mir. Jeder braucht jemanden, der ihn davor bewahrt, zu weit zu gehen - egal bei was."
War er dieser jemand? Konnte er das sein, wenn Cyrian ihn nicht an sich heran ließ und sich selbst vor ihm abschottete?
"Und auch ungeachtet dessen, ob es derjenige selbst will", fügte Niall noch hinzu, als hätte er gerade seine Gedanken gelesen. Das passte schon eher zu dem, was er vorhatte, denn der letzte Tag hatte ihm gezeigt, dass sich Cyrian von ihm nicht helfen lassen wollte. Nicht auf diese Art und Weise. Bei der Auswahl des passenden Hemdes zu seinem Jackett war er eine willkommene Hilfe, aber wenn es darum ging, ihm den Kopf zurechtzurücken, war er alles andere als willkommen und mit Sicherheit eher der kleine lästige Bruder, der keine Ahnung von Verantwortungsbewusstsein hatte. Mochte sein, dass er die Konsequenzen seiner Handlungen vorher nicht durchdachte und sich dadurch nur zu gerne in heikle Situationen beförderte, aber er hatte zumindest gelernt, dass es für ihn und seine mentale Gesundheit um einiges besser war, nicht immer nach der Pfeife anderer zu tanzen sondern selbst zu bestimmen, was man tun und lassen sollte.
In diesem Moment vermisste er seine Großeltern und ganz besonders seinen Großvater. Während ihre Eltern versuchten, ihre Kinder nach ihren Vorstellungen zu formen, konnten sie bei den beiden immer einfach nur Kind sein und sich ausprobieren, was dazu führte, dass sowohl Cyrian als auch er einen Narren an dem alten Mann gefressen hatten, der immer einen passenden Spruch auf Lager und ein offenes Ohr für sie hatte, während ihre Großmutter sie mit der Liebe und Aufmerksamkeit überschüttete, die sie zu Hause nicht bekamen. Als die beiden nach Italien auswanderten, weil es ihren Großvater in seine Heimat zog, hatte das ein tiefes Loch hinterlassen, das durch nichts zu füllen war und gerade in der jetzigen Situation wäre es hilfreich, wenn beide noch immer in den Staaten leben würden. Giovanni Cipriano hätte Cyrian erklären können, was wichtiger und richtiger war: eine arrangierte Ehe oder eine aus Liebe. Immerhin hatte er eine ganze Menge auf sich genommen und sich sogar gegen seine eigenen Eltern gestellt, als er entschied, um seine Liebe zu kämpfen und ihre Großmutter zu heiraten, obwohl sich alle gegen ihn stellten.
Als Kind hatte sich Crispin die Geschichte der beiden gerne angehört und er bewunderte den Älteren noch heute dafür, dass er seinen Weg gegangen war, anstatt sich anderen zu beugen. Etwas, das ihn womöglich geprägt hatte und er wünschte sich, dass es bei seinem älteren Bruder ebenfalls Früchte getragen und ihm gezeigt hätte, dass man mitunter für das, was man selbst will, kämpfen und andere auch mal enttäuschen musste, aber davon war dieser leider weit entfernt.
Der Gedanke brachte ihn dazu, sein Handy aus der Hosentasche zu kramen, um nach einer Uhrzeit zu sehen. Noch eine Stunde bis die Trauung begann… Die würde er auch brauchen, um rechtzeitig da zu sein und die Hochzeit zu sprengen und in Rauch aufgehen zu lassen, bevor Cyrian der falschen Plastik-Barbie das Ja-Wort geben konnte. Daher zögerte er auch nicht länger, ließ nur noch einen kurzen Blick über sein Erscheinungsbild gleiten, was so falsch in seinen Augen wirkte, wenn er das Hemd und die Krawatte betrachtete, was auch die zerrissene Jeans nicht besserte, aber für den heutigen Tag war es genau wie die karmesinroten Haare, die er sich unter anderen Umständen wohl nie so gefärbt hätte, einfach nötig, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Nachdem er mehr oder weniger akzeptiert hatte, dass es keine andere Lösung oder besser gesagt keine Zeit mehr für eine Alternative gab, wandte er sich um und bemerkte erst in diesem Moment, dass Niall ihn bereits wieder alleine gelassen hatte. Wann dieser gegangen war, wusste er nicht, aber er nahm es ihm auch nicht übel, denn immerhin war alles gesagt worden und die Worte des anderen hatten ihn nur noch in seinem Vorhaben bestärkt. Somit schnappte er sich die Motorradschlüssel, die in einer kleinen Schale, die neben einem Stapel Zeitschriften auf einem Sideboard stand, lagen und verließ den Unterschlupf. Dass er keinen Führerschein hatte und das Bike eigentlich Aiden gehörte, der es von seinem spendablen Vater als Geschenk bekam, in der Hoffnung, dass sie sich auf diese Weise wieder annäherten, ignorierte er geflissentlich. Sein bester Freund würde es ihm nicht dauerhaft übel nehmen, denn ihm fehlte die Zeit, um mit der U-Bahn oder dem Taxi zu fahren und nur weil er bislang keine Fahrschule besucht hatte, hieß das nicht, dass er nicht wusste, wie man so eine Maschine handhaben musste.

In Rekordzeit schaffte er es bis in die Außenbezirke von Phoenix, raus aus der Stadt und am Ende in die Gegend, in dem sich das Schloss befand, das seine Eltern für die Trauung ausgesucht hatten. Das Grundstück des alten aber gut erhaltenen und restaurierten Gebäudes war gepflegt, als würde es dem 17. Jahrhundert entspringen und noch immer ein König darin residieren, was absoluter Blödsinn war, denn die Staaten besaßen niemals einen Monarchen, wie es in Europa und anderen Teilen der Welt üblich war. Dennoch erweckte es diesen Anschein, während Crispin den Kiesweg entlangfuhr und direkt vor dem Eingang hielt. Unzählige andere Fahrzeuge - Luxuskarossen in seinen Augen - parkten bereits vor dem Gebäude auf einem kleinen als Parkplatz gekennzeichneten Bereich. Er selbst machte sich nicht die Mühe, sich dort noch eine Lücke für das Motorrad zu suchen, sondern stellte es einfach direkt neben der großen Treppe ab, die zum Eingang hinauf führte. Anschließend stieg er ab und lief, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, zur Tür, wo bereits ein Angestellter wartete. Der Frack, den er trug, erinnerte Crispin an einen Pinguin und er schien genauso pflichtbewusst zu sein, wie man es von einem Butler erwartete.
"Entschuldigen Sie bitte, aber die Veranstaltung ist nicht öffentlich zugänglich sondern privat. Meinen Informationen zufolge sind zudem alle Gäste bereits anwesend. Ich kann Sie also leider nicht hinein lassen."
Crispin musterte ihn einen Augenblick und bemerkte dabei den abschätzigen und zum Teil angewiderten Ausdruck in den Augen des anderen, als dieser es ihm gleich tat. Eine Reaktion, die er bereits erwartet hatte.
"Ich gehöre zur Familie des Bräutigams. Ich hab also ein Recht darauf, an dieser Feier ebenfalls teilzunehmen", schnaubte er, als der andere keine Anstalten machte, ihn durchzulassen. Erneut glitt der Blick des Butlers über ihn, blieb an seinen Haaren und seiner zerfetzten Jeans einen Moment zu lange hängen, bevor er ihm wieder ins Gesicht sah.
"Ihr Auftreten ist alles andere als angemessen für den Anlass. Es tut mir also leid, Sie enttäuschen zu müssen."
Crispin zog die Augenbrauen zusammen und ballte unbewusst die Hände zu Fäusten, kurz davor dem Mann vor sich zu zeigen, was er davon hielt, dass dieser ihn nicht hinein ließ. Er hatte kein Problem damit, sich mit ihm anzulegen, auch wenn es nicht sein Plan war, auf diese Art und Weise Aufmerksamkeit zu erregen, doch am Ende war es ihm egal, wie er Cyrian davon abhielt, Asya zu heiraten. Die Hauptsache war, dass er es nicht tat - unabhängig davon, welche Konsequenzen das womöglich auch für ihn selbst hatte.
So weit, dass er seine Hand erhob, um sich weniger freundlich Zugang zu verschaffen oder dies zumindest zu versuchen, kam er allerdings nicht, denn eine ihm bekannte Person öffnete die Tür und stockte, als sie ihn sah. Selbst aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Élody einige Sekunden brauchte, um sich zu fangen und den Anblick, den er bot, zu verarbeiten. Nachdem sie es aber geschafft hatte, sich wieder zu fangen, erschien ein Lächeln auf ihren Lippen.
"Crispin? Da bist du ja endlich. Ich habe schon auf dich gewartet. Die Trauung beginnt gleich."
Dem Gesicht des Pinguins war deutlich anzusehen, dass er damit nicht gerechnet hatte, und auch er selbst war für einen Moment perplex. Er wusste, dass die junge Frau eine kleine Ausnahme in der sonst so oberflächlichen Oberschicht darstellte, sodass sie eine der wenigen war, die er nicht von Anfang an unsympathisch fand und doch überrumpelte sie auch ihn mit ihren Worten. Schneller als der Angestellte fing er sich wieder.
"Es hat leider alles ein wenig länger gedauert", erwiderte er und ging mit einem Grinsen in Richtung des Butlers an diesem vorbei, der nun keine Anstalten mehr machte, ihn aufzuhalten.
"Wie weit sind sie?", fragte er, kaum dass die Tür hinter ihnen geschlossen war und während sie gemeinsam zu dem Saal eilten, in dem die Trauung stattfinden sollte.
"Der Pfarrer hielt gerade seine lange Rede, aber die dürfte gleich vorbei sein. Du musst dich also beeilen, wenn du Cyrian aufhalten willst. Und ich hoffe, du hast einen guten Plan auf Lager."
Von der Seite warf Crispin ihr einen kurzen Blick zu. Élody wusste, wie wenig er von der Verbindung hielt, die seine Eltern am heutigen Tag schaffen wollten, denn ihr ging es in dem Punkt nicht anders. Nur durch Zufall hatte er bei einem der Abendessen, die ihre beiden Familien ab und an veranstalteten, mitbekommen, dass sie heimlich eine Beziehung mit einer Frau führte. Beinahe verzweifelt hatte sie ihn angefleht, niemandem etwas davon zu sagen, doch das hätte sie nicht einmal tun müssen. Seiner Meinung nach sollte sie tun, was sie tun wollte. Zudem öffnete ihm dieser Abend die Augen, was seine eigene sexuelle Orientierung betraf. Somit war er ihr insgeheim etwas schuldig und dankbar, auch wenn er ihr das so nie gesagt hatte.
Jetzt war allerdings auch nicht der richtige Augenblick dafür, denn sie erreichten die Tür zum Saal. Kurz lag ihre Hand auf seinem Oberarm, um ihm zu zeigen, dass sie in gewisser Weise hinter ihm stand. Er selbst reagierte nicht darauf, sondern öffnete die schwere Holztür.
"Und nun zu Ihnen. Wollen Sie, Cyrian, die hier anwesende Asya in guten wie in schweren Zeiten lieben und ehren, bis dass der Tod sie scheidet?"
"Nein, will er nicht!", fuhr er seinem Bruder dazwischen, bevor dieser auf die Idee kommen konnte, genau wie Asya zuvor tatsächlich ja zu sagen.
Augenblicklich drehten sich die Köpfe aller Anwesenden zu ihm und ein überraschtes wie auch empörtes Raunen ging durch die Reihen der Hochzeitsgäste. Leises Getuschel war zu hören, als sich die ersten wieder gefangen hatten, aber Crispin spürte dennoch die Blicke aller auf sich: erschrocken, abweisend. Sie sahen auf ihn hinab und das nicht nur wegen seines optischen Auftretens. In anderen Momenten hätte er sich wohl darüber aufgeregt, aber am heutigen Tag hatte er genau das beabsichtigt und so lief er den Gang entlang, den zuvor wohl die Braut entlang gelaufen war, ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen. Seine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Brautpaar oder viel mehr auf seinem großen Bruder, der akkurat herausgeputzt vor dem Altar stand und nach außen hin bereit war, sein ganzes Leben wegzuwerfen. Nur ihm entgingen die kleinen Anzeichen von Nervosität und dem Wunsch, einfach wegzulaufen, nicht, denn auch wenn er es am Tag zuvor geschafft hatte, sich einzuigeln, war ihm dies nun nicht mehr möglich.
Bevor er jedoch bei ihm ankommen konnte, stellte sich ihm sein Vater in den Weg. Sein Gesicht war leicht rot vor Wut und er hatte offensichtlich alle Mühe, sich zusammenzureißen und die Fassade zu wahren, doch Crispin war sicher, dass er das nicht lange aushalten würde, sobald er richtig angefangen und Cyrian davon überzeugt hatte, die Hochzeit platzen zu lassen.
"Was fällt dir ein, hier aufzutauchen und zu versuchen, alles zu ruinieren? Weißt du überhaupt, wie überaus wichtig dieser Tag für deinen Bruder ist?"
"Du meinst wohl eher wichtig für euer Geschäft. Aber ich lasse nicht zu, dass ihr Cyrs Leben dafür zerstört!"
Entschlossen schob er sich an Nevio vorbei oder versuchte es zumindest, denn die Hand seines Vaters schloss sich um seinen Oberarm und hielt ihn davon ab. Ein leises Knurren entfuhr ihm dabei.
"Lass mich gefälligst los!"
"So redest du nicht mit mir, junger Mann. Du hast keine Ahnung von der Welt der Erwachsenen und was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Du benimmst dich wie ein Kleinkind, das sich auf den Boden wirft und schreit, um seinen Willen durchzusetzen. Das mag dir bei deinem eigenen Leben gelungen sein, aber dein Bruder hat etwas besseres verdient."
Crispin brauchte einen Moment, um die Worte des anderen sacken zu lassen und sie zu verarbeiten, weshalb er sich nicht mehr gegen den Griff an seinem Arm wehrte. Als er sich wieder gefangen hatte, riss er sich jedoch los und spuckte seinem Vater seine nächsten Worte regelrecht vor die Füße.
"Ja, er hat etwas besseres verdient! Jemanden an seiner Seite, der ihn aufrichtig liebt und ihn als Person zu schätzen weiß, und nicht diese falsche und verlogene Plastik-Barbie, die hinter seinem Rücken noch mit jemand anderem etwas laufen hat!"

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Porca puttana! - Verdammte Scheiße!
Cazzo! - Mist! Scheiße!