Wind Beyond Shadows

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Crispin Cipriano

Erinnerungen waren etwas skurriles und nicht greifbares.
Menschen vergaßen mit der Zeit vieles, weil das Gehirn es nicht für wichtig erachtete oder die Ereignisse zu lange zurücklagen, sodass sie mit der Zeit immer mehr verblassten. Und es gab ihn: Einen Engel, der sich an nichts mehr aus seinem menschlichen Leben erinnern sollte, da ihm diese genommen wurden, und dem sein Gedächtnis doch immer wieder einen Streich spielte.
Seit seinem ersten Aufenthalt in New York hatte Crispin bei jedem weiteren das Gefühl, dass er die Stadt kannte. Dass sie seine Heimat war und er mehr oder weniger dorthin gehörte. Zumindest mehr als in den Himmel, wo er sich durch die vielen Regeln und Vorschriften, die ihm gemacht wurden, eingeengt fühlte. So auch heute, als er nach einem geglückten Auftrag noch länger auf der Erde blieb, als ihm eigentlich gestattet war, und durch die Straßen der Stadt lief. An vielen Ecken, an denen er dabei vorbeikam, hatte er eine Art Deja Vu Gefühl, das er nicht fassen oder erklären konnte. So schnell, wie es kam, war es auch schon wieder verschwunden, sodass er kaum eine Chance hatte, es näher zu beleuchten.
Sein Kopf arbeitete dennoch auf Hochtouren, nahm die vielen Eindrücke in sich auf, die ihn fast zu überfordern schienen. Dabei merkte er gar nicht, wo genau er entlanglief und blieb wie von einer fremden Macht gesteuert vor einem Gebäude stehen, dass seine besten Tage bereits hinter sich hatte. Über dem Eingang prangte der Begriff Studio musicale und obwohl er keine Erinnerung daran hatte, italienisch zu beherrschen, wusste er sofort, dass es sich um diese Sprache handelte. Das allein war jedoch nicht das einzige, was ihn innehalten ließ und ihn beinahe dazu drängte, hineinzugehen und sich dort weiter umzuschauen. Es war viel mehr das Gefühl, dass er diesen Ort besser kannte, als andere, an denen er am heutigen Tag bereits vorbeikam.
Da ihm Hope und auch andere Engel bislang keine vernünftige Erklärung dafür hatten liefern können, warum es ausgerechnet bei ihm der Fall war, dass diese Empfindungen durchsickerten, obwohl sie bei keinem anderen vorkamen und auch bei ihm nicht existieren sollten, betrat er ohne zu zögern das Gebäude. Im Inneren war es staubig und nicht weniger kalt als draußen - was kein Wunder war, da die Fenster eingeschlagen waren und die Tür aus den Angeln gerissen neben dem Eingang lag. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, all dies zumindest mit Holz unzugänglich zu machen, was dazu führte, dass die Wände mit den unterschiedlichsten Graffiti beschmiert waren.
Crispin ließ seinen Blick über all dies gleiten, die Eindrücke auf sich wirken, die bereits nach kürzester Zeit wie eine schwere Last auf seinen Brustkorb drückten und ihm das Atmen schwer machten. Der Staub, der durch das Licht der Straßenlaternen vor ihm durch die Luft tanzte, machte diesen Zustand nicht besser, eher im Gegenteil. Umzudrehen und den Schwanz einzuziehen, kam für ihn allerdings nicht in Frage. Viel zu sehr lasteten die Frage und die Neugier auf ihm, warum ausgerechnet bei ihm die Erinnerungen an sein früheres Leben an seinem Bewusstsein kratzten und warum er überhaupt dieser Stadt zugeordnet wurde, in der er allem Anschein nach gelebt hatte.
All diese Gedanken und Fragen verblassten, als er ein klägliches Mautzen hörte. Sofort spitzte er die Ohren und sah sich genauer um, um die Richtung des Geräuschs orten zu können. Ein weiteres Mal erklang der Laut und er sah zu der Treppe, die ein Stockwerk höher führte und an deren Ende eine Tür angelehnt war. Sofort setzte er sich in Bewegung, nahm immer zwei Stufen gleichzeitig, denn der Ton der Katze zerriss ihm aus irgendeinem Grund beinahe das Herz. Oben angekommen öffnete er die Tür und betrat einen großen offenen Raum, der allerdings nur spärlich ausgestattet war. Es befand sich lediglich ein großer abgedeckter Flügel, ein schmaler Spind und ein abgewetztes Sofa darin. Auf letzterem lag die Samtpfote, die er gehört hatte und ihr Anblick schnürte ihm mehr das Herz zusammen, als er geglaubt hätte.
Schon aus der Entfernung sah er, dass sie sich in einem miserablen Zustand befand. Ihr schwarz-weißes Fell war verdreckt und am Rücken und Schwanz verklebt, wie er feststellte, als er näher ging. Das Gesicht sah ebenfalls schlimm aus. Tränende Augen und eine blutige Nase zierten es. Die Geräusche, die sie beim Atmen machte, klangen, als wäre letzteres verstopft und sie bekäme nur schlecht Luft.
Crispin presste die Lippen zusammen, denn die Katze weckte dasselbe Gefühl des Erkennens wie der gesamte Ort und obwohl er damit rechnete, dass sie vor ihm weglief, hob sie den Kopf und begann leise zu schnurren, als sie ihn sah. Mühsam stellte sie sich auf die Pfoten und stupste ihn sogar mit dem Kopf an, als er nah genug war, um ihr seine Hand hinzuhalten. Beinahe instinktiv wusste er, was er tun musste und setzte sich neben sie auf die Polster, wodurch sie ihn ein weiteres Mal überraschte, indem sie einfach auf seinen Schoß kletterte und sich dort zusammenrollte. Leise schnurrte sie vor sich hin, ohne dass er sie überhaupt berührte, was er jedoch nach kurzem Zögern dennoch tat. Das Fell fühlte sich hart an, wenn er nicht gerade die Seiten oder den Kopf berührte, was ihn aber nicht davon abhielt, weiter zu machen, da es ihr offensichtlich zu gefallen schien.
Warum sie keine Angst vor ihm hatte und sich stattdessen in seine Hände begab, konnte er nicht mit Gewissheit sagen, doch er glaubte, dass sie ihn kannte. Zumindest sein menschliches Ich, das er äußerlich Dank des Homunkulus, den er für seine Aufträge nutzte, noch immer zur Schau trug und sie ihn wohl erkennen ließ. Ob er damit wirklich richtig lag, wusste er nicht, doch es löste ein schönes und zugleich bedrückendes Gefühl in seinem Inneren aus, als er spürte, wie ihr Atem langsam flacher wurde und auch das Schnurren immer mehr nachließ, bis beides komplett verstummte. Kurz darauf sah er wie bei Menschen, wie sich die Seele vom Körper löste und vor ihm noch einmal Gestalt annahm. Sie mautzte erneut, dieses Mal jedoch kräftiger, als wollte sie sich verabschieden und sich bedanken, bevor sie verschwand.
"Arrivederci gattino", murmelte er leise ohne auf die Sprache zu achten und schloss die Augen, während sich ein Kloß in seinem Hals bildete, den er genauso wenig konkret erklären konnte, wie alles andere, was in den letzten Minuten geschehen war. Nie im Leben hatte er damit gerechnet, dass sich ein Tier in seine Obhut begab, um für immer einzuschlafen. Nicht zuletzt, weil Katzen eher dazu neigten, sich zu verkriechen, wenn sie merkten, dass der Moment näher rückte.
Lange hielten die Ruhe und das Innehalten jedoch nicht an, als er Schritte auf der Treppe hörte, die sich näherten. Anhand der Aura spürte er, dass es Hope war, weshalb er die Augen erst öffnete, als dieser nicht mehr weit von ihm entfernt stand. Der andere Engel weitete selbst die Augen, als er die Situation erfasste, bekam seine Gesichtszüge aber schnell wieder unter Kontrolle.
"Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe-", begann er, aber Crispin ließ ihn gar nicht erst ausreden.
"Und wieso? Willst du mir sagen, dass ich eigentlich nicht mehr hier sein dürfte? Wenn ja, kannst du das stecken lassen! Ich weiß es bereits und es ist mir vollkommen egal! Soll mich der Rat doch dafür bestrafen!"
Hopes Blick huschte zu dem kleinen Fellknäuel auf Crispins Beinen und ein schwaches aber trauriges Lächeln huschte über seine Lippen.
"Nein, dafür bin ich nicht hier. Ich wollte dir deinen neuen Auftrag mitteilen und dir die nötigen Daten überbringen, da du nicht zurückkamst."
Noch immer misstrauisch und skeptisch beobachtete er den anderen, wie dieser einen Zettel hervor holte, auf dem die Koordinaten und der Todeszeitpunkt seines neuen Ziels standen. Er nahm ihn entgegen und stopfte ihn umständlich in seine Hosentasche, ohne ihn auch nur anzusehen.
"Ich nehme mal an, dass es noch Zeit hat, bis ich los gehe."
"Leider nein. Der Auftrag kam sehr plötzlich herein. Soll ich ihr die letzte Ehre erweisen oder möchtest du das hinterher tun?"
Mit dem Kopf deutete Hope auf die Katze, schaute ihn und sie jedoch weicher als zuvor an. Crispin sah ebenfalls zu ihr, presste wieder die Lippen zusammen, um nicht darauf zu beißen, obwohl er nicht überlegen musste, was er tun wollte.
"Das mache ich später selbst", gab er beinahe trotzig von sich, hob den noch immer warmen Körper an und bettete ihn vorsichtig neben sich auf das Sofa. Anschließend stand er auf, zog seine Lederjacke aus, die er über sie legte, heftete seinen Blick noch einmal auf sie, auch wenn der Anblick ihm das Herz schwer machte, und machte sich hinterher auf den Weg zu seinem Einsatzort.

Nick Travelo

Jahrzehnte waren vergangen, seitdem er das letzte Mal in diesem Haus gewesen war. Jahrzehnte, nachdem er all das, was er einmal gewesen war, hinter sich gelassen hatte. Jahrzehnte, die auch ihre Spuren am Haus hinterlassen hatten. Einst war es das prächtigste Haus der Strasse gewesen und die Rosenbüsche seiner Mutter hatten zahlreiche Besucher angelockt, die immer wieder wissen wollte, was wohl das Geheimnis seiner Mutter war. Wo einst eine vom Kristalllüster erleuchtete Eingangshalle gewesen war, die alles in ein warmes und einladendes Licht getaucht hatte, war nun nur noch eine staubige Halle zu sehen. Zahlreiche Graffitis zierten die Wände, während im Baumnussparkett, dem ganzen Stolz seines Vaters, riesige Löcher prangten, teils weil das Holz einfach achtlos heraus gerissen worden war, teils zeugten schwarze Rußstellen von der Vergangenheit. Doch für die ganze Zerstörung hatte Nick keinen Blick, wusste er doch selbst heute noch, wo jeder kleine Tisch gestanden hatte, roch den würzigen Geruch der Zigarren seines Vaters, die sich mit dem Rosenduft aus dem Garten zur einem einmaligen Geruchserlebnis mischten. Wenn er die Augen schloss konnte er sogar das leise Getuschel aus dem Salon hören, wo seine Mutter jeden Nachmittag immer zum Tee geladen hatte, hörte das affektierte Kichern der Damen aus gutem Hause, wenn eine der Damen mal wieder eine anrüchige Geschichte zum besten gab, oder gar den neusten Klatsch und Tratsch des Tages weiter verbreitete.
Zahlreiche Erinnerungen verband er mit dem Haus seiner Kindheit, welches er verlassen hatte, nachdem sein Vater und seine Mutter am gleichen Tag den Tod fanden.
Mit einem fast schon beklemmenden Gefühl in der Brust, welches ihm die Luft abschnüren würde, sofern er sie denn noch zum atmen brauchen würde, ging er zur Treppe und stoppte kurz vor der ersten Treppe. Hatten die Zeit und die Randale die Vergangenheit hinfort geweht und doch wusste er noch all zu gut, wie seine Mutter hier gelegen hatte. Die Augen vor Kummer starr aufgerissen, während ihr Körper noch verkrümmt auf den Stufen der Treppe gelegen hatte. Schmerzvoll zog sich sein Herz zusammen, als er an die herzliche und liebevolle Frau erinnerte, die ihm keinen Wunsch hatte abschlagen können und doch hatte sie ihn allein gelassen, war ihrem Mann in den Tod gefolgt, nur um der Schmach zu entgehen, welche der grosse Börsenkrieg damals ausgelöst hatte. Vollkommen mittellos und innerhalb von Stunden zur Vollwaise geworden, hatte er sich seinen eigenen Weg suchen müssen, welcher mehr schlecht, als nur Recht von statten gegangen war und schlussendlich damit endete, das er noch immer auf der Welt verweilte, wenn auch nicht mehr als Mensch, sondern als Geschöpf der Nacht.
Doch nach allem was passiert war, nach all den Erinnerungen, denen er heute noch nach hing, war er nie wieder in sein Elternhaus zurück gekehrt, bis zum heutigen Tage. Hatte ihn doch die Mitteilung erreicht, das die ganze Strasse dem Erdboden gleich gemacht werden sollte und die Häuser neuen, moderneren Häusern weichen sollten, welche dutzenden von Anwohnern Platz boten. Wie Ratten in einem Käfig gleich, sollten hier Betonklötze entstehen, um möglichst viel Profit heraus zu schlagen und die Masse von Menschen zu beherbergen, welche sich zügellos vermehrte und die Strassen verstopften, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was sie damit anstellten. War ihre Profitgier doch legendär und alles was im Weg stand, oder nicht ihren Ansprüchen genügte, musste weichen. Das die Häuser hier einst der höheren Gesellschaft angehörten und beliebt gewesen war, war dabei vollkommen irrelevant. Alles musste neu sein, alles auf dem neusten Stand der Technik.
So war er trotz all der Bedenken doch zurück gekehrt, um auf seine Art und Weise Abschied zu nehmen. Wollte er noch ein letztes Mal durch die Gänge seiner Kindheit streifen, noch ein letztes Mal durch den Dachboden laufen. Noch ein letztes Mal im Wintergarten sitzen und seinen Blick hinaus auf den Garten streifen lassen, eh dieses Kapitel seines Lebens für immer verschwinden und zur Erinnerungen wurden, die nur noch er in seinem Herzen mit sich trug. Erst als die Sonne schon zu dämmern begann, verzog er sich hinunter in den Keller, um den todbringenden Strahlen zu entgehen. Versteckt in den verwinkelten Gängen, in einer kleinen Kammer, döste er leicht vor sich hin, während die Bilder seiner Kindheit wie ein Film vor seinen Augen abliefen und das Haus zu neuem Leben erweckten. Doch Ruhe fand er nicht wirklich, denn plötzlich hörte er das leise Knacksen von Dielen über ihn, gepaart mit einem ruhigen Bumm..bumm.bummm eines Herzens, welches ihm verriet, das ein Mensch sich hier hin verirrt hatte. Dennoch blieb er ruhig in seinem Versteck und lauschte dem leisen Geflüster des Menschens, der scheinbar nicht allein war. Erst als er sich genauer konzentrierte, hörte er ganz leise ein weiteres Herz schlagen, welches jedoch einen vollkommen anderen Rhythmus hatte. Unregelmäßig schlug es in dem Lebewesen, eh es schliesslich für immer verstummte. Doch noch immer regte er sich nicht. Einerseits, weil die todbringenden Strahlen noch immer das Haus regierten, andererseits, weil sich wenige Augenblicke danach eine weitere Gestalt oben herum trieb und auf die erste einredete. Scheinbar waren die beiden Geschäftspartner, doch so schnell wie der Zweite kam, so schnell ging er auch wieder und mit ihm das Schlagen des menschlichen Herzens.
Ruhig wartete er ab, bis ein leichtes Kribbeln im Nacken ihm verriet, das die Sonne endlich unterging und er sein Versteck gefahrlos verlassen konnte. Neugierig ging er nach oben, sich vollauf bewusst, das er alleine war und ging hinüber in den Salon seiner Mutter. Schon von weitem sah er die schwarze Lederjacke, welche hier vorher nicht gelegen hatte. Minimal hoben sich die Augenbrauen, als er unter die Jacke linste und den toten Körper der Katze entdeckte, welche sicher vor den Blicken und der Sonne verborgen worden war. "Armes kleines Ding" murmelte er leise vor sich hin, während sich seine Stirn nachdenklich kräuselte. Natürlich könnte er sie hier liegen lassen, denn wen würde es schon gross kümmern. Gleichzeitig konnte er es jedoch nicht einfach übers Herz bringen. Erinnerte das einsame, geschwundene Wesen ihn indirekt an all seine Freunde und Kollegen, welche er nach dem Massaker auf den Zirkus hatte begraben müssen, da sich sonst niemand um sie geschert hatte. Hatte nicht auch ein Tier eine Seele ?
Sollte nicht auch ihr wenigstens ein wenig Respekt entgegen gebracht werden ???
Behutsam hob er den kleinen geschundenen Körper auf seine Arme, während er überlegte, welcher Platz wohl der richtige wäre, nur um im nächsten Moment zu erstarren, als er Schritte hörte, welche sich dem Haus näherten.