Wind Beyond Shadows

Normale Version: Unexpected reunion (storyrelevant)
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Crispin Cipriano

Mit tief in den Jackentaschen vergrabenen Händen kam Aiden nach einer gefühlten Ewigkeit in dem Gebäude an, in dem sich der Treffpunkt seiner Clique befand, was gleichzeitig auch eine Art Zuhause für sie alle war. Von außen wirkte es baufällig und wirklich wenig einladend, doch das kümmerte sie alle nicht, denn das Wichtigste war, dass es innen gemütlich war - und das war es. Genug Zeit hatte es sie immerhin gekostet, alles so herzurichten, wie es jetzt war. Im Moment hatte er dafür allerdings keinen Blick und dabei waren diese vier Wände für ihn gerade noch viel mehr ein Zufluchtsort, als er es jemals zuvor war. Er war blass um die Nase und fühlte sich alles andere als gut. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die Begegnung, die er eben hatte und bei der sich ein Teil von ihm dachte, dass er mit Sicherheit halluziniert hatte. So abgelenkt, wie er war, bemerkte er auch gar nicht, dass er nicht alleine war. Mylo - sein Freund - saß mit einem Manga in der Hand auf einem der alten, aber immer noch äußerst bequemen Sessel und schaute auf, als er den Raum betrat.
“Aiden? Alles klar bei dir?”
Der Angesprochene zuckte heftig zusammen und sein Blick wanderte sofort zu dem Braunhaarigen, der die Augenbrauen zusammenzog. Ein Hauch Sorge trübte seine braunen Augen und er legte das Buch auf den kleinen Beistelltisch, der neben ihm stand. Ein Lesezeichen zwischen die Seiten zu stecken, vergaß er dabei komplett, aber das war ihm gerade auch herzlich egal, denn Aiden sah aus, als wäre er einem Geist begegnet. Normalerweise erschreckte den anderen nichts so leicht. Dafür hatten sie schon zu viel gesehen. Dass er nun völlig neben der Spur war, gefiel Mylo somit überhaupt nicht und es hätte Aidens Kopfschütteln auch nicht mehr gebraucht, um ihm zu zeigen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Auf eine Antwort musste er jedoch noch warten, denn der Rosa-blonde ließ sich erst neben ihm auf den zweiten Sessel fallen und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, als wollte er etwas wegwischen.
Aiden brauchte noch einige Momente, um sich wieder zu fangen und vor allem um seine Gedanken sortieren zu können. Dass er die Frage des anderen nicht positiv beantworten würde, war wohl von Anfang an klar, doch wie sollte er seinem Freund erklären, was er gesehen und erlebt hatte? Er konnte es selbst nicht einmal glauben, dass er vor nicht einmal einer halben Stunde noch Crispin gegenüberstand. Dem Crispin, der vor zwei Jahren eigentlich gestorben war und somit überhaupt nicht mehr herumlaufen sollte. Es hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen, das ehemalige jüngste Mitglied seiner Clique und seinen zudem ehemals besten Freund so plötzlich wiederzusehen, denn es war einfach unmöglich. Ein weiteres Mal fuhr er sich über das Gesicht und strich seine Haare zurück, von denen ihm anschließend jedoch wieder einige rosa-blonde Strähnen in die Augen fielen.
“Absolut nicht… Ich hab Cris gesehen.”
Augenblicklich setzte sich Mylo neben ihm ein wenig mehr auf, was er aufgrund des Knarrens des Sessels mitbekam, ohne zu ihm sehen zu müssen. Was für einen Blick er ihm gerade zuwarf, musste er ebenfalls nicht sehen, denn er konnte sich gut vorstellen, dass er entweder überrascht war oder ihn für nicht mehr ganz zurechnungsfähig hielt.
“Bist du sicher? Ich meine… Cris ist seit zwei Jahren tot… Denkst du nicht, dass es sein Bruder war? Die beiden sahen sich schließlich sehr ähnlich.”
Natürlich fragte er das. Warum sollte man das auch sofort glauben ohne nachzuhaken, wenn man ganz genau wusste, dass es völlig unmöglich war, jemanden zu sehen, der nun einmal seit einer gefühlten Ewigkeit unter der Erde lag? Sie alle waren nach der Beerdigung an Crispins Grab gewesen. Auch wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu ihnen gehörte, weil er ihn rausgeworfen hatte, so hatte es sie doch alle zutiefst getroffen, als sie hörten, er wäre gestorben. Ganz besonders ihn…
Mit einem Kopfschütteln verscheuchte er diese Gedanken und gab Mylo damit bereits einen Teil der Antwort. Er war sich absolut sicher, dass es sich bei der Person nicht um Cyrian sondern um Crispin gehandelt hatte. Dies auch in Worte zu fassen, schaffte er jedoch nicht, denn in diesem Augenblick tauchte auch der Rest ihrer Gruppe auf. Niall und Luan betraten den Raum und Aiden zog bei ihrem Anblick die Augenbrauen zusammen. Worüber er eben nachgedacht hatte, war kurzzeitig vollkommen vergessen. Nialls rabenschwarze und Luans in einem dunklen Silber gefärbte Haare waren zerzaust und die Kleidung alles andere als akkurat sondern vollkommen zerknittert. Zusätzlich prangten vereinzelte dunkle Flecken auf dem Hals des älteren, der seinen Blick einfing und sofort wieder zur Seite schaute. Was die beiden getrieben hatten, war mehr als eindeutig.
“Könntet ihr das vielleicht zu Hause machen und nicht hier?”, murrte Aiden, denn er hatte keine Lust, die beiden irgendwann einmal dabei zu erwischen. Sofort versuchte Niall seine Kleidung und seine Haare zu ordnen, während sich ein Rotschimmer auf seine Wangen legte. Der Jüngere der beiden grinste ihn stattdessen nur breit an und sah darin scheinbar kein Problem, sich hier in ihrem Versteck mit seinem Freund zu vergnügen. Aiden schnaubte deswegen und wollte noch etwas sagen, doch Mylo schlug ihm sanft, aber kräftig genug, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, auf den Arm.
“Hey, jetzt lenk nicht vom Thema ab.”
Aiden schaute zu ihm und aus dem Augenwinkel sah er, wie das Grinsen aus Luans Gesicht verschwand und er die beiden Jüngeren stattdessen neugierig musterte, während er es sich gemeinsam mit Niall auf dem Sofa ihnen gegenüber bequem machte.
“Worum geht es denn?”, kam er ihm mit einer Reaktion zuvor und Mylo richtete seinen Blick nun auf den Silberhaarigen.
“Aiden meinte, er hätte Cris gesehen…”
Ihm entging der leicht ungläubige Unterton in der Stimme seines Freundes nicht. Zusätzlich schwang jedoch noch etwas darin mit, das er nicht ganz zu deuten wusste, aber darüber wollte Aiden gerade auch nicht nachdenken, denn es missfiel ihm, dass er insgeheim hingestellt wurde, als hätte er den Verstand verloren - und das von seinem eigenen Freund. Er krallte seine Finger in die Sessellehne, bis die Knöchel weiß hervortraten.
“Bist du sicher? War es nicht eher-”
“Wieso fragen mich das alle?!”, fuhr er Luan beinahe knurrend ins Wort und funkelte erst Mylo und dann ihn wütend an. “Ja, ich bin mir sicher. Ich dachte auch erst, es sei sein Bruder, der sich einfach nur einen üblen Scherz erlaubt, indem er sich genauso anzieht und stylt wie er, aber nein. Seine Haltung, der Ausdruck in seinen Augen und sein Tonfall… Das war eindeutig Cris.”
Für einen kurzen Augenblick war alles still um sie herum und das einzige Geräusch, das zu hören war, waren die Motorengeräusche der Autos, die die nahegelegene Straße entlangfuhren. Alle Blicke lagen auf ihm, musternd und bei Niall auch mit einer Spur Mitleid, bei der er den Grund ganz genau wusste, warum sie dort zu finden war und den Mylo ohne weiter zu zögern direkt aussprach.
“Stehst du noch auf ihn?”
Seine Stimme klang kühl, distanziert, so als wollte er nicht durchblicken lassen, was genau in ihm vorging, und mit einem Mal wusste Aiden auch, was er bereits bei den vorhergehenden Worten des Braunhaarigen gehört hatte, aber nicht sagen konnte, worum es sich dabei handelte: Eifersucht. Geschockt fuhr er zu ihm herum.
“Was?! Nein! Wie kommst du darauf?”
Mylos Blick sprach Bände und wenn Blicke töten könnten, würde er wohl auf der Stelle umfallen, so viel Misstrauen lag unverhohlen in den dunklen Augen. Sie hatten schon einige Auseinandersetzungen gehabt - auch während ihrer Beziehung - aber bisher hatte er ihn trotzdem noch nie so angesehen.
“Nun ja… So wie du über ihn redest, könnte man das durchaus vermuten.”
Fassungslos, wie man dies in seine Worte hineininterpretieren konnte, sah er den anderen einfach nur sprachlos an.
“Sollen wir vielleicht rausgehen, bis ihr das geklärt habt?”, meldete sich Niall vorsichtig zu Wort. Sie alle wussten, dass es unschön werden konnte, wenn man es schaffte, dass er in die Luft ging und Mylo war mit seinen Worten und seinem scheinbar fehlendem Vertrauen auf einem guten Weg dahin. Dennoch winkte Aiden ab, ohne seinen Blick von dem Braunhaarigen zu lösen. Seine Stirn war in Falten gezogen und er presste seine Kiefer aufeinander, um seine Wut einigermaßen zügeln zu können.
“Nein, bleibt ruhig hier. Da gibt es nichts zu klären. Ich will nichts mehr von Cris! Bis heute dachte ich, er wäre tot…”
“Was nichts an der Tatsache ändert, dass du immer noch etwas für ihn empfinden könntest. Wenn es so ist, dann sag es einfach.”
So langsam hatte Aiden das Gefühl, dass es vollkommen egal war, was er sagte, der andere würde immer wieder ein Argument finden, mit dem er ihm unterstellte, noch immer in Crispin verliebt zu sein und er war kurz davor, ihm etwas an den Kopf zu werfen, dass er anschließend mit Sicherheit bereuen würde. In letzter Sekunde ermahnte er sich jedoch selbst und erinnerte sich, wieso Mylo vermutlich so extrem darauf reagierte. Nicht nur, dass das ehemalige Mitglied derjenige war, der ihm unbewusst klar gemacht hatte, dass sein homophobes Verhalten nicht nur an seinem Hass seinem Vater gegenüber, der die Familie wegen eines reichen Mannes verlassen hatte, lag, sondern auch daran, dass er dem eigenen Geschlecht ebenfalls nicht ganz abgeneigt war. Er war auch der erste, dem er weit mehr als nur freundschaftliche Gefühle entgegengebracht hatte. Zudem wusste er, wie sehr sich Mylo Sicherheit und Beständigkeit wünschte, nachdem er sein halbes Leben von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht wurde und sich nirgendwo wirklich Zuhause gefühlt oder auch nur die Chance dazu hatte.
Als er an all das dachte, verrauchte seine Wut und anstatt etwas zu sagen, nahm er das Gesicht des anderen in seine Hände, beugte sich näher zu ihm, um auch noch die restliche Distanz zwischen ihnen zu überbrücken und anschließend seine Lippen auf die des anderen zu legen. Er spürte das leise Seufzen von Mylo eher, als dass er es hörte und er hätte ihm gerne noch weitere Laute entlockt, doch sie waren erstens nicht alleine und zweitens stand das Thema Crispin gerade immer noch zwischen ihnen.
“Das mit Cris ist schon lange vorbei und du bist nicht sein Ersatz, nur weil ich ihn nicht haben konnte”, murmelte er nur für Mylo hörbar gegen dessen Lippen, bevor er sie noch einmal zu einem kurzen und sanften Kuss miteinander verband und sich anschließend von ihm löste, um ihm in die Augen zu schauen und sehen zu können, ob er ihm glaubte. Es dauerte allerdings noch einen Moment, der sich für Aiden wie eine halbe Ewigkeit anfühlte und in dem sich ein Knoten in seinem Magen bildete. Er war Crispin insgeheim dankbar dafür, dass er ihm - trotz der unerwiderten Gefühle und der Tatsache, dass er vermutlich nicht einmal etwas davon wusste - gezeigt hatte, dass es alles andere als schlimm war, vom so genannten anderen Ufer zu sein. Es hatte lange gedauert, bis er über den Jüngeren hinweg war, aber ohne diese Erfahrung hätte er wohl nie erfahren, dass Mylo schon lange mehr für ihn empfand. Aiden hatte sich viel Zeit genommen, ihm keine falschen Hoffnungen gemacht, gerade weil er ihn nicht als bloßes Trostpflaster benutzen wollte, doch da der Braunhaarige die ganze Zeit für ihn da war, entwickelte sich irgendwann auch von seiner Seite mehr und er hoffte einfach, dass Mylo wusste, dass er kein Ersatz sondern an erster Stelle bei ihm war.
Als er schon fast glaubte, dass er noch mehr sagen müsste, um seinen Freund zu überzeugen, nickte dieser leicht, so weit es Aidens Hände, die noch immer auf seinen Wangen lagen, zuließen und flüsterte ein leises Okay. Tiefe Erleichterung machte sich in ihm breit und ihm fiel ein Stein vom Herzen, denn dass sich Mylo lediglich wie ein billiger Ersatz fühlte, war das Letzte, was er wollte. Da dies nun für's Erste geklärt war, nahm er seine Hände von den Wangen des anderen und wandte sich seinen beiden anderen Freunden zu, die die Szene schweigend verfolgt hatten. In Nialls Augen glaubte er ebenfalls so etwas wie Erleichterung zu sehen, während Luans Mundwinkel leicht zuckte, als müsste er sich ein Grinsen verkneifen. Bei Aiden löste vor allem Letzteres ein Augenrollen aus, denn er konnte sich denken, was gerade im Kopf des Silberhaarigen vor sich ging. Schließlich hatte er seinen Freund und ihn gerade eben noch dafür gerügt, sich hier miteinander vergnügt zu haben, und nun war er selbst derjenige, der Mylo vor den anderen küsste - auch wenn man beides nicht einmal ansatzweise vergleichen konnte. Dennoch war er froh, dass er sich seinen Kommentar verkniff, da er so wieder zu ihrem eigentlichen Thema zurückkommen konnte.
“Ich habe diese Aufzählung lediglich gemacht, um klarzumachen, was die beiden voneinander unterscheidet.”
Die Belustigung war schlagartig aus Luans Gesicht verschwunden und er war wieder ernsthaft bei der Sache. Aiden war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie schnell der Ältere zwischen diesen Gefühlsregungen switchen und sich vollkommen auf etwas konzentrieren konnte. Ein wenig nachdenklich wurde er von ihm angesehen und er wartete darauf, dass er das sagte, was ihm wohl auf der Zunge lag.
“Vielleicht ist sein Bruder aber auch nur ein guter Schauspieler.”
Bei dieser Aussage hätte er am liebsten laut aufgelacht, denn es klang selbst in seinen Ohren nicht so, als würde Luan wirklich daran glauben, dass dem so sein könnte. Kurzzeitig hatte er zwar ebenfalls daran gedacht, allerdings gab es auch noch zwei Dinge, die er den anderen noch nicht erzählt hatte - nicht zuletzt, weil er bei einem von beiden nicht wusste, ob er es sich vielleicht nur eingebildet hatte und weil ihn das andere, trotz der Tatsache, dass er nichts mehr von dem Jüngeren wollte, doch zutiefst getroffen hatte, weil es bedeutete, dass nichts von ihrer Freundschaft echt war.
“Ja, vielleicht… Aber ich bezweifle, dass Cris mit ihm über uns gesprochen hat und das, was er mir gesagt hat, könnte er somit nicht wissen.”
Eigentlich wollte er noch mehr sagen, doch die Erinnerung an diese Situation holte ihn wieder ein, die Worte, die ihm Crispin an den Kopf geworfen hatte und die ihn auch jetzt noch verletzten und sein Herz schwer werden ließen, wenn er an sie zurückdachte:
“Wir und beste Freunde? Dein Ernst?! Wir waren niemals beste Freunde. Unter einem besten Freund verstehe ich jemanden, der mich akzeptiert, wie ich bin und vor dem ich keine essentiellen Sachen verschweigen muss! Eine Art Familienmitglied, das man sich aussucht. Du warst das nicht einmal ansatzweise! Nie im Leben hätte ich dir erzählen können, dass das Klavier spielen meine große Leidenschaft ist, dass mein Bruder früher mein großes Vorbild war und ich mit dem Spielen angefangen habe, weil ich genauso sein wollte wie er oder dass mich die ganzen Weiber, die du immer auf Partys angeschleppt hast, nicht im geringsten interessiert haben!”
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er von all dem tatsächlich nie etwas gewusst. Für ihn stand immer außer Frage, dass Crispin seine Familie und auch das Klavier spielen hasste und er hatte nie danach gefragt, ob dem tatsächlich so war. Um sich keine Blöße zu geben, hatte er ihm vorgeworfen, dass er ihm das hätte sagen können und er somit selbst schuld war, dass es von seiner Seite aus nicht einmal eine richtige Freundschaft war. Aiden hatte in dem Jüngeren sehr schnell seinen besten Freund gesehen, doch nun musste er das wohl alles in Frage stellen. Allerdings ließ Crispin das nicht so stehen - etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet, da er wusste, dass er immer das letzte Wort hatte - und seine darauffolgenden Worte nahmen ihm endgültig den Wind aus den Segeln:
“Willst du mich eigentlich verarschen?! Wenn du das alles gewusst hättest, hättest du mich schon viel eher aus der Clique geschmissen oder nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, mich überhaupt aufzunehmen, weil du mich mit allen anderen in einen Topf geworfen hättest! Im Grunde bist du nämlich genauso oberflächlich und vorurteilsbehaftet, wie all die reichen Snobs, die du so sehr hasst! Also mach dich nicht lächerlich!”
Das hatte ihm den Rest gegeben. Nie im Leben hätte er geglaubt, dass der andere so von ihm dachte, doch gleichzeitig hatte es ihm auch die Augen geöffnet. Seit er dies gehört hatte, fragte er sich, ob dem wirklich so war. War er wirklich nicht so viel anders, als die Leute, die er verachtete? Doch vermutlich stellte sich diese Frage gar nicht, denn tief in seinem Inneren wusste er, dass Crispin recht hatte. Die eigentliche Frage war, ob die anderen genauso über ihn dachten und nur nichts sagten, weil sie ihn nicht vor den Kopf stoßen wollten. Dem Jüngsten unter ihnen war das schon immer egal, auch das wusste er. Wer mit seiner direkten Art nicht klar kam, hatte in seinen Augen eben Pech gehabt.
Seufzend schüttelte er leicht den Kopf. Über all das konnte er sich auch noch später seine Gedanken machen. Im Moment war es wichtiger die anderen davon zu überzeugen, dass er ihn auch wirklich gesehen hatte und das, was er noch hatte sagen wollen, bevor ihn die Erinnerung eingeholt hatte, trug hoffentlich dazu bei.
“Außerdem…”, begann er und zog damit wieder alle Aufmerksamkeit auf sich, was dazu führte, dass er doch zögerte es auszusprechen und resignierend seufzte. “Ihr haltet mich für verrückt, wenn ich euch das erzähle…”
“Noch mehr, als jetzt schon, nachdem du uns erzählt hast, du hättest Cris gesehen?”
Aiden zuckte durch diese Worte kurz zusammen, doch als er zu Luan schaute, bemerkte er das verräterische Zucken in seinen Mundwinkeln und das amüsierte Glitzern in seinen dunklen Augen. Er zog die Augenbrauen zusammen und schnaubte beleidigt, denn er fand das alles andere als lustig.
“Wirklich witzig! Ich meine es ernst.”
Erwartungsvolle Blicke lagen auf ihm, was ihm keineswegs dabei half, das auch wirklich auszusprechen, was er noch gesehen hatte. Es klang für ihn selbst unglaublich, wenn man mal davon absah, dass die gesamte Begegnung mit Crispin diese Beschreibung inne hatte. Wieder einmal zögerte er, denn sie könnten ihn tatsächlich für verrückt halten - wenn sie es nicht schon taten. Kneifen und den Schwanz einziehen gehörte jedoch nicht zu seinem Wortschatz und somit atmete er einmal tief durch, bevor er dazu ansetzte, es endlich loszuwerden.
“Seine Augenfarbe hat sich verändert, wurde heller, als er sauer wurde… Ich meine, er war auch früher öfter wütend, aber da war das nie der Fall. Das war einfach… unnormal.”

Hatte Aiden das gerade tatsächlich gesagt? Einen Moment lang vollkommen sprachlos und überrascht sah Luan ihn an. Dieser Zustand hielt allerdings nicht lange an und er fing sich wieder. Musternd behielt er den Jüngsten unter ihnen ganz genau im Blick, um herauszubekommen, ob er wirklich die Wahrheit sagte oder ob er Anzeichen dafür fand, dass sie gerade verarscht wurden. Doch auch mehrere Augenblicke später konnte er nichts erkennen, was für Letzteres sprach, was nur bedeuten konnte, dass Aiden wirklich daran glaubte, was er ihnen eben mitgeteilt hatte. Neben dieser Tatsache hatte dies jedoch noch eine ganz andere Konsequenz: Luan glaubte ihm. Bisher bestand immer noch die Möglichkeit, dass sich sein Gegenüber täuschte und er Cyrian für Crispin gehalten hatte. Schließlich war es nach dessen Tod durchaus vorgekommen, dass man seinen älteren Bruder statt in den gewohnten Anzügen in zu weiten Hoodies, Skinny Jeans und Timberlands gesehen hatte. Dass sich Aiden täuschte, wäre somit also durchaus möglich gewesen und da sie alle wussten, dass er einmal in Crispin verliebt war, hätte es genauso gut sein können, dass er sich die Gemeinsamkeiten mit diesem nur eingebildet hatte. Die Änderung der Augenfarbe… Das war eine Sache, die ihn stutzig machte und ihn dazu brachte, ihm zu glauben, denn er wusste nur zu gut, dass dies nicht so unnormal war, wie Aiden dachte. Zumindest nicht in seiner Welt. Genau diese ließ ihn nun allerdings zögern, etwas zu sagen. So lange hatte er vor den anderen verheimlichen können, was er war und der einzige, der davon etwas wusste, war Niall. Doch er behielt das Geheimnis genauso für sich. Nun musste er sich entscheiden, ob er Aiden sagte, dass er sich irren und sich das eingebildet haben musste, oder ob er ihn und auch Mylo in das einweihte, was er war und dass es zwischen Himmel und Erde weit mehr gab, als die beiden ahnten.
Einige Augenblicke lang sah er den Rosa-blonden noch an, ehe er eine Entscheidung fällte. Eine Entscheidung, die sein gesamtes Leben ändern könnte.
“Wenn das so ist…”, begann er, setzte jedoch direkt nach, bevor er es sich anders überlegen konnte. “Ich glaube, ich muss euch was zeigen.”
Kaum hatte er dies ausgesprochen, fingen sich auch die anderen wieder und alle Blicke lagen auf ihm. Wie er aus dem Augenwinkel erkennen konnte, wusste Niall sofort, was er vorhatte und dem Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen, war er nicht sicher, ob er das gut oder schlecht finden sollte.
“Bist du dir sicher, dass du das tun willst?”
Luan konnte seine Besorgnis sehr gut nachvollziehen. Sie kannten sich schon fast ihr ganzes Leben lang und beinahe genauso lange wusste sein Freund von seinem Geheimnis, das er streng hütete. Nicht umsonst hatte er ihm damals das Versprechen abgenommen, mit niemandem darüber zu reden. Nun jedoch war es wichtig, dass die anderen darüber Bescheid wussten, bevor sie mit den Falschen darüber sprachen und in Teufels Küche gerieten. Deshalb sah er zu ihm und nickte.
“Ich glaube Aiden, dass er Cris gesehen hat. Und wenn das der Fall ist, steckt das Küken nicht nur genauso tief mit drin wie ich, sondern dann wird es auch Zeit, dass Aiden es endlich erfährt. Und Mylo ebenfalls.”
“Worum geht es hier eigentlich? Wo steckst du mit drin?”
Aidens verwirrte und gleichzeitig auch misstrauische Stimme zog seine Aufmerksamkeit direkt zu ihm. Wie dieser auf die Neuigkeiten reagieren würde, konnte er nicht ganz einschätzen. Sie waren bereits ein paar Jahre befreundet und hatten dabei kaum etwas voreinander geheim gehalten. Im Grunde war das eine der Regeln dieser Clique: Essentielle Sachen nicht zu verschweigen und das, was sie gleich erfahren würden, gehörte ganz klar in diese Kategorie. Er antwortete allerdings nicht direkt, denn ob sie ihm glauben würden, wenn er es einfach nur aussprach, war fraglich. Aus diesem Grund hatte er vor, es ihnen zu zeigen.
“Das siehst du gleich.”
Das skeptische Stirnrunzeln des anderen war nicht zu übersehen und er wirkte, als wollte er dazu noch etwas erwidern, doch Luan stand bereits auf und wandte sich von ihm ab, was Aiden scheinbar dazu bewog, doch nichts mehr zu sagen. Er lief zu einer niedrigen Kommode, auf der sich diverse Zeitschriften sammelten. Einige lagen inzwischen schon so lange darauf und waren demnach so alt, dass sicher niemand etwas dagegen haben würde, wenn er sie für seine kleine Vorführung nutzte. Er griff nach einer, die recht weit unten in dem Stapel lag und das Datum in der oberen linken Ecke sagte ihm deutlich, dass sie zu denen gehörte, die sie nicht mehr brauchten. Ein verständnisloses Kopfschütteln konnte er sich dennoch nicht verkneifen, weil es bisher keiner für nötig gehalten hatte, den ganzen Papierkram mal auszumisten, auch wenn es ihm gerade sehr zugute kam.
Mit der Zeitschrift in der Hand lief er zurück zu seinem Platz. Die Blicke der anderen lagen dabei die ganze Zeit auf ihm. Niall konnte sich sicher denken, was er genau vorhatte, während ihn die beiden Jüngeren nur verwirrt musterten. Die Fragezeichen um ihre Köpfe waren deutlich zu sehen, aber diese würden mit Sicherheit gleich entweder teilweise verschwinden oder es kamen noch welche hinzu.
Luan versuchte die drei Augenpaare, die ihn ansahen, zu ignorieren und sich stattdessen auf das Papier in seinen Händen zu konzentrieren. Er schloss die Lider dafür, da es ihm so leichter fiel, und murmelte leise Worte, die nicht einmal sein Freund verstand, obwohl dieser direkt neben ihm saß. Nur den Bruchteil einer Sekunde später spürte er die Wärme, deren Quelle sich direkt vor ihm befand und die ihm zeigte, dass es funktionierte. Die Seiten der Zeitschrift standen in Flammen, erhellten seine Sicht selbst hinter seinen Augenlidern, während er erstaunte Laute von den anderen vernahm. Um sich nicht zu verbrennen oder das Papier aus versehen fallen zu lassen, murmelte er erneut leise Worte, bis die Helligkeit und auch die angenehme Wärme wieder verschwunden waren. Er öffnete wieder die Augen, sah, dass nicht einmal mehr ein kleines Glimmen zu sehen war und seufzte erleichtert.
Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte er schon nicht mehr gezaubert und wusste somit nicht, ob er nicht vielleicht aus der Übung war. Wenn der eigene Vater einen für das verachtete, was man war, versuchte man als Kind und auch als Jugendlicher, der nur noch diesen Elternteil besaß, genau dies zu verstecken. Im Nachhinein betrachtet, hatte es ihm nichts gebracht. Sein Vater war dennoch dem Alkohol und dem Glücksspiel verfallen, um sich davon abzulenken, dass sein eigener Sohn zaubern konnte, weil seine Frau eine Hexe war. Luan konnte nachvollziehen, dass es seiner Mutter wichtig war, ihrem Mann auf dem Sterbebett dieses Geheimnis zu beichten, doch im Grunde wäre sein Leben angenehmer verlaufen, wenn er nichts davon gewusst hätte, denn seine Fähigkeiten hatte er stets verheimlicht. Bereuen würde er nichts, denn inzwischen war sein Leben in Ordnung - was nicht zuletzt an den drei Personen lag, die hier im Raum saßen und von denen ihn zwei weiterhin sprachlos ansahen. Mylo schien sich als erstes wieder halbwegs zu fangen, denn er schüttelte leicht den Kopf, bevor er ihn immer noch überrascht in die Augen blickte.
“Ich glaub das nicht… Lu… Du bist… ein Hexer…?”
Nun war es an ihm, den Braunhaarigen erstaunt anzuschauen, denn diese Reaktion war irgendwie die Letzte, mit der er gerechnet hatte. Ungläubigkeit und auch, dass sie versuchten, dass alles mit menschlichen Ursachen zu erklären, war eher das, was er erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht, dass Mylo es so genau benennen konnte. Natürlich konnte es auch einfach ein Zufall sein. Der Jüngere liebte seine Mangas, in denen es nicht selten um irgendwelche Fantasywelten ging, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es sich nicht um Halbwissen aus diesen Büchern handelte. Darauf etwas sagen, konnte er so schnell allerdings nicht, da sich der andere bereits an seinen Freund neben ihm wandte, bei dem er wohl merkte, dass er als einziger kein Anzeichen von Überraschung zeigte.
“Und du wusstest davon?”
Niall nickte, warf ihm einen kurzen Blick zu, den er nur aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm und erhob dann ebenfalls seine Stimme, um sich zu erklären. Dass er ihnen erzählte, dass er es schon seit ihrer Kindheit wusste, war okay. Langsam wurde es einfach Zeit, alle Karten auf den Tisch zu legen, auch wenn ihm alleine der Gedanke viele Jahre Bauchschmerzen bereitet hatte. Jetzt, wo es so weit war, fühlte es sich sogar ein wenig befreiend an. Immerhin waren Aiden und Mylo neben seinem Freund die wichtigsten Personen in seinem Leben, die somit ein Anrecht darauf hatten, es zu wissen.
“Ja, ich hab ihn damals dabei erwischt, wie er einige Sachen geübt hat. Allerdings musste ich ihm versprechen, niemandem was davon zu sagen.”
Bis heute war Luan ihm wirklich dankbar dafür, was er ihm damit zeigte, dass er die angebrannte Zeitung auf den Tisch vor ihnen legte und stattdessen die Hand seines Freundes nahm, der daraufhin ihre Finger miteinander verwob und sie leicht drückte. Es bedurfte keiner Worte, um ihm zu erklären, dass er das vermutlich niemals gut machen könnte, dass der Schwarzhaarige dieses Geheimnis so lange mit sich herumtrug. Zeitweise hatte er sogar ein schlechtes Gewissen, weil er ihn damit belastete, doch jedes Mal, wenn diese Zweifel in ihm aufstiegen, hatte er ihm klar gemacht, dass er selbst es als Geschenk ansah, dass er sich ihm anvertraut hatte - ganz ungeachtet davon, dass er kaum eine andere Wahl hatte. Dennoch waren seine Schuldgefühle nie ganz verschwunden, was sich mit dem heutigen Tag, wo auch Aiden und Mylo davon erfuhren und Niall nicht mehr der einzige war, der es wusste, jedoch hoffentlich änderte. Was ihn zurück zu dem Gedanken brachte, dass der Braunhaarige bei weitem nicht so überrascht reagierte, wie er erwartet hatte.
“Du nimmst das ganz schön locker auf”, meinte er daher trocken und mit einem wachsamen Blick in die Richtung des anderen, gespannt darauf, wie dieser reagieren würde.
Seine Reaktion ließ auch nicht lange auf sich warten. Ertappt weiteten sich seine Augen und er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, um Zeit zu schinden.
“Also…”, begann er, suchte scheinbar nach den richtigen Worten, während Luan ihn nicht aus den Augen ließ. “Ja… Ich weiß zumindest, dass es so was gibt...”, gab er dann kleinlaut zu, setzte aber gleich darauf zu einer Erklärung an, sodass sich die Frage nach dem woher erübrigte, die ihm sofort in den Kopf geschossen war. “Die Tochter meiner einen Pflegefamilie wurde damals von einem Wolf gebissen. Da die Wunde ganz normal heilte, hat sich niemand was dabei gedacht. Na ja, bis sie sich beim nächsten Vollmond selbst in einen Wolf verwandelt hat…”
“Wieso bin ich der einzige, der bisher nichts davon wusste?!”
Völlig unvermittelt wurde Luans Aufmerksamkeit und auch die der anderen beiden auf Aiden gelenkt, der die letzten Minuten vollkommen still war. Durch Mylos Reaktion und seiner Vermutung, dass dieser bei weitem nicht so ahnungslos war, wie er dachte, hatte er den anderen vollkommen vergessen, obwohl er direkt neben dem Braunhaarigen saß. Nun wurde er wieder erfolgreich daran erinnert, dass es unter ihnen zumindest eine Person gab, die tatsächlich nichts wusste. Dass er sauer war, sobald er das alles verarbeitet hatte, konnte er ihm nicht verübeln, auch wenn Luan seine Gründe hatte - genau wie bei seiner Beziehung mit Niall, die er jahrelang vor dem Rosa-blonden geheim hielt. Nur dass bei dieser Aiden selbst der Grund dafür war, weshalb er nicht ganz so wütend reagiert hatte. Immerhin musste er sich eingestehen, dass er mit seiner Einstellung zum Thema Homosexualität selbst schuld war. Und auch wenn er jetzt ebenfalls eine äußerst gute Begründung hatte, fühlte sich ein Teil von ihm schuldig, weil er es ihm verheimlicht hatte. Diese Schuldgefühle wurden von seinem Pragmatismus jedoch ganz schnell wieder zum Schweigen gebracht.
“Darüber bescheid zu wissen, ist gefährlich. Sowohl für die Menschen, als auch für Leute wie mich… und vermutlich nun auch Cris. Menschen können grausam sein, wenn sie etwas nicht verstehen oder Angst davor haben. Oder wenn sie eben mitbekommen, dass sie doch nicht die herrschende Rasse auf dieser Welt sind… Die Hexenverbrennungen damals sind ein gutes Beispiel dafür.”
Die erste Antwort, die Luan auf seine Erklärung erhielt, war ein abfälliges Schnauben des Jüngsten unter ihnen.
“Geschichte hat mich noch nie interessiert. Wir reden hier also davon, dass dieser ganze Fantasykram wahr ist?”
“Hey, sag das nicht so abwertend”, protestierte Mylo sofort, weil Aidens Tonfall deutlich zeigte, was er davon hielt. Gefolgt von seinen Worten stieß er ihm den Ellenbogen in die Seite, sodass der andere merklich zusammenzuckte. Luans Mundwinkel zuckten, als er die beiden beobachtete, während sie darüber diskutierten, ob Fantasygeschichten nun Müll waren oder nicht. Als es allerdings Überhand zu nehmen drohte, räusperte er sich, um die beiden Streithähne wieder auf sich aufmerksam zu machen. Schließlich stand immer noch Aidens Frage unbeantwortet im Raum. Nach wenigen weiteren Worten und einem letzten Stoß in die Rippen seitens Mylo, sahen sie wieder zu ihm, sodass er weiterreden konnte.
“Nicht alles ist wahr, aber ja, so könnte man das sehen. Vampire glitzern jedoch nicht in der Sonne.”
Den letzten Kommentar konnte er sich einfach nicht verkneifen. Genauso wenig das Grinsen, das sich dabei auf seinen Lippen bildete. Er konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem sie gemeinsam beschlossen hatten, sich diesen Alptraum eines Films in einer Spätvorstellung im Kino anzusehen. Die Zeit und die Tatsache, dass sie extra an einem Tag einige Wochen nach dem Filmstart gegangen waren, war mit voller Absicht so gewählt. Sie wollten den Kinosaal wenn möglich für sich alleine haben und sie hatten tatsächlich Glück. Bewaffnet mit jeder Menge Popcorn und Softdrinks hatten sie es sich äußerst bequem gemacht und keine Gelegenheit ausgelassen, die fürchterliche Geschichte und die noch schlechtere schauspielerische Leistung zu kommentieren. Aiden schien sich ebenfalls lebhaft an diese Nacht zu erinnern und rollte mit den Augen.
“Das wäre ja jetzt auch noch die Kirsche auf der Sahnehaube gewesen…”, war sein einziger Kommentar dazu, den er ihm nicht verdenken konnte. Dass er es auch sagte, um zu überspielen, wie überfordert er mit diesen Informationen war, war nicht zu übersehen. Zumindest für Leute, die ihn lange genug kannten und zu denen Luan eindeutig zählte. Auch das konnte er nachvollziehen. Wenn man nie daran gedacht hatte, dass es Vampire, Werwölfe und andere Wesen tatsächlich geben könnte, war diese Enthüllung wirklich nicht leicht zu verdauen.
“Und was ist dann nun Cris? Er war immerhin tot”, meldete sich auch Niall wieder einmal zu Wort und seine Frage fand er durchaus berechtigt. Es gab so viele verschiedene Wesen auf der Welt und es interessierte ihn ebenfalls brennend. Das, was sie wussten, grenzte das Ganze zumindest schon ein wenig ein - vorausgesetzt, man ging davon aus, dass es auch stimmte, worauf Mylo sie prompt auch aufmerksam machte.
“Oder seine Familie hat es nur vorgespielt. Er war vielleicht verschwunden und seine Eltern wollten einfach ihre Ruhe haben. Zutrauen würde ich es ihnen.”
“Möglich wäre beides-”, wollte er gerade dazu ansetzen, darüber mit zu diskutieren, doch Aiden machte dies mit seiner folgenden Aussage komplett zunichte und warf wieder einmal alles über den Haufen.
“Das war nicht Cris…”
Das überraschte nun selbst Luan. Hatten sie dieses ganze Gespräch nicht gerade deswegen angefangen, weil der Rosa-blonde der festen Überzeugung war, Crispin gesehen und auch mit ihm gesprochen zu haben? Damit, dass er dies nun revidierte, hatte er absolut nicht gerechnet, außer es gab eine Erklärung für diese neue Behauptung.
“Moment… Eben hast du noch steif und fest behauptet, er wäre es gewesen”, warf der Braunhaarige genau das ein, was wohl allen gerade durch den Kopf ging.
“Also ja… Nein… Ich meine, er war es, aber gleichzeitig auch wieder nicht.”
“Das musst du uns jetzt mal erklären. Wie kann er es gewesen sein und doch wieder nicht? Das ergibt keinen Sinn.”
Während Niall neben ihm nickte und dem anderen bei dieser Aussage beipflichtete, schwieg er selbst einfach nur und musterte Aiden. Das alles klang wirklich ein wenig konfus und selbst er konnte sich nicht auf Anhieb erklären, wie dies möglich sein sollte, auch wenn er wusste, dass es in seiner Welt kaum etwas gab, dass wirklich unmöglich war. Nun kam es also nur auf die Erklärung an, die der Jüngste hoffentlich parat hatte. Bevor er sie alle jedoch aufklärte, kam er mit einer eigenen Frage um die Ecke.
“Erinnert ihr euch an die Meldung in der Zeitung über den Selbstmordversuch von Cris’ Bruder?”
Ein Nicken ging durch die komplette Runde und eigentlich hätte dies schon Antwort genug sein sollen, doch sein Freund ließ es sich nicht nehmen, noch etwas dazu zu sagen.
“Ja, seine Eltern konnten nicht alle Reporter mundtot machen.”
“Genau. Dort stand, er hätte sich sie Pulsader aufgeschnitten und Cris hatte an seinem linken Unterarm eine längliche Narbe.”
Luan sog scharf, aber dennoch kaum hörbar, die Luft ein, als er das hörte. Sofort kam ihm das Wort Parasitismus in den Sinn und dies grenzte die Auswahl auf nicht einmal eine handvoll Wesen ein. Es gab nicht viele unter ihnen, die auf diese Lebensweise zurückgreifen mussten, um existieren zu können. Nachdenklich entzog er seinem Freund seine Hand, beugte sich nach vorn, sodass er die Ellbogen auf den Oberschenkeln abstützen und seine Finger vor dem Gesicht verschränken konnte.
Alle anderen mussten diese neue Information scheinbar noch verarbeiten, denn sowohl Mylo als auch Niall schwiegen. Aiden wandte sich stattdessen zu ihm, denn er schien zu merken, dass er wohl noch mehr darüber wusste, was seine Haltung aber sicher auch sehr deutlich zeigte.
“Weißt du etwas darüber? Immerhin meintest du, es wäre beides möglich.”
Ja, genau das hatte er gesagt, doch inzwischen war sehr eindeutig, dass Crispins Eltern seinen Tod nicht einfach nur vorgetäuscht hatten. Die Änderung der Augenfarbe, als er wütend wurde, hätte tatsächlich auch auf einen Werwolf oder eine andere Spezies schließen lassen - dass er sich in Cyrians Körper befand allerdings nicht.
“Ich wüsste jetzt auf Anhieb nur drei Spezies, die sich fremder Körper bemächtigen. Dass er ein Geist ist, schließe ich allerdings aus. Das würde seine Körperhaltung nicht erklären. Bleiben also nur zwei Möglichkeiten…”
“Und die wären?”, fragte Niall prompt neben ihm, nachdem er sich wieder gefangen hatte und dem Gespräch weiter folgen konnte. Luan blickte schweigend zu ihm und dann nacheinander erst zu Mylo und zum Schluss wieder zu Aiden. Er hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würden, wenn er ihnen offenbarte, woran er dachte, denn die Möglichkeit, die er am wahrscheinlichsten hielt, bedeutete, dass Crispin sehr tief gefallen war - und das im wahrsten Sinne des Wortes.
“Nun, ich denke Cris ist entweder ein Engel oder ein Dämon. Wobei ich - wenn ich an Aidens Beschreibung mit den Augen denke - eher auf Letzteres tippe…”

To be continue...