Crispin Cipriano
08.10.2021, 21:55
"Nein! Vergiss es! Kommt überhaupt nicht in Frage, dass ich dort hingehe!", fauchte Crispin und zerriss die Einladung, die er wenige Minuten zuvor aus dem Briefkasten geholt hatte. Die daraus resultierenden Papierfetzen ließ er einfach fallen, sodass sie sich wie Konfetti über dem Boden seines Wohnzimmers verteilten. Anschließend blickte er zu Aiden hinüber, der ihn soeben gefragt hatte, ob er mit ihm und den anderen auf den Geburtstag seines Vaters ging, um ihm diesen zu vermiesen. Dank der Einladung, die ursprünglich an Cyrian adressiert war, schlussendlich durch einen Nachsendeauftrag aber doch bei ihm landete, wäre dies ein Leichtes für ihn, die anderen mit hineinzuschmuggeln, denn gemeinsam mit den Angaben zu Ort und Zeit der Party gab es auch einen individuellen Login für eine Internetseite, die nur für diesen Anlass erstellt wurde und auf der man weitere Begleitpersonen auf die Gästeliste setzen konnte. Bei Cyrian ging man offensichtlich davon aus, dass dieser nicht mit dem Pöbel verkehrte und somit niemanden mitbrachte, der unangenehm auffallen könnte.
Ganz anders als bei dir, flüsterte seine innere Stimme und erinnerte ihn damit daran, wie sehr er die gut betuchte Gesellschaft verabscheute und es bestärkte ihn in seinem Beschluss, keinen Fuß auf das Anwesen zu setzen, auf dem die Feierlichkeiten stattfinden sollten.
"Ich mache das Ganze auch ohne dich, aber mit dir wird es um einiges einfacher. Ich dachte, ich kann in diesem Punkt auf dich setzen, weil wir in etwa dasselbe empfinden, wenn es um diese reichen Schnösel geht. Es ist eine großartige Gelegenheit, um meinem Alten und seinem Macker eins reinzuwürgen. Und ganz ehrlich, du würdest dasselbe tun, wenn du die Chance hättest, deinen Eltern ihr Versagen vor versammelter Mannschaft unter die Nase zu reiben."
Crispin zuckte für den Bruchteil einer Sekunde zusammen, denn damit hatte Aiden einen Nerv getroffen. Ja, wenn er durch Zufall so eine Chance vor die Füße geworfen bekommen würde, würde er sie ohne Zweifel nutzen. Lange hatte er sich vorgemacht, dass er mit all dem abgeschlossen hatte, dass er seine Familie gemeinsam mit seiner Vergangenheit hinter sich gelassen und sie ihn nicht mehr beeinträchtigte, doch er hatte sich getäuscht. Das musste er in dem Moment feststellen, als er den Brief seines Bruders fand, der ihn entgegen seiner Meinung, niemals fallen gelassen hatte. Er war nach seinem Tod entstanden, sodass Cyrian nicht davon ausgehen konnte, dass er ihn jemals zu Gesicht bekam, doch das hatte er und es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen, zu lesen, wie schuldig er sich fühlte, weil er nicht so für ihn da sein konnte, wie er es gerne wollte. Gleichzeitig hatte es ihm gezeigt, wie sehr er seinen Bruder vermisste und wie perfide ihre Eltern einen Keil zwischen sie getrieben hatte. Somit würde er keine Sekunde zögern, wenn er die beiden bis auf die Knochen blamieren könnte, indem er die Maskerade, die sie sich über all die Jahre mühevoll aufgebaut hatten, aufdeckte und zerstörte.
Zu sagen, er würde Aiden nicht verstehen, wäre daher die größte Lüge, die er in dieser Sache von sich geben könnte. Ein Teil von ihm wollte ihm auch helfen, doch der weit größere sträubte sich dagegen, dort hinzugehen - allem Ärger, den sie veranstalten könnten zum Trotz.
Für einen kurzen Moment flackerte Augusts Bild vor seinen Augen auf. Sein Blick wirkte dunkler als sonst, der Ausdruck in seinem Gesicht war alles andere als erfreut über die Idee, er könnte einen ganzen Abend ohne ihn mit den Jungs verbringen. Einen ganzen Abend mit Aiden, ohne dass er diesen wachsam im Auge behalten konnte.
Ein Stich fuhr ihm durch die Brust und er presste die Kiefer aufeinander. So fest, dass er glaubte, einige Zähne würden unter dem Druck nachgeben. Ruckartig wandte er sich von seinem besten Freund ab, damit dieser es nicht bemerkte.
"Ich bleibe bei meiner Entscheidung. Ich hab was besseres zu tun, als dorthin zu gehen", gab er kalt von sich und wollte bereits den Raum und auch das Haus verlassen. Er musste raus hier, denn er hatte das Gefühl, es gäbe zu wenig Sauerstoff in diesen vier Wänden. Die Erinnerungen, die auf ihn einprasselten, schnürten ihm das Herz zusammen und drohten, ihn zu erdrücken. Es war seine eigene Entscheidung, hier zu bleiben, obwohl ihm nicht einmal Hope garantieren konnte, dass August wieder aufwachte. In seinem bisherigen Leben war er kaum masochistischer und selbstzerstörerischer gewesen, als in dem Moment, als er entschied, in dem Haus zu bleiben, in dem er mit dem Engel gelebt hatte. Er wollte ihm nahe sein. So nah wie es ging und wo war er ihm näher als hier? Doch gerade jetzt wurde ihm diese Nähe zu viel und das einzige, woran er denken konnte, war Flucht. Flucht aus dem Haus und hinein ins Vergessen. Zumindest für eine begrenzte Zeit.
"Und was hast du vor? Dich wie so oft bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, nur um morgen mit einem Kater in irgendeiner Seitengasse aufzuwachen?"
Crispin stockte und hielt inne, denn Aiden traf mitten ins Schwarze. Aber hatte er wirklich etwas anderes erwartet? Sowohl sein bester Freund als auch die anderen hatten seit Augusts Verschwinden alle Phasen der Trauer, all seine Gefühlsschwankungen und Tiefs mitbekommen und obwohl er es nie für möglich gehalten hätte, waren sie in dieser Zeit sein Anker. Sie waren das Stück Treibholz, an das er sich klammerte, um in dem weiten Ozean aus Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nicht unterzugehen. Dennoch ging es ihm gegen den Strich, vorgehalten zu bekommen, wie er damit umging.
"Das geht dich überhaupt gar nichts an!", knurrte er und funkelte den anderen an. Er war sich beinahe sicher, dass sich silberne Schlieren durch seine Augen zogen, die zeigten, was Aidens Worte in ihm auslösten. Dieser sah ihm ungerührt entgegen, denn er kannte das schon. Seit August nicht mehr an seiner Seite war, geschah dies immer häufiger. Er fuhr schneller aus der Haut und konnte seine Gefühle kaum unter Kontrolle halten. Und trotzdem wussten seine Freunde, dass er sie nicht ernsthaft verletzen würde, weshalb sein bester Freund auch zu ihm kam. Er ballte seine Hand zur Faust und ohne zu zögern zielte er mit dieser auf Crispins Gesicht. Der Schlag saß und auch wenn er ihn nicht aus dem Gleichgewicht brachte, war er doch überrascht genug, dass Aiden ihn am Kragen seines Hoodies packen konnte.
"Jetzt hör mir mal zu! Luan, Mylo, Niall und ich - wir alle waren für dich da, als du am Boden warst. Wir haben versucht, dir zu helfen, wo es nur ging. Im Grunde bist du uns was schuldig."
Crispin biss die Zähne zusammen. Seine Wut verrauchte ein wenig, denn er wusste, dass der andere recht hatte. Sie hatten ihn aus dem Dreck gezogen und zudem hatten nicht nur die Musketiere das Motto: "Einer für alle. Alle für einen." Auch bei ihnen zählte es und auch wenn er Aiden ebenfalls bereits mehrfach aus der Scheiße geholfen hatte, in die er sich liebend gern hinein manövrierte, war dies bei weitem nicht genug, um auszugleichen, was sie für ihn getan hatten. Langsam ließ er die Anspannung aus seinem Körper und seinen Blick sinken, ohne etwas zu erwidern. Sie beide wussten, dass Aiden recht hatte. Er musste es ihm nicht auch noch bestätigen.
Die Vorstellung, dass Crispin fein herausgeputzt im Anzug auf eine Veranstaltung der Oberschicht ging, obwohl er sich seit Jahren erfolgreich dagegen sträubte und wehrte, war absurd und doch stand er heute - nur wenige Tage nach seinem Gespräch mit Aiden und dem Erhalt der Einladung - auf dem Anwesen, auf dem die Geburtstagsparty stattfinden sollte. Zum gefühlt hundertsten Mal fuhr seine Hand zum Knoten der Krawatte, die Luan ihm binden musste, da er selbst es nicht konnte und auch keinen Wert darauf legte, es zu lernen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sie zu lockern und abzumachen, denn er fühlte sich mit ihr wie ein wildes Tier im Zirkus, das man an einer Kette in die Manege führte, um vor dem jubelnden Publikum Kunststückchen aufzuführen - und im Grunde war er genau das. Zu sagen, dass er sich somit nicht nur durch den Anzug, in dem er steckte, unwohl fühlte, wäre die Untertreibung schlechthin. Doch ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zur Ordnung zu rufen und die Krawatte an Ort und Stelle zu lassen, denn da die Einladung an Cyrian gerichtet war, musste er sich für diesen ausgeben. Eine Tatsache, die er beinahe noch mehr hasste, als all die oberflächlichen Menschen, denen er heute gegenüberstand. Crispin liebte seinen Bruder und er sehnte sich nach diesem, doch er verabscheute es, mit ihm verglichen zu werden, geschweige denn so zu tun, als wäre er das Wunderkind der Familie Cipriano.
"Ihre Einladung, bitte, Sir", holte ihn der Pinguin aus den Gedanken, der für die Einlasskontrolle zuständig war, damit niemand Unbefugtes Zutritt bekam. Der alte Herr vor ihm kramte in seinem Jackett, bis er den Briefumschlag hervorzog und dem anderen zeigte. Dieser schien zufrieden und wies sie mit einer Handbewegung an, weiterzugehen. Als nächstes war er an der Reihe und bevor der Angestellte ihn ebenfalls dazu auffordern konnte, sich als Gast auszuweisen, hielt er ihm den Zettel entgegen - Zerknüllt, zerrissen und schlampig wieder zusammengesetzt. Der Blick seines Gegenübers sprach Bände, doch er ließ ihn nicht dazu kommen, deswegen etwas zu sagen.
"Meine Katzen dachten leider, es wäre Spielzeug für sie."
Crispin versuchte, so freundlich und bedauernd zu klingen, wie er konnte und es von Cyrian in Erinnerung hatte. Beinahe glaubte er, es würde dennoch nicht klappen, denn die Ausrede war viel zu auffällig. Dennoch studierte der Mitarbeiter die Einladung und gab sie ihm mit einem Lächeln zurück.
"Herzlich Willkommen, Mr. Cipriano. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt. Der Gastgeber erwartet sie bereits."
Wie schön für ihn, ging es ihm augenblicklich durch den Kopf. Um nicht aufzufliegen, erwiderte er jedoch nichts, sondern lief direkt weiter - hinein ins Gebäude und damit in die Höhle des Löwen.
Anders als zu Beginn geplant, nutzte er allein den offiziellen Weg auf die Party. Durch den angegebenen Link hätte er zwei weitere Personen mitbringen können, was nicht genug war, um alle hineinzuschleusen. Somit musste er sich einen Weg zum Hintereingang suchen, wo Luan und die anderen warten wollten. Zudem wäre Aidens Name ebenfalls zu auffällig gewesen, da sein Vater noch immer denselben Nachnamen trug. Crispin war sich sicher, dass sein bester Freund aus diesem Grund nicht einmal einen Fuß ins Gebäude hätte setzen können, wenn er bei ihm wäre.
All diese Gedanken rückten in den Hintergrund, als er selbst über die Türschwelle ins Innere des Hauses trat. Ein Ziehen breitete sich in seiner Brust aus - altbekannt und doch ungewohnt. Sofort hatte er den Drang alles hinzuschmeißen und zu gehen und sich irgendwo alleine dem Alkohol hinzugeben. Andererseits spürte er einen Sog, der ihn weiter nach vorne ziehen wollte, ähnlich einem Magneten, der einen anderen anzog. Crispin konnte sich das nicht erklären, doch es brachte ihn dazu, in der Vorhalle stehen zu bleiben - unschlüssig, was er tun sollte. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde sowohl das schmerzhafte Ziehen als auch der Sog immer stärker. Er war hin und her gerissen, zwischen dem Wunsch, zu gehen und die anderen somit im Stich zu lassen, und dem Drang, weiterzugehen, obwohl es dort nichts gab, außer einem Haifischbecken voller oberflächlicher Menschen, von denen er sich lieber fernhielt.
Dass auf dieser Party eine unangenehme Überraschung auf ihn wartete, ahnte er nicht im Geringsten...
Ganz anders als bei dir, flüsterte seine innere Stimme und erinnerte ihn damit daran, wie sehr er die gut betuchte Gesellschaft verabscheute und es bestärkte ihn in seinem Beschluss, keinen Fuß auf das Anwesen zu setzen, auf dem die Feierlichkeiten stattfinden sollten.
"Ich mache das Ganze auch ohne dich, aber mit dir wird es um einiges einfacher. Ich dachte, ich kann in diesem Punkt auf dich setzen, weil wir in etwa dasselbe empfinden, wenn es um diese reichen Schnösel geht. Es ist eine großartige Gelegenheit, um meinem Alten und seinem Macker eins reinzuwürgen. Und ganz ehrlich, du würdest dasselbe tun, wenn du die Chance hättest, deinen Eltern ihr Versagen vor versammelter Mannschaft unter die Nase zu reiben."
Crispin zuckte für den Bruchteil einer Sekunde zusammen, denn damit hatte Aiden einen Nerv getroffen. Ja, wenn er durch Zufall so eine Chance vor die Füße geworfen bekommen würde, würde er sie ohne Zweifel nutzen. Lange hatte er sich vorgemacht, dass er mit all dem abgeschlossen hatte, dass er seine Familie gemeinsam mit seiner Vergangenheit hinter sich gelassen und sie ihn nicht mehr beeinträchtigte, doch er hatte sich getäuscht. Das musste er in dem Moment feststellen, als er den Brief seines Bruders fand, der ihn entgegen seiner Meinung, niemals fallen gelassen hatte. Er war nach seinem Tod entstanden, sodass Cyrian nicht davon ausgehen konnte, dass er ihn jemals zu Gesicht bekam, doch das hatte er und es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen, zu lesen, wie schuldig er sich fühlte, weil er nicht so für ihn da sein konnte, wie er es gerne wollte. Gleichzeitig hatte es ihm gezeigt, wie sehr er seinen Bruder vermisste und wie perfide ihre Eltern einen Keil zwischen sie getrieben hatte. Somit würde er keine Sekunde zögern, wenn er die beiden bis auf die Knochen blamieren könnte, indem er die Maskerade, die sie sich über all die Jahre mühevoll aufgebaut hatten, aufdeckte und zerstörte.
Zu sagen, er würde Aiden nicht verstehen, wäre daher die größte Lüge, die er in dieser Sache von sich geben könnte. Ein Teil von ihm wollte ihm auch helfen, doch der weit größere sträubte sich dagegen, dort hinzugehen - allem Ärger, den sie veranstalten könnten zum Trotz.
Für einen kurzen Moment flackerte Augusts Bild vor seinen Augen auf. Sein Blick wirkte dunkler als sonst, der Ausdruck in seinem Gesicht war alles andere als erfreut über die Idee, er könnte einen ganzen Abend ohne ihn mit den Jungs verbringen. Einen ganzen Abend mit Aiden, ohne dass er diesen wachsam im Auge behalten konnte.
Ein Stich fuhr ihm durch die Brust und er presste die Kiefer aufeinander. So fest, dass er glaubte, einige Zähne würden unter dem Druck nachgeben. Ruckartig wandte er sich von seinem besten Freund ab, damit dieser es nicht bemerkte.
"Ich bleibe bei meiner Entscheidung. Ich hab was besseres zu tun, als dorthin zu gehen", gab er kalt von sich und wollte bereits den Raum und auch das Haus verlassen. Er musste raus hier, denn er hatte das Gefühl, es gäbe zu wenig Sauerstoff in diesen vier Wänden. Die Erinnerungen, die auf ihn einprasselten, schnürten ihm das Herz zusammen und drohten, ihn zu erdrücken. Es war seine eigene Entscheidung, hier zu bleiben, obwohl ihm nicht einmal Hope garantieren konnte, dass August wieder aufwachte. In seinem bisherigen Leben war er kaum masochistischer und selbstzerstörerischer gewesen, als in dem Moment, als er entschied, in dem Haus zu bleiben, in dem er mit dem Engel gelebt hatte. Er wollte ihm nahe sein. So nah wie es ging und wo war er ihm näher als hier? Doch gerade jetzt wurde ihm diese Nähe zu viel und das einzige, woran er denken konnte, war Flucht. Flucht aus dem Haus und hinein ins Vergessen. Zumindest für eine begrenzte Zeit.
"Und was hast du vor? Dich wie so oft bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, nur um morgen mit einem Kater in irgendeiner Seitengasse aufzuwachen?"
Crispin stockte und hielt inne, denn Aiden traf mitten ins Schwarze. Aber hatte er wirklich etwas anderes erwartet? Sowohl sein bester Freund als auch die anderen hatten seit Augusts Verschwinden alle Phasen der Trauer, all seine Gefühlsschwankungen und Tiefs mitbekommen und obwohl er es nie für möglich gehalten hätte, waren sie in dieser Zeit sein Anker. Sie waren das Stück Treibholz, an das er sich klammerte, um in dem weiten Ozean aus Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nicht unterzugehen. Dennoch ging es ihm gegen den Strich, vorgehalten zu bekommen, wie er damit umging.
"Das geht dich überhaupt gar nichts an!", knurrte er und funkelte den anderen an. Er war sich beinahe sicher, dass sich silberne Schlieren durch seine Augen zogen, die zeigten, was Aidens Worte in ihm auslösten. Dieser sah ihm ungerührt entgegen, denn er kannte das schon. Seit August nicht mehr an seiner Seite war, geschah dies immer häufiger. Er fuhr schneller aus der Haut und konnte seine Gefühle kaum unter Kontrolle halten. Und trotzdem wussten seine Freunde, dass er sie nicht ernsthaft verletzen würde, weshalb sein bester Freund auch zu ihm kam. Er ballte seine Hand zur Faust und ohne zu zögern zielte er mit dieser auf Crispins Gesicht. Der Schlag saß und auch wenn er ihn nicht aus dem Gleichgewicht brachte, war er doch überrascht genug, dass Aiden ihn am Kragen seines Hoodies packen konnte.
"Jetzt hör mir mal zu! Luan, Mylo, Niall und ich - wir alle waren für dich da, als du am Boden warst. Wir haben versucht, dir zu helfen, wo es nur ging. Im Grunde bist du uns was schuldig."
Crispin biss die Zähne zusammen. Seine Wut verrauchte ein wenig, denn er wusste, dass der andere recht hatte. Sie hatten ihn aus dem Dreck gezogen und zudem hatten nicht nur die Musketiere das Motto: "Einer für alle. Alle für einen." Auch bei ihnen zählte es und auch wenn er Aiden ebenfalls bereits mehrfach aus der Scheiße geholfen hatte, in die er sich liebend gern hinein manövrierte, war dies bei weitem nicht genug, um auszugleichen, was sie für ihn getan hatten. Langsam ließ er die Anspannung aus seinem Körper und seinen Blick sinken, ohne etwas zu erwidern. Sie beide wussten, dass Aiden recht hatte. Er musste es ihm nicht auch noch bestätigen.
Die Vorstellung, dass Crispin fein herausgeputzt im Anzug auf eine Veranstaltung der Oberschicht ging, obwohl er sich seit Jahren erfolgreich dagegen sträubte und wehrte, war absurd und doch stand er heute - nur wenige Tage nach seinem Gespräch mit Aiden und dem Erhalt der Einladung - auf dem Anwesen, auf dem die Geburtstagsparty stattfinden sollte. Zum gefühlt hundertsten Mal fuhr seine Hand zum Knoten der Krawatte, die Luan ihm binden musste, da er selbst es nicht konnte und auch keinen Wert darauf legte, es zu lernen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sie zu lockern und abzumachen, denn er fühlte sich mit ihr wie ein wildes Tier im Zirkus, das man an einer Kette in die Manege führte, um vor dem jubelnden Publikum Kunststückchen aufzuführen - und im Grunde war er genau das. Zu sagen, dass er sich somit nicht nur durch den Anzug, in dem er steckte, unwohl fühlte, wäre die Untertreibung schlechthin. Doch ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zur Ordnung zu rufen und die Krawatte an Ort und Stelle zu lassen, denn da die Einladung an Cyrian gerichtet war, musste er sich für diesen ausgeben. Eine Tatsache, die er beinahe noch mehr hasste, als all die oberflächlichen Menschen, denen er heute gegenüberstand. Crispin liebte seinen Bruder und er sehnte sich nach diesem, doch er verabscheute es, mit ihm verglichen zu werden, geschweige denn so zu tun, als wäre er das Wunderkind der Familie Cipriano.
"Ihre Einladung, bitte, Sir", holte ihn der Pinguin aus den Gedanken, der für die Einlasskontrolle zuständig war, damit niemand Unbefugtes Zutritt bekam. Der alte Herr vor ihm kramte in seinem Jackett, bis er den Briefumschlag hervorzog und dem anderen zeigte. Dieser schien zufrieden und wies sie mit einer Handbewegung an, weiterzugehen. Als nächstes war er an der Reihe und bevor der Angestellte ihn ebenfalls dazu auffordern konnte, sich als Gast auszuweisen, hielt er ihm den Zettel entgegen - Zerknüllt, zerrissen und schlampig wieder zusammengesetzt. Der Blick seines Gegenübers sprach Bände, doch er ließ ihn nicht dazu kommen, deswegen etwas zu sagen.
"Meine Katzen dachten leider, es wäre Spielzeug für sie."
Crispin versuchte, so freundlich und bedauernd zu klingen, wie er konnte und es von Cyrian in Erinnerung hatte. Beinahe glaubte er, es würde dennoch nicht klappen, denn die Ausrede war viel zu auffällig. Dennoch studierte der Mitarbeiter die Einladung und gab sie ihm mit einem Lächeln zurück.
"Herzlich Willkommen, Mr. Cipriano. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt. Der Gastgeber erwartet sie bereits."
Wie schön für ihn, ging es ihm augenblicklich durch den Kopf. Um nicht aufzufliegen, erwiderte er jedoch nichts, sondern lief direkt weiter - hinein ins Gebäude und damit in die Höhle des Löwen.
Anders als zu Beginn geplant, nutzte er allein den offiziellen Weg auf die Party. Durch den angegebenen Link hätte er zwei weitere Personen mitbringen können, was nicht genug war, um alle hineinzuschleusen. Somit musste er sich einen Weg zum Hintereingang suchen, wo Luan und die anderen warten wollten. Zudem wäre Aidens Name ebenfalls zu auffällig gewesen, da sein Vater noch immer denselben Nachnamen trug. Crispin war sich sicher, dass sein bester Freund aus diesem Grund nicht einmal einen Fuß ins Gebäude hätte setzen können, wenn er bei ihm wäre.
All diese Gedanken rückten in den Hintergrund, als er selbst über die Türschwelle ins Innere des Hauses trat. Ein Ziehen breitete sich in seiner Brust aus - altbekannt und doch ungewohnt. Sofort hatte er den Drang alles hinzuschmeißen und zu gehen und sich irgendwo alleine dem Alkohol hinzugeben. Andererseits spürte er einen Sog, der ihn weiter nach vorne ziehen wollte, ähnlich einem Magneten, der einen anderen anzog. Crispin konnte sich das nicht erklären, doch es brachte ihn dazu, in der Vorhalle stehen zu bleiben - unschlüssig, was er tun sollte. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde sowohl das schmerzhafte Ziehen als auch der Sog immer stärker. Er war hin und her gerissen, zwischen dem Wunsch, zu gehen und die anderen somit im Stich zu lassen, und dem Drang, weiterzugehen, obwohl es dort nichts gab, außer einem Haifischbecken voller oberflächlicher Menschen, von denen er sich lieber fernhielt.
Dass auf dieser Party eine unangenehme Überraschung auf ihn wartete, ahnte er nicht im Geringsten...