Blick in die Vergangenheit
Houghton - eine Stadt mit etwa 8000 Einwohnern irgendwo in der Pampa von Michigan in den USA. Eine Kleinstadt, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten und in der man nichts Ungewöhnliches vermutete. Und womöglich entsprach dies auch der Wahrheit - bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Familie Accardo beschloss, sich in diesem verschlafenen Städtchen ein neues Leben aufzubauen. Äußerlich wirkten sie wie Menschen und zumindest auf Michelle und Adrien - dem ältesten Sohn - traf dies auch zu. Das Oberhaupt der Familie - Bastien - hingegen war alles andere als normal. Geboren als Gestaltwandler, dessen tierische Hälfte ein Chamäleon war, stellte er selbst unter den Wandlern einen Exot dar. Die Schwangerschaft seiner Frau stellte jedoch selbst dies in den Schatten, denn sie erwartete Zwillinge, was bei dieser Gattung nur äußerst selten vorkam.
Aus diesem Grund war Julien bereits etwas Besonderes bevor er nur ein paar Minuten vor seiner Schwester Louna das Licht der Welt erblickte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass die Tatsache, dass es sich um Zwillinge handelte, nicht das einzige außergewöhnliche an den beiden Geschwistern war. Dies zeigte sich erst, als sie alt genug waren, um sich wandeln zu können, was bei ihnen in der Regel im Alter von 6 Jahren geschehen sollte. Ein Zeitpunkt, der alles andere als einfach war, kamen Kinder in den USA zu dieser Zeit doch in die Schule, was Bastien und Michelle Kopfzerbrechen bereitete, da die erste Wandlung auch dort passieren konnte, ohne dass Julien oder Louna es kontrollieren konnten.
Doch es geschah nichts. Die erste Wandlung ließ auf sich warten, wodurch seine Eltern begannen, sich Sorgen zu machen.
Da sich auch im Alter von 8 Jahren weder bei ihm noch seiner Schwester etwas zeigte, begann man zu vermuten, dass sie womöglich genau wie Adrien keine der Gene in sich trugen, die für die Verwandlung nötig waren. Um dies bestätigen oder widerlegen zu lassen, machte sie einen Ausflug nach New York und dort zu dem Arzt, der dies bereits bei Juliens älterem Bruder diagnostiziert hatte und die Familie somit kannte.
Julien selbst steckte in einem Zustand zwischen hoffen und bangen. Einerseits fand er es cool, seinen Vater dabei zu beobachten, wenn dieser sich in einem funkelnden Meer aus Farben verwandelte und auch seine Schwester stand jedes mal fasziniert neben ihm. Andererseits gab es Augenblicke, in denen er nicht wusste, ob er dies ebenfalls wollte, hatte er doch die Sticheleien in Richtung seines Vaters bereits mitbekommen, die andere Gestaltwandler, die durch das Städtchen zogen und ihn als ihresgleichen erkannten, von sich gaben. Ein Mensch, der sich in ein Chamäleon verwandelte, war auch einfach zu kurios.
Doch der Arzt, zu dem sie gingen, diagnostizierte etwas, dasl Juliens Leben und auch das seiner Familie vollkommen auf den Kopf stellte. Sowohl seine Schwester als auch er waren zwar nicht in der Lage, sich in ein Tier zu verwandeln, dafür hatten sie die Fähigkeit, andere Personen - Menschen als auch Wesen - zu kopieren. Sie waren wie ein Spiegel oder ein Klon, jedoch ohne die Erinnerungen und alles andere, was denjenigen ausmachte, ebenfalls zu kopieren. Wie dies funktionierte und vonstatten ging, erfuhr er nicht, denn als es darum ging, wurden Louna und er aus dem Zimmer geschickt. Ihre Eltern hatten Angst, was sie als Kinder damit anfangen würden und was ihnen passieren könnte, war diese Gabe doch alles andere als ungefährlich.
Erst durch einen Zufall bemerkten die Geschwister, wie sie es schafften, sich in andere Personen zu verwandeln. Eines Tages - im Alter von 10 Jahren - gaben sie sich einen Schwur, immer füreinander da zu sein, ganz egal, was das Leben auch für sie bereithalten möge, da ihre Besonderheit, Zwillinge zu sein, negative Folgen für Lounas Gesundheit hatte. Sie schnitten sich in die Handflächen und besiegelten mit einem Handschlag ihr Versprechen. Dadurch lösten sie ihre erste Verwandlung aus. Ab diesem Punkt übten die beiden immer wieder und Julien suchte nach Möglichkeiten, die Verwandlung in die Länge zu ziehen, denn anfangs hielt diese nur wenige Minuten.
Ihre Eltern bekamen davon nichts mit, bis Adrien sie bei einer Verwandlung erwischte und sie auffliegen ließ. Julien hatte schon lange gemerkt, dass sein älterer Bruder neidisch auf sie war, doch dass ihre Fähigkeiten nicht nur gute Dinge mit sich brachte und es einen Grund hatte, dass sie sich nicht wandeln sollten, erkannte er, als seine Schwester von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Die Vermutung lag nahe, dass sie aufgrund ihrer Gabe entführt wurde, doch der Polizei konnten sie dies unmöglich sagen und so tappten die Behörden im Dunkeln. Nach etwa einem Jahr wurde die Suche eingestellt und Julien spürte, wie etwas in ihm zerbrach. Er konnte fühlen, dass es Louna nicht gut ging und dass sie litt, doch ihm waren die Hände gebunden.
So machte er seinen Highschool Abschluss trotz seines überdurchschnittlichen IQs nur mit einem mittelmäßigen Ergebnis, doch für ihn war dies nicht mehr wichtig. Nachdem er ihn in der Tasche hatte und sich ein College aussuchen konnte, auf das er gehen wollte, tat er genau dies. Zumindest zum Schein, denn sein Plan war ein ganz anderer. Nur wären seine Eltern alles andere als begeistert, wenn er ihnen erzählt hätte, dass in der Zeit, in der Louna nun schon weg war, eine Idee in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte, für die er mit 16 noch viel zu jung war. Aus diesem Grund erzählte er ihnen, dass er zwar auf die Uni in Houghton gehen aber dort auch ins Wohnheim ziehen wolle. Seine Begründung war mehr Selbständigkeit und auch wenn sie aufgrund seiner Fähigkeit und dem Verschwinden von Louna besorgt waren, stimmten sie zu.
Mit seinem Vorhaben im Hinterkopf und ohne dem Wissen seiner Familie trampte er mit seinen Sachen von zu Hause bis nach Phoenix, um dort in einem Bordell zu arbeiten. Zuerst nur als Barkeeper, denn selbst für diesen Job war er eigentlich noch zu jung. Erst mit 18 konnte er seine Idee vollends nachverfolgen und in dem Etablissement auch als Callboy arbeiten. Mit der Zeit und dem nötigen Vertrauen in die Betreiber entwickelte sich sein Image als menschlicher Spiegel und er begann, sich für seine Kunden in Wunschpersonen zu wandeln. Seine eigene Gestalt blieb ab diesem Zeitpunkt für seine Kundschaft verborgen, doch durch die Exklusivität seines Angebots kam er nun endlich an die Leute heran, von denen er sich Informationen über Louna erhoffte: Mitglieder der übernatürlichen Welt und Menschen, die ebenfalls darüber Bescheid wussten, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als die meisten glaubten.