Wind Beyond Shadows

Normale Version: Nice to meet you... or not!
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Ein Spiel.
Der Dämon erwähnte es nicht zum ersten Mal in seiner Gegenwart und noch immer verstand er nicht, was damit gemeint war, denn wenn es wirklich von Anfang an ein Spiel für ihn gewesen wäre, dann hätte er es nie so weit kommen lassen. Nie hätte er es auch nur gewagt an dem heißen Sommertag seine egoistischen Gedanken vollkommenen Besitz von ihm zu nehmen zu lassen und mit dem Kuss einen Weg zu gehen, der nie wieder zurück führte. Für ihn war es nie ein Spiel gewesen.
Der verletzte Blick des anderen tat so weh, machte es für ihn unerträglich ihn weiter anzusehen. "Es tut mir Leid.", sagte er erneut, etwas lauter als zuvor und holte mit der Faust aus.
Ein gezielter Schlag in's Gesicht und sein Gegner war ausgeknockt. Und dann... Stille.
Der Regen prasselte ohne Erbarmen auf die beiden Gestalten in der dunklen Gasse hinunter, als wolle er die schmerzenden Erinnerungen wegwaschen und gleichzeitig für ihr Vergehen bestrafen. Genau so unentschlossen wie der Regen war auch der Engel, der auf die reglose Gestalt unter ihm sah, die nun mehr denn je wie der junge Teenager von früher aussah. Verletzt. Im Stich gelassen. Und dieses Mal war es wirklich seine Schuld gewesen. In diesem Moment musste er eine Entscheidung treffen und eigentlich sollte die Wahl zwischen zwei Optionen gar nicht zur Debatte stehen, aber sein Kopf und sein Herz wollten zwei entgegengesetzte Dinge, die sich ausschlossen und ihn frustriert zurückließen. Tod oder Leben? Was war richtig und was war falsch? Wer bestimmte was richtig und was falsch war? Konnte man jemanden, den man so aufrichtig geliebt und den man später zu hassen gelernt hatte einfach erneut in sein Herz schließen? Oder hatte die Person diesen wertvollen Platz niemals verlassen? August war ein nachtragender Mensch, vor allem wenn man sein Vertrauen missbrauchte, aber Crispin machte es ihm so schwer ihm nicht zu verzeihen, ihm zu sagen, dass alles wieder gut werden würde, wenn sie nur zusammen hielten und diese Hoffnung schmerzte so sehr, denn er wusste, dass es nicht mehr möglich war, dass sie diesen Weg ein weiteres Mal gemeinsam gingen. Hatte er wirklich ein Spiel mit dem Dämon gespielt? Irgendetwas musste er doch getan haben, wenn er sich für das entschied, was August so verabscheute. Oder war August derjenige mit dem gespielt wurde? Waren die Gefühle zwischen ihnen jemals echt gewesen? Verdammt! Wieso hatte Crispin ihn nicht einfach getötet und ihm stattdessen diese Entscheidung abgenommen? Wieso hatte er nicht so gehandelt wie es vorgegeben war? Jetzt lag alles an ihm und es zerfraß ihn innerlich, dass er keinen Ausweg fand, der ihn zufrieden stellte.
"Was machst du nur mit mir?", fragte er leise, obwohl er von niemanden gehört werden konnte und beugte sich hinunter, um ihn die nassen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Seine Haut fühlte sich eiskalt an und August stellte sich für einen Moment vor, er sei wirklich tot. Das himmlische Mythril seines Dolches konnte Dämonen das Leben nehmen und sie ernsthaft verletzen, aber hätte er tatsächlich die Absicht gehabt ihn zu töten, hätte er an einer anderen Stelle zugestochen, es sogar kurz und schmerzlos hinter sich gebracht. Stattdessen entschloss er sich für den langen und schmerzhaften Weg, in der Hoffnung so Zeit zu gewinnen, aber selbst die vielen Minuten, die in dieser verregneten Gasse verstrichen, fand er keine Antwort auf die Frage wie es nun weitergehen soll.
Es reichte ihm. So konnte es nicht weitergehen! Er war den Schmerz leid, er hatte es satt diesen ständigen Kampf in seinem Inneren auszuführen, der kein Ende zu finden schien. Eine Entscheidung wollte und konnte er heute nicht treffen, dazu war er mit den Nerven am Ende und einfach nicht bereit, wenn er ehrlich war. Nicht nachdem er erneut gesündigt hatte und es sich gut, vielleicht sogar besser angefühlt hatte, als beim ersten mal in dieser heißen Sommernacht. Gefahr zog ihn an, wie ein Magnet und er erwischte sich immer wieder dabei, wie sein Herz immer wieder zu dem gravitierte, das für ihn verboten war. Es hatte einen gewissen Reiz gehabt, sich auf den Menschen einzulassen und jetzt war dieser Reiz umso stärker gewesen und hatte seinen Verstand komplett mit dem Gedanken vernebelt wie diese sündhaften Lippen wohl schmeckten, wie sie sich anfühlten. Anders als früher... aber zu seinem Leidwesen mindestens genau so abhängig machend, sodass es ihm schwer fiel überhaupt einen klaren Gedanken und den Dolch im selben Moment zu fassen, um sich aus dieser Trance zu befreien.
August tat das was er am besten konnte: seine Probleme aufschieben und sich dadurch noch mehr Probleme einbrocken. Darin konnte man ihn schon fast als Profi bezeichnen und das bewies er in dieser Nacht wieder, als er in die Hocke ging, um den Arm unter den anderen zu schieben und ihn an sich zu ziehen, damit er ihn auf seinem Rücken tragen konnte. Engel und Dämonen hassten sich. Das war schon immer so gewesen und es war kaum vorstellbar oder gar akzeptierbar, dass es jemals anders sein könnte. Aber waren die beiden nicht schon immer die Ausnahme der Ausnahmen gewesen?

>> Augusts Haus

Kurz nach zwei Uhr in der Früh erreichten sie das Haus der Williams, das nur von August bewohnt wurde, nachdem den Eltern der Hülle ein schreckliches Schicksal widerfahren war. Viel wusste er nicht darüber - es interessierte ihn damals bei seiner Einschulung der menschlichen Hülle nicht besonders - und jetzt war es sowieso schon zu spät danach zu fragen, denn ändern konnte er es sowieso nicht mehr. Dennoch verspürte er einen Stich, wenn er Familienfotos sah und er wusste, dass die Seele der Hülle in diesen Momenten immer noch schwer litt.
Im Haus war es totenstill gewesen, bis der keuchende Engel, mit den Dämon am Rücken durch die Eingangstür gestampft kam. Beide klatschnass und erschöpft von dieser ereignisreichen Nacht, die eine unerwartete Wendung nahm, wenn August daran dachte, dass er den anderen mit einer anderen Intention in der Gasse konfrontiert hatte. Ihn jetzt hier bei sich zu haben, fühlte sich einerseits gut und vertraut an, aber er wusste, dass die Konsequenzen und die Frage Warum? ihn nach dem Aufwachen des anderen wie ein Schlag in’s Gesicht treffen würden. Und dafür war er, selbst nach dem einstündigen Marsch hierher, noch immer nicht bereit. Das ist Zukunfts-Augusts Problem, nicht deines. Morgen würde er sich dem allen stellen. Jetzt wollte er allerdings nur aus seinen nassen Klamotten hinaus und sich in sein Bett verkriechen. Ach und den Balast, der sich noch immer reglos auf seinem Rücken befand loswerden.
Mühevoll zog er sich seine Stiefel aus, ohne dabei die Hände zu verwenden, was es erschwerte und ihn mehrmals fast das Gleichgewicht verlieren ließ, aber er schaffte es und kickte sie neben die Eingangstür, die er gleich danach schloss, um komplett von der Wärme des Hauses eingenommen zu werden.
Den Dämon brachte er in sein Wohnzimmer, einfach weil es gleich neben dem Eingangsbereich lag und seine Arme, sowie sein Rücken schon sehr von dem Gewicht des anderen schmerzten. Vorsichtig ließ er Crispin auf das Sofa hinunter und seufzte erleichtert auf, als er dadurch endlich entlastet wurde und sich einmal ausgiebig strecken konnte. Seine Kleidung klebte unangenehm an seiner Haut und am liebsten hätte er sich sofort umgezogen, aber vorerst galt es den Dämon so weit zu verpflegen, dass er das Sofa nicht komplett durchnässte.
August begann bei den Stiefeln, deren Schnürsenkel er lockerte und sie dann mit einem Ruck auszog und sie neben dem Couchtisch abstellte. Danach folgte der Hoodie des anderen aus und fragte sich dabei, ob ihm nicht schon die ganze Zeit kalt gewesen war. August wäre erfroren. Er hasste die eisige Kälte mindestens genau so viel wie die Hitze, aber in klatschnasser Kleidung war es unerträglich für ihn und absolut nicht nachvollziehbar, wie der Jüngere so umherlaufen konnte. Das Shirt darunter zog er ihm ebenfalls aus und biss sich dann auf die Lippen, als er bei den zerrissenen Jeans ankam. Unter anderen Umständen hätte er das hier gerade sehr genossen, den Cris hatte an Muskelmasse zugelegt und sah - selbst wenn er sich das nicht eingestehen wollte - sehr, sehr gut aus. Ihm war es schon oft aufgefallen, dass Dämonen etwas verruchtes, etwas düsteres an sich hatten - im Gegenzug zu Engeln, die dadurch eine unschuldigere und anmutigere Aura bekamen. Aber hier war keine Zeit für solche Gedanken. Erstens war Cris bewusstlos, verletzt und nicht zuletzt ein gottverdammter Dämon. So professionell und schnell wie möglich entfernte er das letzte Kleidungsstück und legte alle Klamotten auf seine Heizung unter dem Fensterbrett, um sie zu trocknen. Damit der Jüngere nicht fror, zog er die Decke über seinen entblößten Körper und wickelte ihn dabei so ein, dass er einem Burrito ähnelte. Das diente nicht zuletzt einem Selbstverteidigungsmechanismus, denn wenn der Dämon aufwachte, konnte er seine Arme sicher nicht richtig bewegen, bis er sie befreit hatte, was August genug Zeit gab um sich in Sicherheit zu bringen. Den fertig eingewickelten jungen Mann platzierte er dann etwas höher, sodass sein Kopf sich in die mehreren Kissen legen konnte, die August richtete, während er neben ihm, auf der freien Kante saß.
Sein fertiges Werk betrachtete er mit einem stolzen Lächeln, das sogleich wieder verschwand, als er den Dämon seelenruhig im Schlaf leise aufschnauben hörte. Seine langen Finger strichen ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht und fuhren dann von seinem Haaransatz in einer flüssigen Bewegung hinunter zu seinem Kinn, dass er ganz leicht anhob. "Wieso tust du mir das an...?", flüsterte er und meinte damit so vieles. Wieso war er ein Dämon geworden und hatte damit alles zerstört was sie gehabt hatten? Wieso hatte er sich in der Gasse nicht richtig gewehrt und ihn nur in Schach gehalten? Wieso hatte August schon ein fast hoffnungsvolles Funkeln in seinen Augen gesehen, als sie sich beide voneinander lösten? Er machte es ihm so schwer. Es war unerträglich für ihn und für einen weiteren, kurzen Moment ließ er seinen Egoismus gewinnen und drückte einen weiteren Kuss auf die Lippen, von denen er sich nur schwer wieder lösen konnte, aber es tun musste, denn es war für ihn der Abschluss zu allem. Der Abschluss den sie nie gehabt hatten und den er sich jetzt als Schlussstrich nahm, um fortan das zu tun, was laut seinen Gesetzen richtig war, selbst wenn es schwer für ihn werden würde. "Sobald du aufwachst sind wir wieder Feinde.", sagte er leise, eher zu sich selbst als zu dem Dämon und strich ihm sanft über das langsam trocken werdende Haar. Er verweilte noch einige Minuten in der Position, nahm die einzelnen Details den anderen auf und lächelte bitter. Wenn sie nicht füreinander bestimmt waren, wieso brachte sie dann das Schicksal immer wieder zusammen?
Erschöpft stand der Engel nach diesem kurzen einseitigem Austausch auf und verschwand in seinem Bad, um zu duschen und schließlich in frischen Klamotten wieder im Wohnzimmer aufzutauchen, wo er auf dem großem Stoffsessel Platz nahm, der gegenüber von dem Sofa lag. Von dort aus beobachtete er den schlafenden Dämon, bis sein Blickfeld langsam verschwamm und auch er in einen tiefen Schlaf fiel...

Crispin Cipriano

Noch im Halbschlaf drückte Crispin sein Gesicht weiter in die Kissen, um der Sonne zu entgehen, die auf ihn fiel und ihn kitzelte. Doch es brachte nichts und er gab einen unwilligen Laut von sich. Wieso konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe weiterschlafen lassen? Mit einem leisen Grummeln wollte er sich rein aus Gewohnheit die Decke über den Kopf ziehen, merkte dann allerdings, dass er seine Arme nicht bewegen konnte, um dies zu tun. Schlagartig öffnete er die Augen, brauchte aber dennoch ein wenig Zeit, um sich zu orientieren. Wo war er und wie kam er überhaupt hierher? Und wieso lag er vollkommen in eine Decke eingepackt auf einem Sofa? Er konnte sich an kaum noch etwas erinnern. Weder, was genau geschehen war, noch wie er hergekommen war - was vielleicht einfach daran lag, dass er noch nicht ganz munter war. Crispin versuchte sich aufzusetzen, aber auch das klappte nicht. Allerdings merkte er dadurch, dass ihm trotz des bequemen Sofas außer der Wunde in seiner Seite alles weh tat, weil er wohl die ganze Nacht in einer Position gelegen hatte, was ihm ein erneutes Grummeln entlockte. Bevor er daran jedoch etwas änderte, wollte er erst einmal wissen, wo er eigentlich war.
Schwerfällig glitt sein Blick durch den Raum und wenn ihm nicht schon anhand der Einrichtung klar geworden wäre, wem dieses Haus gehörte, hätte er es spätestens dann gewusst, als er bemerkte, dass August ihm gegenüber in einem Sessel saß und schlief. Und mit einem Mal erinnerte er sich doch an die letzte Nacht. Daran, dass der Engel ihm aufgelauert hatte und er ihm in die Falle getappt war. Daran, dass er, obwohl er geschworen hatte, August dafür bezahlen zu lassen, was er ihm angetan hatte, nicht in der Lage war, sich gegen ihn wirklich ernsthaft zur Wehr zu setzen. Und auch an den Kuss…
Bei der Erinnerung daran biss er die Zähne zusammen, ballte die Hände unter der Decke zu Fäusten und er war froh, dass ihm zumindest dafür genug Bewegungsfreiheit blieb. Seinen Blick wandte er ebenfalls ab, da er es nicht ertrug, ihn weiter anzusehen. Für einen Augenblick hatte er tatsächlich geglaubt, dass August es vielleicht doch ernst mit ihm gemeint hatte und sie trotz aller Differenzen und Unterschiede, trotz aller Regeln, eine Chance auf ein Wir hatten. Doch es war ein Irrtum - genau wie im letzten Jahr. Und er war so dumm, dass er darauf hereingefallen war, sowohl damals auch in der letzten Nacht. Doch genauso dumm war es, dass sein Herz trotz allem immer noch hoffte, dass er sich irrte. Dass alles, was der Dämon ihm damals erzählt hatte, eine Lüge war, aber die Tatsachen sprachen dagegen. Der Engel hatte die Zuständigkeit für ihn abgegeben, hatte ihn und ihre gemeinsame Zeit aufgegeben, weil er es niemals ernst mit ihm meinte. Und als wenn das nicht reichte, so hatte er ihn nach dem Kuss niedergestochen und anschließend einfach bewusstlos geschlagen. Dieser erneute Kuss war einfach nur eine weitere Möglichkeit, um ihn zu verletzen, weil er sich und seine Gefühle nicht im Griff hatte und August es mit Sicherheit gemerkt hatte, dass er noch immer etwas für ihn empfand.
Plötzlich nahm er aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr, wurde aus seinen Gedanken geholt und er sah nun doch wieder zu dem Engel, da er dachte, dass dieser vielleicht wach geworden war. Doch er hatte lediglich versucht, es sich auf dem Sessel bequemer zu machen - was mit Sicherheit alles andere als einfach war. Nachdem er sich versichert hatte, dass er noch immer schlief, hätte er eigentlich wieder wegsehen können, denn es schmerzte immer noch, ihn anzusehen. Stattdessen lag sein Blick weiterhin auf ihm und es kamen ihm Fragen in den Kopf, die ihn absolut verwirrt zurückließen.
Warum hatte August ihn nicht einfach getötet? Sowohl als er wegen der Verletzung kaum in der Lage war, sich zu bewegen, als auch nachdem er von ihm niedergeschlagen wurde, wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, ihn zu töten. Also wieso hatte er es nicht getan, sondern ihn hierher getragen und sich auch noch um ihn gekümmert? Er verstand es nicht, aber während diese Fragen seinen Kopf völlig verwirrten, hatte sein Herz seine ganz eigene Meinung dazu und schlug einen Tick schneller. Konnte es sein…? Konnte es sein, dass er sich wirklich irrte?
Doch schon während er darüber nachdachte, erinnerte er sich an etwas, das ihm der Dämon, der ihm half, damals gesagt hatte:
Du solltest nichts von dem glauben, was ein Engel dir sagt und stattdessen alles hinterfragen, was er tut. Nach außen hin tun sie hilfsbereit, als würden sie nur dein Bestes wollen. Doch eigentlich wollen sie doch nur ihren Spaß haben. Für sie sind Menschen nichts weiter, als niedere Wesen und sie hassen jeden einzelnen, weil sie für euch da sein müssen. Und genau aus diesem Grund spielen sie Spielchen mit euch, doch sobald sie die Lust an ihrem Spielzeug verlieren oder es - wie in deinem Fall - an dem Punkt haben, wo ihr am verletzlichsten weiß, werfen sie euch weg, wie ein benutztes Taschentuch. Es wird immer gesagt, die Dämonen wären Monster, aber die wahren Monster sind die Engel. Erst, wenn sie einem Dämon ihre Waffe ins Herz rammen, um ihn zu töten, tun sie etwas ohne Hintergedanken.
Er hatte recht, oder? Genau das war ihm doch mit August passiert. Er hatte ihn fallen lassen, als er merkte, wie viel er ihm bedeutete - dann, als er am verletzlichsten war, weil er sich in den Engel verliebt hatte. Und weil er so dumm war und nicht aufgepasst hatte, dem anderen unbewusst gezeigt hatte, dass es noch immer so war, er tief in seinem Inneren noch immer so fühlte, spielte er wieder mit ihm und genau aus diesem Grund hatte er ihn nicht getötet, als er die Möglichkeit dazu hatte. Deswegen hatte er ihn stattdessen hierher gebracht.
Crispin grub seine Nägel tiefer in seine Handflächen, als er spürte, wie er wütend wurde. Nie wieder würde er so dumm sein. Im Gegensatz zu August würde er seine Chance nicht vertun und er würde bei diesen Spielchen definitiv nicht mehr mitmachen. Mühsam versuchte er sich aus der Decke zu befreien - was sich als schwieriger erwies, als er dachte. Der Engel hatte gute Arbeit geleistet, als er ihn so eingepackt hatte. Nach einigem Hin und Her bewegen auf dem Sofa, bei dem er allerdings versuchte, keine lauten Geräusche zu machen, schaffte er es seine Arme zu befreien. Anschließend schälte er sich aus der Decke - bei der ihm nur kurz der Gedanke kam, dass August seine Vorliebe für Kuscheldecken scheinbar noch immer besaß - und stellte leise seine Füße auf den Boden. Dabei behielt er den Engel die ganze Zeit im Auge, um schnell reagieren zu können, sollte er wach werden. Langsam stand er auf, wollte gerade den ersten Schritt laufen, als er merkte, wie er schwankte und die Wunde in seiner Seite schmerzhaft zog. Er verzog das Gesicht und presste eine Hand auf die Stelle. Auch wenn es schon lange aufgehört hatte, zu bluten, war es doch noch nicht verheilt, da die Klinge aus Mithril bestand. Doch trotz der Schmerzen und der Tatsache, dass er sich durch den Blutverlust immer noch schwach fühlte, wollte er nicht aufgeben. Dass August ihn fast komplett aus seinen Klamotten geschält hatte, ignorierte er ebenfalls, denn die leichte Kälte störte ihn nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er bei dem Sessel ankam, in dem August noch immer schlief - nichtsahnend, dass er sich in Gefahr befand. Zumindest hatte er vorgehabt, dass dieser in Gefahr war, denn als er ihn so sah - friedlich schlafend - und jedes kleine Detail von ihm wahrnahm, hielt er inne. Vor ihm saß die Person, die er noch immer liebte und doch hasste, weil er nur mit ihm gespielt hatte. Und genau wie in der Nacht fühlte er sich nicht in der Lage etwas zu tun und er hasste sich selbst dafür.
Tu es! Tu es, bevor er aufwacht und deine Chance vorbei ist!
Doch er konnte nichts weiter tun, als ihn einfach nur weiter anzusehen. Wieso nur musste ihm sein Herz immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen…?
Die Nacht auf dem Sessel zählte mitunter zu einer der unangenehmsten. Alles schmerzte ihm, vor allem sein Rücken, und er verfluchte sich dafür sich gegen sein eigenes Bett entschlossen zu haben. Oben hätte er eine ruhige, angenehme Nacht gehabt und wäre den jungen Mann wahrscheinlich am nächsten tag los gewesen, da er stark vermutete, dass Cris einen schnellen Abgang gemacht hätte, wenn er realisierte wo er war. Aber wollte er das? Das wäre auf jeden Fall das was er wollen sollte, aber trotzdem empfand er es besser hier im Wohnzimmer zu bleiben und den anderen im Auge zu behalten - sich den Konsequenzen am nächsten Morgen zu stellen. Warum?
Seine Augen öffneten sich langsam und sofort begegnete sein Blick dem des Dämons, den er kurz von oben bis unten musterte, ehe er ihm ein angedeutetes Grinsen schenkte. Welches allerdings nicht lange anhielt, den er wusste ganz genau, weshalb sich Crispin ihm genähert hatte. Seine zögerliche Haltung irritierte ihn allerdings - hätte er doch genau jetzt die Chance dazu gehabt alles zu beenden und das mit wenig Mühe, wenn man bedachte, dass der Engel bis vor ein paar Minuten noch tief und fest geschlafen hatte. "Was soll das werden, wenn es fertig ist?", fragte er provozierend und sah von seinem Sessel zu ihm hinauf, ohne sich vorerst zu bewegen. "Wenn du mir imponieren willst, dann muss ich dich leider enttäuschen. Das zieht bei mir nicht mehr." Was zugegebenermaßen gelogen war, denn wie konnte er bei einem Anblick wie diesem, unter normalen Umständen, nicht verlegen werden? Wenn nur nicht gerade sein Leben davon abhinge, denn wie zu erwarten, hatte der Dämon vor gehabt ihn anzugreifen. Irgendwo, ganz tief in seinem innerstem - es mochte mit seiner Gutmütigkeit zusammenhängen - war ein kleiner Hoffnungsschimmer, der ihm leise zuflüsterte, dass Crispin es nicht tun konnte, weil er seine Gefühle für den Engel noch nicht komplett abgestellt hatte. Aber ein viel größerer Teil von ihm hatte eine plausiblere Erklärung: Er war verwundet und deswegen in seiner Bewegung eingeschränkt und beeinträchtigt. Die Wunde unter seinen Rippen sah nach wie vor nicht schön aus und musste verarztet werden, für den Fall, dass es schlimmer wurde. Die Selbstheilung des Dämons mochte vielleicht ausreichen um normale Wunden zu heilen, aber August hatte gestern keine normale Waffe verwendet, um ihn zu verletzen. Himmlische Waffen waren eben doch etwas anders, als das Verteidigungsarsenal eines gewöhnlichen Menschen, was aber hauptsächlich daran lag, dass Menschen ihr Leben nicht der Jagd von Dämonen widmeten.
Um nicht wie das Schwein am Silbertablett zu Enden ergriff August die Chance, es gar nicht erst dazu kommen zu lassen, dass sich der andere zur Wehr setzen konnte, indem er seinen Fuß zwischen die Knöchel des anderen schob, sein Bein abwinkelte, sodass es um das von Crispin geschlungen war, und zog es mit einem Ruck an sich, um den anderen zum Fall zu bringen. Sicher schmerzhaft für ihn, aber wenn er sowohl sein eigenes Leben, als auch das des andere retten wollte, dann mussten Opfer gebracht werden - in Form eines jungen, verletzten, halbnackten Dämons auf seinem Parkettboden. "Du bist viel zu schwach, um dich mit mir anzulegen.", mahnte er genervt und beugte sich zu ihm hinunter, um die Wunde abzutasten. Sie musste verarztet werden, damit sie schneller heilte. Außerdem fiel ihm auf, dass Crispins Körper ungewöhnlich warm war. Er hatte doch nicht etwa Fieber? Seine Hand strich von der Wunde hinauf zu seiner Stirn, die bereits glühte und er konnte es nicht vermeiden, dass es seinem Herz einen Stich versetzte, wenn er daran dachte, dass er daran Schuld war. "Idiot... Du hättest auf dem Sofa unter der Decke bleiben sollen.", zischte er und griff dabei unter die Arme des anderen, um ihn hochzuheben und wieder zurück auf das Sofa zu setzen, wo er erneut die Decke über seine Schulter legte, aber sich dieses mal dagegen entschied ihn einzuwickeln. Um seinen Fragen auszuweichen - die er ihm sicher gleich stellen würde - richtete er sich sofort auf, um in der Küche zu verschwinden und ihn alleine zu lassen, bis er nach 15 Minuten mit Verbandszeug und einem Tee zurückkam und sich mit beidem an das eine Ende der Sitzgarnitur setzte. "Lass mich sehen.", sagte er kühl und schob den dicken Stoff der Decke beiseite, um erneut mit den Fingern sanft über die Wunde zu streichen. Ja, vielleicht nutzte er die Trägheit des anderen gerade aus. Aber August war schon immer ein egoistischer Mensch und Engel gewesen.
"Halt still.", befahl er, ohne den anderen anzusehen. Seine blassen Hände griffen nach einem seltsam schimmerndem blauen Tiegel, der eine Salbe zu beinhalten schien die er auf die verwundete Stelle schmierte. Sie roch etwas nach Menthol und Wacholder, vermischt mit einer ganz besonderen Note, die nur Engel kannten: Ambrosia. Der Anteil in der Salbe war allerdings so gering, dass er auch für andere Wesen verwendet werden konnte, solange man nicht zu viel verwendete. Da es nach einer Zeit zu jucken beginnen würde, entschloss sich der Engel für ein großes Pflaster, dass er sorgfältig über der Wunde platzierte und mit beiden Händen befestigte. Währenddessen sagte er kein Wort, hob kein einziges Mal den Blick, damit er mehr Zeit hatte um sich Antworten auf die Frage Warum? zusammenreimen konnte, die der Jüngere vermutlich jeden Moment stellen würde.

Crispin Cipriano

Einige Momente lang, hatte Crispin noch die Chance, seinen Plan doch noch in die Tat umzusetzen, doch stattdessen betrachtete er ihn einfach nur weiter, genoss regelrecht den Anblick des schlafenden Engels, als wäre er ein wunderschönes Kunstwerk und nicht sein Feind. Zumindest bis August die Augen öffnete und die ersten Worte, die er herausbrachte, dafür da waren, ihn zu provozieren. Was aber vielleicht auch ganz gut so war. Besser, als zögernd dazustehen und mit sich zu ringen, was man tun sollte. Wütend zu werden und auf die Provokation einzugehen, war so viel einfacher, als sich mit den eigenen Gefühlen für den anderen auseinanderzusetzen.
“Dir zu imponieren wäre inzwischen das Letzte, was ich wollen würde!” Lüge.
Ein Teil von ihm wollte es - immer noch und ganz unabhängig davon, was zwischen ihnen war. Aber er wollte August nicht noch einmal zeigen, wie es in ihm wirklich aussah - nicht, nachdem er in der Nacht diesen Fehler bereits unbewusst begangen hatte und es direkt ausgenutzt wurde. Aus diesem Grund ließ er den ersten Satz des Engels auch vollkommen unkommentiert, denn ihm zu sagen, dass er ihn töten wollte, würde ebenfalls zu viel verraten, da er es eben nicht einmal versucht hatte. Eine weitere Erklärung wäre zwar, dass er durch die Verletzung ein wenig eingeschränkt war und deshalb nichts getan hatte, aber er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob August ebenfalls nur daran denken würde.
Dass er nicht ganz auf der Höhe war, zeigte sich allerdings im nächsten Moment, in dem er, ohne etwas dagegen tun zu können, auf dem Boden landete, weil August ihm einfach die Beine weggezogen hatte. Durch den Schmerz blieb ihm kurz die Luft weg, doch er unterdrückte es, auch nur einen Laut von sich zu geben. Diese Genugtuung wollte er dem anderen nicht geben. Ein leichtes Zusammenzucken konnte er dann jedoch dennoch nicht verhindern, als August nach der Wunde sah und diese berührte.
“Fass mich nicht an!”, zischte er, doch was sollte er schon dagegen tun? Er war kaum in der Lage sich zu rühren, weil der Schmerz in seiner Seite wieder stärker wurde und zudem fühlte er sich auch allgemein einfach viel zu matt - ein Gefühl, dass er nur zu gut von den vielen Malen kannte, wenn er sich nach einer seiner Touren durch den Regen, eine Erkältung eingefangen hatte. Dass dies ausgerechnet jetzt ebenfalls der Fall war und ihm neben der Wunde noch zusätzlich Kraft kostete, war allerdings alles andere als ein passender Zeitpunkt. Nicht dann, wenn er August somit regelrecht ausgeliefert war.
Dieser nutzte seinen geschwächten Zustand auch direkt, um ihn erneut aufs Sofa zu verfrachten und ihm die Decke wieder umzulegen - nur um anschließend aus dem Raum zu verschwinden und ihn alleine zu lassen. Einen Kommentar blieb er ihm damit also schuldig, aber diesen würde er noch bekommen. In der Zeit, die er nun alleine war, fragte er sich allerdings, warum der Engel das alles tat? War es aus demselben Grund, wegen dem er ihn überhaupt hierher gebracht hatte, anstatt ihn direkt zu töten oder wenigstens in der Gasse liegen zu lassen? War es wirklich, weil er sich einen Spaß daraus machte, zu sehen, wie er darauf reagierte und mit jeder dieser Aktionen einfach nur noch verwirrter war, weil sein Herz gegen seinen Verstand kämpfte?
Wieder einmal waren es Fragen, die er sich nicht beantworten konnte und über die er eigentlich auch gar nicht nachdenken wollte, weil sie ihm zusätzlich nur Kopfschmerzen bereiteten - und diese konnte er absolut nicht gebrauchen. Mit einem leisen Grummeln schloss er die Augen und zog die Augenbrauen zusammen, da sein Kopf dennoch keine Ruhe geben wollte. Erst als August wieder bei ihm war, eine Tasse mit dampfendem Inhalt, und Verbandszeug in den Händen, öffnete er die Augen wieder und sah zu ihm.
“Du kannst dir deine Sorgen sparen! Ich weiß sehr gut, was ich tue!”
Crispin konnte nicht verhindern, dass er genau den Satz sagte, den er so oft in solchen Situationen benutzt hatte - und wie immer stieß er damit auf taube Ohren, da August dennoch einfach das tat, was er immer tat: Sich um ihn kümmern. Und er selbst konnte sich durch seinen geschwächten Zustand nicht dagegen wehren. Zudem stand die Frage im Raum: Wollte er das überhaupt?! Dass er es tun sollte, weil es einfach nicht normal war, sich als Dämon von einem Engel verarzten zu lassen, stand überhaupt nicht zur Debatte, aber wollte er es auch?
Bevor er jedoch weiter sinnlos darüber nachdenken konnte, da er an seiner Situation auch nichts ändern konnte, zog August seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem er die Wunde ein weiteres Mal berührte und er wieder zusammenzuckte. Ein Zischen entfuhr ihm, weil nicht nur jede Bewegung, sondern auch jede Berührung einfach weh tat. Er sagte allerdings nichts, sagte ihm nicht noch einmal, dass er ihn nicht anfassen sollte, da auch das einfach nichts bringen würde - und würde nicht jede einzelne Berührung an der Wunde wehtun, würde er die Behandlung wohl auch genießen. Stattdessen beobachtete er einfach nur stumm, wie August mit geschickten Fingern seine Wunde versorgte. Dieser hatte darin wirklich unglaublich viel Übung - nicht zuletzt, weil er ihn so oft verarzten musste. In der Zeit, die sie zusammen hatten, war er ausgeglichener, hatte nicht ganz so häufig Streit angefangen, als vorher und doch hatte August oft genug damit zu tun, ihn wieder zusammenzuflicken. Und genau jetzt fühlte es sich wieder genauso an - so vertraut als hätte sich nichts zwischen ihnen geändert, auch wenn er es nicht darauf angelegt hatte, dass sie in diese Situation kommen würden.
Anders als damals. Crispin hatte keine Ahnung, ob der Engel wusste, dass er viele Situationen geradezu herausgefordert hatte. Und damit meinte er nicht nur die Prügeleien, die er in der Zeit angezettelt hatte, sondern auch die häufigen Male, in denen er trotz Augusts Ermahnungen, genau wie in der letzten Nacht ungeschützt durch den Regen gelaufen war. Er hatte es provoziert, krank zu werden, weil er wusste, dass der Kleinere sich um ihn kümmern würde. Er hatte dieses Wissen so viele Male ausgenutzt und ein schlechtes Gewissen war dabei Fehlanzeige. Es war einfach ein schönes Gefühl zu wissen, dass es jemanden gab, der sich um ihn kümmerte. Ein Gefühl, das er in dieser Form vorher nicht kannte, da seine Familie seinen großen Bruder vorzog und wenn er auf diese Art versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, stießen sie ihn gefühlt nur noch mehr von sich.
August war da anders. Er tat genau das, was er mit seinem Verhalten bezweckte und er war zu egoistisch, um sich deswegen schlecht zu fühlen.
Und auch jetzt konnte er nicht leugnen, dass er diese Behandlung genoss. So sehr, dass er beinahe vergaß, dass August derjenige war, der ihm diese Verletzung überhaupt zugefügt hatte. Deshalb fragte er sich ein weiteres Mal, warum der Engel das überhaupt tat? Wieso verletzte er ihn erst, wenn er ihn nicht einmal 12 Stunden später wieder einmal zusammenflickte? Er fand darauf einfach keine Antwort und somit entschied er sich den anderen einfach zu fragen - auch wenn er dabei versuchte, zu verstecken, wie sehr ihn das alles tatsächlich verwirrte. Bevor er die Stille, die sie nun schon seit mehreren Minuten umgab, durchbrach, zog er jedoch die Beine aufs Sofa - wobei er vor Schmerzen das Gesicht verzog - und hüllte sich komplett in die Decke ein, da ihm durch sein Fieber doch langsam kalt wurde. Anschließend musterte er den Engel, versuchte dadurch schon eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage zu erhalten, doch das Augusts Gesicht war einfach undurchschaubar.
“Warum zum Teufel machst du das eigentlich?! Schließlich wäre es viel einfacher für dich, es hier und jetzt zu beenden! Dass, was du gestern schon hättest tun können!”
Bereits als er diese Worte ausgesprochen hatte, erinnerte er sich ein weiteres Mal daran, was ihm über Engel gesagt wurde und er wandte schon beinahe trotzig den Blick ab.
“Aber weißt du was?! Spar dir die Erklärung! Hör einfach nur auf damit! Hör auf, mich zu behandeln, als wärst du immer noch mein Schutzengel und dazu verpflichtet, dich um mich zu kümmern… Hör auf, so zu tun, als wäre es dir wichtig, wie es mir geht… Denn im Grunde ist nichts davon ernst gemeint und war es auch nie!”
Ganz entgegen seines Vorhabens, August nicht zu zeigen, wie es in ihm aussah, konnte er doch nicht verhindern, dass er wieder einmal verletzt klang. Dabei wollte er ihm nicht noch mehr Möglichkeiten geben, um mit ihm zu spielen, seine Gefühle auszunutzen und ihn damit noch weiter zu verletzen. Er biss sich auf die Zunge, um nicht noch mehr zu sagen und wühlte eine Hand unter der Decke hervor, um nach der Tasse mit dem Tee zu greifen. Da wo verzog er ein weiteres Mal vor Schmerz das Gesicht und verfluchte auch dafür, dass er im Moment so schwach. Nach einem weiteren Augenblick, in dem er zusätzlich kurz aufkeuchte, nur um sich hinterher direkt wieder auf die Zunge zu beißen, erreichte er die Tasse und nahm sie an sich. Sie war einfach eine gute Möglichkeit, um August nicht ins Gesicht sehen zu müssen, während er darauf wartete, dass irgendeine Erwiderung auf seine Worte kam.
Wieso sagte er das? Wieso tat er ihm mit diesen Worten so weh? Hatte ihm das alles nichts bedeutet? Oh Gott, es schmerzte wieder so sehr. Wieso musste es so weh tun?
Wer auch immer behauptete, dass im Jenseits, im Himmel alles besser wurde, der hatte sich gewaltig geirrt. Passte man sich an, stellte man seine Gefühle in den Hintergrund und widmete man sich nur seinen Aufgaben, dann vielleicht. Nicht aber, wenn man auch nur einen Funken Egoismus in sich trug. Wie schafften es seine Geschwister der Versuchung zu widerstehen? Wie schafften sie es erfolgreich damit davonzukommen, während er die komplette Last für sein Vergehen tragen musste? Der Gedanke, das nun alle Engel aus dem Himmel verbannt wurden, tröstete ihn dabei nur wenig, denn jetzt war es größtenteils egal, wer sich auf wen einließ. Die meisten hatten die Hoffnung verloren überhaupt wieder in den Himmel zurückkehren zu könne und auch August wusste nicht, wann es wieder soweit sein würde, aber seine Hoffnung starb zuletzt. Mit Sicherheit würden sie ihm sein Vergehen verzeihen, sobald es wieder soweit ist, wenn er in der Zwischenzeit keine Dummheiten anstellte. Wie zum Beispiel sich ein weiteres mal auf den jungen Erwachsenen einzulassen, der gerade unter Schmerzen versuchte die Teetasse an ihn zu nehmen und dabei das Herz des Engels erwärmte, da der Anblick von dem Größeren, der wiederum in der Decke eingewickelt war und auf seinem Sofa lag, ihn ihre gemeinsame Zeit erinnerte.
Dass Crispin sich oft absichtlich in Gefahr brachte, hatte er schnell durchschaut, jedoch nie etwas gesagt, da er Angst hatte, dass er dadurch den Kontakt zu ihm verlieren würde. Ja, es war sehr eigennützig von ihm und irgendwo auch sehr rücksichtslos, dass er es zuließ, dass der damaligen Teenager sich immer wieder in Gefahr gab oder krank wurde. Aber es hatte etwas so Befriedigendes und Zuneigungsvolles ihn am Abend in seine Arme zu nehmen, seine Wunden zu verarzten und seine Schmerzen aus dem Gesicht zu küssen, bis der Jüngere eingeschlafen war. Du musst besser auf dich Acht geben., sagte er dann meistens und auch wenn Cris es mit einem zustimmungsvollem Ton bejahte, wussten sie beide, dass es nicht das letzte Mal sein würde, dass sie so beieinander saßen und August ihn verpflegte. Vielleicht ging es dem Jüngeren genau so wie ihm, wenn er dachte, dass sie sonst eigentlich keinen Grund hatten sich so oft zu sehen, denn die Aufgabe eines Schutzengels bestand lediglich nur darin, dem Schützling zu helfen, wenn dieser krank, verletzt oder in Lebensgefahr war. Spontane Treffen sah man ungern und für gewöhnlich musste man auch einen guten Grund dafür nennen. Der Schwarzhaarige behauptete meistens, dass er sich zudem an die Hülle gewöhnen wollte, was ja auch zum Teil stimmte - nicht jedoch aus dem Grund, dass er sie später auch komplett übernahm, so wie es jetzt war. Das war ungeplant.
Genau so wie diese Rettungsaktion von vorhin. Genau so gut, hätte er Crispin in der Gasse liegen lassen können, wenn er ihn schon nicht umbringen wollte. Das wäre doch auf das Gleiche gekommen oder nicht? Cris wäre noch am Leben und beide wären ihre Wege gegangen und alles wäre halbwegs gut gewesen. Wäre August nicht so eigensinnig und selbstzerstörerisch. Den anderen wieder bei sich zu haben und sich um ihn zu kümmern, klang in seinen Ohren viel zu verlockend, sodass er alle negativen Faktoren beiseite geschoben und sich dafür entschieden hatte ihn mit nach Hause zu nehmen. Man konnte durchaus meinen, dass er irgendwo masochistisch veranlagt war, denn er wusste, dass es schmerzen würde, den Dämon hier - wie in guten alten Zeiten - sitzen zu sehen, aber ihn nicht mehr so zu berühren wie früher. Keine verspielten Küsse mehr, keine Umarmungen mehr, bis einer von ihnen einschlief und sich dabei an den anderen kuschelte... Himmel, wie sollte er das überstehen? Er sehnte sich so sehr nach dem anderen und obwohl er gleich neben ihm saß, fühlte es sich an, als wäre eine große Kluft zwischen ihnen, die August nicht zu überwinden wusste.
"Weil ich-..." Weil du was? Ihn noch immer magst? Nicht genug von ihm bekommen kannst, obwohl er dich hintergangen hat? "Dich in dem Zustand zu töten wäre unfair gewesen. Du bist krank. Ich werde es sicher nicht ohne einen fairen Kampf beenden." Lüge. Lüge. Lüge. Er würde es niemals beenden. Nicht, wenn Cris ihn immer noch mit dem gleichen Blick ansah wie früher und ihm dadurch Hoffnung machte, dass da trotz des neuen Körpers, trotz seines anderen Wesens, noch immer etwas von dem alten, liebevollen, frechen ...seinem Crispin da war. Sein Herz hätte es niemals verkraftet, wenn der Dämon starb und August im Nachhinein herausfand, dass er noch immer etwas für ihn empfand. Das würde ihn komplett zerstören und dafür hatte er keine Kraft. Nicht, nachdem er bereits ein mal gebrochen wurde.
"Halt den Mund! Es ist meine Sache, ob ich dich hier verarzte oder nicht. Es ist meine Sache, ob mich dein Wohlbefinden kümmert oder nicht.", sagte er dann etwas lauter und in einem wütendem Ton, weil ihn die Worte wieder einmal viel zu nahe gingen und ihn verletzten. Wie konnte er nicht wissen, dass August alles für ihn getan hätte? Wie konnte er behaupten, dass nichts von allem was sie bis jetzt erlebt hatten nicht Ernst gemeint war? Seine Liebe zu dem damaligem Teenager war immer aufrichtig gewesen, etwas Kostbares, dass er mehr hütete als alles andere auf dieser Welt. Crispin war für ihn der wertvollste Mensch in seinem (Nach)Leben und alles was er jemals zu ihm gesagt hatte war ehrlich und ernst gemeint. "Und jetzt gib einfach Ruhe! Du musst dich schonen, sonst reißt deine Wunde noch auf. Oder dein Fieber wird höher.", meinte er und versuchte dabei so sachlich wie möglich zu klingen.
Fieber war nicht's Neues für die beiden. Nachdem Cris oft leicht bekleidet durch das schlechte Wetter ging, wusste August bereits wie er es handhaben musste und deswegen stand er ein weiteres Mal auf, um in sein Schlafzimmer zu gehen, wo sich in seinem Schrank eine weitere Decke - die für Gäste gedacht war - befand. Wieder unten angekommen, war er froh, dass sich der Jüngere nicht von der Stelle bewegt hatte, auch wenn es bei seinem geschwächtem Körper sowieso sehr unwahrscheinlich gewesen wäre. Um ihn mit der zweiten Decke zuzudecken, nahm er ihm die Tasse aus der Hand und stellte sie kurz ab, um die Textilware über seinen Körper auszubreiten, damit er es schön warm hatte und sein Fieber ausschwitzen konnte. Gleichzeitig wollte er die Stirn des Kranken abkühlen und verschwand demnach ein weiteres mal in der Küche, um mit einer Wasserschale und einem feuchtem Tuch, sowie einem Strohhalm für den Tee, zurückzukehren. August nahm erneut neben ihm Platz - dieses mal etwas dichter an dem Oberkörper des anderen - und strich ihm die Haare aus dem Gesicht, damit er das kalte Tuch auf seine Stirn legen konnte. Den Tee stellte er knapp an die Tischkante des Couchtisches ab, sodass Cris sie bequem erreich konnte und er, wenn er ganz faul war, nur seinen Kopf strecken musste, um vom Strohhalm zu trinken. "Du solltest schlafen. Wenn du hier weiter herummeckerst, wird es deinem Körper nicht besser gehen.", meinte er und lehnte sich wieder weg von ihm. "Sobald es dir besser geht, kannst du von hier verschwinden.", sagte er dann abschließend zu dem anderen, aber auch irgendwo zu sich selbst. Länger als nötig durfte...sollte er ihn nicht bei sich behalten.

Crispin Cipriano

Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Sekunden zogen sich zu Minuten und fühlten sich dabei wie eine kleine Ewigkeit an, die an den Nerven zerrte. Minuten, in denen Crispin weiter seine Tasse umklammerte und hineinstarrte, da er nicht wusste, wieviel August wohl aus seinen Augen lesen könnte, wenn er ihn wieder ansah - seine jetzige Haltung konnte man immerhin auch als Trotz interpretieren. Minuten, in denen er, trotz seiner Worte, doch auf eine Antwort auf die Frage hoffte, wieso der Engel ihn mit hierher genommen hatte, anstatt ihn einfach zu töten oder liegen zu lassen? Diese Frage quälte ihn neben so vielen anderen, auf die er wohl nie eine Antwort bekommen würde, denn alleine um sie zu stellen, müsste er zeigen, wie sehr ihn die jetzige Situation zwischen ihnen eigentlich belastete. Dagegen half es auch nicht, dass ihm der Dämon damals gesagt hatte, Engel würden ohnehin nur lügen und er könnte ihnen kein Wort glauben, denn er wollte es dennoch wissen, sich seine eigenen Gedanken dazu machen und sich seine Meinung bilden. Ob er es anschließend glaubte oder nicht, stand auf einem ganz anderen Blatt, aber er wollte zumindest eine Antwort haben. Sein Verstand sagte ihm zwar, dass es eigentlich logisch war und einfach nur dazu diente, ihn zu verletzen, ihn vielleicht auch dafür büßen zu lassen, dass der Engel seinetwegen gefallen war, aber sein Herz wollte das nicht als Begründung akzeptieren. Es hoffte, dass es nicht nur damit zusammenhing, hoffte, dass nicht alles gelogen war, was zwischen ihnen war. Es wollte nicht glauben, dass dies alles nur ein Traum war. Ein wunderschöner, aber am Ende doch sehr schmerzhafter Traum. Und er selbst wollte auch nicht glauben, dass er sich so sehr in dem anderen geirrt hatte.
Wieso hätte sich August sonst auch mit ihm treffen sollen, wenn nichts vorgefallen war? Er wusste, dass dies eine heikle Angelegenheit war, das hatte ihm der Engel direkt am Anfang gesagt, als sie begannen, sich regelmäßig zu treffen. Was ebenfalls ein Grund dafür war, dass er auch in dieser Zeit so viel angestellt hatte - einfach damit August eine Erklärung dafür hatte, warum er sich so oft mit ihm traf. Und dennoch gab es auch Tage, wie der am See, wo sie sich ohne einen solchen Grund gesehen hatten. Warum hätte der andere das machen sollen, wenn es ihm nur um seine Pflicht als Schutzengel gegangen wäre? Auch die Tatsache, dass er der Ansicht war, er hätte nur mit ihm gespielt, war keine Erklärung, denn dafür hätten die unzähligen anderen Treffen durchaus bereits gereicht.
Deshalb wollte er es wissen und als August zu einer Antwort ansetzte, richtete er seinen Blick doch wieder auf ihn. Fast hatte er schon nicht mehr damit gerechnet, dass der Engel noch etwas sagen würde - ganz egal, wie sehr er es gehofft hatte. Jedoch fiel die Antwort nicht so aus, wie ein Teil von ihm gehofft hatte. Aber eigentlich hätte er auch nichts anderes erwarten dürfen, weshalb ihm ein Schnauben entfuhr.
“Nur wegen einem fairen Kampf?! Dafür hättest du mich auch in der Gasse liegen lassen und warten können, bis es mir wieder besser geht!”
Innerlich war Crispin ihm dankbar dafür, dass er ihn mitgenommen hatte. Nicht nur, dass er trotz aller Differenzen und obwohl es ihn schmerzte, zu wissen, dass nichts mehr wie damals war, im Moment gerne in Augusts Nähe war, sondern auch weil die Wunde, die der Dolch hinterlassen hatte, vermutlich eine halbe Ewigkeit gebraucht hätte, um zu heilen. Allerdings würde er das vor August niemals zugeben. Lieber biss er sich sie Zunge ab. Er konnte sich jedoch gut vorstellen, dass sich dies alles rächen und noch mehr schmerzen würde, sobald er verschwand und sein Kopf genug Zeit und Abstand hatte, um nachzudenken. Aber das nahm er in Kauf - ganz egal wie dumm und masochistisch das auch sein mochte.
“Du machst dich lächerlich! Jemanden wegen einem fairen Kampf aufzupäppeln und sich tatsächlich Sorgen zu machen, sind zwei völlig unterschiedliche Sachen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben müssen!”, rief er ihm nach, als August den Raum verließ.
Er hatte doch recht oder nicht? Wieso also tat er es dann und sagte so etwas? Crispin kam jedoch nicht dazu, sich weiter darüber Gedanken zu machen, als August schon erneut etwas sagte, dass ihn ein weiteres mal schnauben ließ.
“Klar, immerhin willst du mich ja so schnell wie möglich wieder loswerden! Genau wie damals.”
Und wieder einmal schwang ein verletzter Unterton mit, der, seit sie sich in der Nacht wiedergesehen hatten, immer wieder durchbrach, ohne, dass er es effektiv verhindern konnte. Augusts Nähe wühlte ihn einfach auf, mehr als er wollte und sich vorgenommen hatte. Als er den Weg eingeschlagen hatte, der ihn zu dem gemacht hatte, was er nun war, wollte er ihn einfach nur noch hassen, wollte ihm das Leben zur Hölle machen und ihn schlussendlich töten, wenn er der Meinung war, dass der Engel genug dafür gebüßt hatte. Und was tat er stattdessen? Saß in eine Decke gehüllt und mit Tee in der Hand auf seinem Sofa und ärgerte sich darüber, dass August ihn am liebsten so schnell wie möglich wieder loswerden wollte.
Als dieser zurückkam und eine weitere Decke in der Hand hielt, blieb er allerdings tatsächlich ruhig, ließ die weitere Behandlung einfach stumm über sich ergehen. Er machte die Beine lang, als er eingewickelt wurde, da das auf Dauer einfach bequemer war und durch die zusätzliche Decke wurde ihm warm genug. Er kuschelte sich noch ein wenig mehr hinein, sodass er den Geruch - Augusts ganz eigener gemischt mit dem Waschmittel, dass er immer benutzte - der ihm so vertraut war, einatmen konnte, während der Engel noch einmal verschwand, um kurz darauf mit weiteren Utensilien, die er nur zu gut kannte, wiederzukommen und sich neben ihn zu setzen.
Wie oft hatte er diese Prozedur nun eigentlich schon hinter sich? Doch egal, wie oft, er hatte doch nie genug davon bekommen und auch jetzt genoss er es. Der einzige Unterschied zu den anderen Malen war nun, dass es nicht so enden würde, wie sonst und genau diese Tatsache tat ebenfalls weh. Er sehnte sich danach, sich einfach wieder an August zu kuscheln und irgendwann friedlich und mit dem Wissen, dass der andere da war, wenn er wieder aufwachte, einzuschlafen. Dieses Mal war es anders, weshalb er auch weiterhin schwieg - etwas, dass der Engel vermutlich seinerseits genoss, was schon seine Aussage zeigte, dass er nicht weiter rummeckern sollte. Ein leises Grummeln konnte er sich daraufhin allerdings nicht verkneifen, das ihm sagen sollte, was er davon hielt. Anschließend bemerkte er, wie August wieder ein Stück von ihm abdrückte. Er biss kurz die Zähne zusammen, um sich einen bissigen Kommentar zu verkneifen, der verstecken sollte, dass es ihn verletzte.
“Angst, dich anzustecken?!”, konnte er es dann doch nicht verhindern, dass ihm die Worte über die Lippen kamen und blickte ihn dabei wütend an.
Was der Kleinere anschließend sagte, irritierte ihn allerdings ein wenig. Im Grunde konnte man meinen, dass es eben einfach nur dahin gesagt war, dass er gehen könnte, wenn es ihm besser ging, doch irgendwie hätte er eher damit gerechnet, dass er zu hören bekam, dass er dann verschwinden sollte. Die Frage war also: war es ohne nachzudenken gesagt oder steckte tatsächlich etwas dahinter?
Mit einem leisen Seufzen schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, da sie ihm nur Kopfschmerzen bereiteten. Es schwirrten ihm schon genug Fragen im Kopf herum, da brauchte er nicht noch weitere, die unbeantwortet bleiben würden.
“Ich werde dir mit Sicherheit nicht länger als nötig zur Last fallen! Schließlich war ich das ja lange genug für dich.”
Bei der Erinnerung daran, dass er damals einfach nur ein lästiger Job des Engels war und er ihn einfach hatte fallen lassen, als es ihm zuviel wurde, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Er wollte daran nicht denken, aber gerade jetzt drängte sich Gedanke viel zu sehr auf. Dabei hatte er so lange gedacht, dass es August ernst war, genauso ernst wie ihm, aber er hatte sich getäuscht.
Um den Blicken des Engels wieder einmal auszuweichen, griff er nach der Tasse mit dem inzwischen ziemlich abgekühlten Tee und nahm einen Schluck davon. Wobei er froh war, dass August an einen Strohhalm gedacht hatte, da es sich sonst als etwas schwierig erwiesen hätte, sich dabei nicht zu bekippen. Gleichzeitig wurde ihm aber auch klar - jetzt, wo er einmal komplett versorgt war, gab es für den anderen keinen Grund mehr, noch länger in seiner Nähe geschweige denn im selben Raum zu bleiben, und auch wenn er diese Situation kaum ertrug, weil sie sich von dem unterschied, was er kannte und sich tief in seinem Inneren auch wieder wünschte, wollte er doch nicht hier alleine sein. Er wusste, dass er schlafen musste, um sich zu erholen, und er somit ohnehin nicht mitbekommen würde, sollte August den Raum - ihn - verlassen, aber auch diese Vorstellung schmerzte und er konnte nicht genau sagen, was von beidem mehr wehtat. Aus diesem Grund nahm er eine seiner Hände von der Tasse, legte sie allerdings erst einmal nur neben sich. Er zögerte. Sollte er oder sollte er nicht?
Crispin biss die Zähne zusammen, während er sich den Kopf darüber zerbrach und in seinem Inneren einen Kampf mit sich ausfocht. Nach einer gefühlten Ewigkeit und nun tatsächlich beginnenden Kopfschmerzen, warf er seine Bedenken einfach über den Haufen und grub seine Finger am Saum in Augusts Oberteil. Was er ihm damit sagen wollte, würde er mit Sicherheit auch verstehen, ohne, dass er etwas dazu sagte, denn welche Worte wären dafür schon passend, ohne noch mehr preiszugeben, als er es damit ohnehin schon tat?
Wer konnte es dem Dämon schon übel nehmen, dass er der Aussage des Älteren nicht glaubte? Jemanden am Leben lassen, nur um ihn auf faire Weise zu bekämpfen? Pah, das war schon ziemlich lächerlich. Jeder andere hätte sofort die Chance genutzt um den anderen aus dem Weg zu räumen. Faire Kämpfe waren ohnehin nicht sein Ding - nicht, wenn es um Dämonen ging. August kämpfte schmutzig, unfair, hinterlistig. Nutzte dabei die Schwächen des anderen aus, um seine eigenen zu überspielen. Das alles hier sprach gegen seine Prinzipien und das wusste sowohl er, als auch der Schwarzhaarige gegenüber von ihm, dessen skeptische Kommentare ihm im Kopf nachhallten. Gib's zu, du magst ihn. Mehr als du zugibst. Er bedeutet dir immer noch etwas. Gleichzeitig aber drängte eine andere Stimme an sein Ohr: Nein, nein, nein. Du darfst nicht. Du darfst nicht. Dieser Konflikt in seinem Kopf war nichts Neues. In Verbindung mit Cris musste er sich schon immer damit auseinandersetzen, jedoch war früher die Seite, die sich für den Jüngeren entschieden hatte, viel, viel stärker und die andere kaum noch wahrnehmbar, wie ein leises Flüstern, das von einem viel lauteren Geräusch übertönt wurde und dadurch immer mehr in den Hintergrund rückte.
"Du warst keine Last für mich.", sagte er ehrlich und das in einem sanften Ton, da er gerade keine Lust hatte, ihn erneut anzukeifen. Sich ständig mit Crispin zu streiten machte ihn müde, zehrte ihn aus. Egal was er sagte, der andere schien immer das schlechteste von ihm anzunehmen, was für ihn nach wie vor absolut nicht nachvollziehbar war. Woher nahm er an, dass August ihn so schnell wie möglich loswerden wollte? Bewiesen seine Hände, die ihm das Haar sanft zurückstrichen - und dabei länger als nötig an seiner Haut verweilten - nicht genug? Die besorgten Blicke, die sich in den Körper des anderen bohrten und jedes noch so kleinste Detail aufnahmen, als würde er ihn zum ersten Mal sehen? Oh, wie es schmerzte, zu wissen, dass er sich nicht einfach zu ihm beugen und diese sündhaften Lippen in Beschlag nehmen durfte. Sündhaft war dabei das perfekte Wort, denn es war eine Sache, wenn sich ein Engel auf einen Menschen einließ. Das passierte öfter als man dachte und wurde milder bestraft, aber ein Engel und ein Dämon? Kaum vorstellbar. Blasphemie. Fern von jener Logik, von jedem Gesetz, einfach nicht natürlich.
Und doch konnte August nicht anders. Sein Herz schlug immer schneller als gewollt, wenn er den anderen sah und seine Gefühle machten eine Achterbahnfahrt, in der von Hass bis Liebe einfach alles dabei war. Wie konnte man für jemanden den man so hasste, gleichzeitig so viel Liebe empfinden? Wieso war es so schwer die alten Gefühle komplett abzuschalten und durch etwas anderes zu ersetzen. Wieso hatte Crispin ihn nicht einfach in dieser blöden Gasse richtig angegriffen und es ihm wieder so schwer gemacht? War das seine Taktik? Einen auf unschuldigen Dämon spielen, um das Vertrauen des Engels wieder zu gewinnen, um ihm im perfekten Moment in den Rücken zu fallen? War er dazu im Stande? ...Die Frage war wohl eher, wozu er nicht im Stande war, denn nie im Leben hätte August gedacht, dass der einzige Mensch, dem er vollkommen blind vertraute, ihn so hinterging. Sich diese Tatsache wieder in's Gedächtnis rufend, zog sich sein herz zusammen und er wandte den Blick ab.
"Nein, ich habe keine Angst. Aber du solltest wirklich besser auf dich acht geben. Du hast niemanden mehr, der dir deinen Arsch rettet und dich Abends gesund pflegt.", sagte er und widersprach sich dabei komplett, indem er hier bei ihm saß und genau das tat. Einmalig. Es ist alles nur einmalig. Sobald er gesund ist, schicke ich ihn nach Hause. Diesen Entschluss fasste er nicht zum ersten Mal. Genau dasselbe wollte er schon damals tun. Ihn auf Abstand halten, Crispin nicht zu nahe kommen und doch erwischte er sich immer wieder dabei, wie er länger als nötig auf der Erde blieb, ihn mehr als nötig schützte, ihn mehr als nötig mochte...
Nein! Hör auf damit.Das durfte nicht schon wieder passieren. Hatte er etwa den Schmerz vergessen? Erinnere dich zurück. Ohne den Schmerz, wärst du nicht mehr am Leben. Fast schon krampfhaft versuchte er sich an die Vorwürfe zu erinnern, die der Dämon ihm, erst wenige Stunden davor, an den Kopf geworfen hatte. Er versuchte sich an den Schmerz der Schläge zu erinnern, an den Hass in den Augen des anderen, als er ihn das erste mal gesehen hatte. Jede noch so schlechte Erinnerung musste gesammelt und in eine einzige Emotion übertragen werden: Hass. Aber all das schien mit einem Mal vergessen und komplett irrelevant zu sein, als er die Hand des Dämons spürte, die sich an sein Oberteil krallte und ihn auf die unschuldigste Art und Weise darum bat bei ihm zu bleiben. Es erforderte kein 'Bitte bleib bei mir' oder ein 'Geh nicht', wo die Taten des anderen doch so eindeutig für sich sprachen und alles in Augusts Körper zum Kribbeln brachten - so wie früher. Doch konnte er dem allem gerade Glauben schenken? Crispin war nicht mehr derselbe, seine Entscheidungen und Prioritäten im Leben unterschieden sich stark von denen des Engels - das hatte er eindeutig bewiesen. Außerdem hatte er Fieber und es gab Menschen, die in diesem Zustand zu halluzinieren schienen...
Trotzdem erlaubte es sich der Schwarzhaarige, dass es ihm für diesen einen Moment einfach gleichgültig war. Crispin hatte eine Wunde an der Seite und Fieber. Im Notfall konnte er ihn einfach wieder ausknocken und ihn wo anders hin bringen, wenn es hart auf hart kommen sollte. Ein Teil von ihm hoffte natürlich, dass es nicht dazu kommen musste und er den Jüngeren stattdessen noch eine Weile bei sich behalten konnte.
Du hast dich schon immer gerne selbst gequält.
"Ich gehe schon nicht weg, keine Sorge.", murmelte er und hob die Decke, samt den Füßen von Crispin auf um sich auf das Sofa zu platzieren und die Beine des anderen wieder auf seinen Schoß zu legen. Sollte er wirklich hier bleiben so wollte er zumindest bequem sitzen und gegen das zusätzliche Gewicht hatte er rein gar nichts einzuwenden - ja, er hätte sogar am liebsten das ganze Gewicht auf seinem Schoß und in seinen Armen gehabt, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Seine eigenen Füße legte er auf den Couchtisch, bevor er nach der Fernbedienung fischte, die gleich daneben lag, um den Fernseher einzuschalten. Die Lautstärke drehte er auf ein leises Gemurmel, das eher zur Beschallung im Hintergrund diente, als tatsächlich etwas zu verstehen. Auch er hatte Kopfschmerzen, da die Nacht zu kurz und sehr unbequem war und so reichte es, wenn die Stimmen im Fernsehen so leise waren. Während eine Hand die Fernbedienung hielt, lag die andere unter der Decke knapp an Crispins Seite. "Schlaf jetzt. Du bist furchtbar lästig wenn du wach bist und dafür habe ich gerade keine Nerven.", sagte er und versuchte dabei so genervt wie möglich zu klingen, auch wenn es ihn gerade mehr als freute, wieder so nah bei dem anderen zu sein.

Crispin Cipriano

Du warst keine Last für mich.
...
Nein, ich habe keine Angst. Aber du solltest wirklich besser auf dich acht geben. Du hast niemanden mehr, der dir deinen Arsch rettet und dich Abends gesund pflegt.
...
Diese Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Und ganz egal, wie sehr er auch versuchte, sie nicht an sich heranzulassen, konnte er doch nicht verhindern, dass sein Herz dabei immer wieder ein wenig schneller schlug, wenn sie sich in seine Gedanken schlichen. Genau das hatte er bei dem Engel trotz seines Verhaltens und seines manchmal doch nicht ganz so umgänglichen Charakters unter anderem immer gewollt und gehofft: Dass er keine Last für ihn war. Lange Zeit hatte er diese Gewissheit, dass dem nicht so war, doch nachdem August verschwunden war, sah die ganze Sache ein wenig anders aus. Anfangs hatte er tatsächlich gedacht, dass er dem anderen einfach zu viel geworden war - was ihm auf der einen Seite unglaublich wehtat und ihn auf der anderen Seite auch wütend gemacht hatte. Nachdem er dem Dämon begegnet war und dieser ihm die Augen geöffnet hatte, hatte er seinen Schmerz allerdings genutzt, um seine Wut noch weiter zu steigern. Anders hätte er den Weg, den er anschließend eingeschlagen hatte, wohl auch nicht gehen können.
Nun jedoch sah es wieder anders aus. Wie gerne würde er diese Worte glauben?! Wie gern würde er glauben, dass nichts von all dem, was er über den Engel dachte, richtig war, dass alles, was ihm der Dämon damals gesagt hatte, nicht die Wahrheit war?! Gerade in diesem Moment, wo er bei dem anderen auf dem Sofa lag, von ihm wie früher umsorgt wurde und alleine diese Tatsache die Worte des Engels Lügen strafte, dass es niemanden gab, der sich um ihn kümmerte, wäre es so leicht, es einfach zu glauben und sein Herz klammerte sich daran, dass es der Wahrheit entsprach, dass ihn sein Gefühl damals nicht betrogen hatte. Es hoffte, dass es trotz allem einen Weg für sie beide geben konnte. Doch sein Kopf konnte das nicht. Es war, als würde ein kleiner Teufel auf seiner Schulter sitzen und ihm immer wieder zuflüstern, dass er August nicht glauben durfte, da er sein Vertrauen bereits einmal mit Füßen getreten hatte. Und dabei war die Stimme dieses kleinen Wesens um so vieles lauter, als die, die ihm sagte, dass er auf sein Herz anstatt auf seinen Kopf hören sollte, dass er seinem Bauchgefühl vertrauen sollte.
Mit einem Mal wurde Crispin aus diesen ganzen Überlegungen geholt, die seine Kopfschmerzen nur noch steigerten, als August ein weiteres Mal die Stille um sie herum durchbrach. Er löste seinen Blick von der Tasse in seiner Hand, die er die ganze Zeit angestarrt hatte, um den anderen nicht anzusehen, nachdem er sich überwunden hatte, nach dessen Oberteil zu greifen, da er nicht wollte, dass der andere ging. Damit, dass August ihm nun sagte, er müsse sich keine Sorgen machen, weil er nicht gehen würde, hatte er nicht gerechnet und so sah er ihn einen Augenblick einfach nur überrascht an. Hatte er sich gerade verhört?! Aus irgendeinem Grund hatte er eher damit gerechnet, dass der Engel es nicht ertragen würde, länger als nötig in seiner Nähe zu bleiben, denn auch wenn er sagte, er wäre damals keine Last für ihn gewesen, so war es nun sicherlich völlig anders. Als er jedoch sah, wie es sich August ebenfalls auf dem Sofa bequem machte und sich dabei seine Beine auf den Schoß legte, war diese Frage wohl beantwortet. Ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, schlug sein Herz erneut ein wenig schneller und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ihm doch um einiges lieber wäre, würde er nun anders herum liegen - mit dem Kopf auf Augusts Beinen, so wie sie es so viele Male getan hatten und er hatte es jedes Mal aufs Neue geliebt.
“Danke”, kam es ihm leise, aber doch laut genug, dass man ihn über die Lautstärke des Fernsehers hinweg hören konnte, über die Lippen, während er weiterhin zu dem Engel sah. Normal war er jemand, der sich sehr selten für etwas ernsthaft bedankte und gerade bei August hatte er dies nie wieder vorgehabt, doch in diesem Moment konnte er nicht anders, auch wenn er damit wieder so viel von sich preisgab. Aber er war einfach dankbar, dass der andere seine Geste nicht einfach ignoriert hatte, ohne dass er wirklich aussprechen musste, dass er nicht alleine sein wollte. Alleine und einsam war er oft genug.
Durch diese Situation machte sich nun allerdings auch wieder Hoffnung in ihm breit. Hoffnung, dass sie, zumindest so lange er hier war, vielleicht doch wieder ein wenig so wie früher miteinander umgehen könnten.
Töricht. Genau das war diese Hoffnung, denn er wusste ganz genau, dass es nicht so wie zu ihrer gemeinsamen Zeit sein würde. Das zeigte schon die Tatsache, dass er so herum auf dem Sofa lag. Es würde keine flüchtigen und hoffnungsvollen Blicke und Berührungen geben, mit denen sie dem jeweils anderen zeigten, wie viel er einem insgeheim bedeutete - und es schmerzte so unglaublich, dass es nicht mehr möglich war, da es auch nie der Wahrheit entsprach. Dabei hatte er jeden einzelnen dieser kleinen Momente, die nur ihnen beiden gehörten und die nur sie verstanden, geliebt und auch jetzt noch hütete er sie wie einen kleinen Schatz in seinem Inneren. Und genau deswegen konnte er diese Hoffnung nicht ganz unterdrücken.
Sein Blick, der auf dem Engel lag, wanderte bei dieser Erinnerung zu dessen Gesicht und blieb dabei fast wie von selbst an dessen Lippen hängen. Als er sich dabei ertappte, schüttelte er leicht den Kopf. Die Erinnerung an die letzte Nacht, an den Kuss in der Gasse, war jedoch bei weitem nicht so einfach abzuschütteln. Ganz egal, wie absurd und seltsam es auch war, er sehnte sich danach und biss sich daher auf die Unterlippe. Er sollte daran nicht einmal denken, doch er konnte nicht leugnen, dass es sich in diesem Moment so unglaublich gut angefühlt hatte und es war um so vieles besser, als er es von dem Kuss am See noch in Erinnerung hatte. Die Zeit, aber auch all die negativen Gefühle, die er danach nur noch mit dem Engel verband, hatten diese Erinnerung ein wenig verfälscht und die damaligen Empfindungen abgeschwächt. Der Kuss in der Nacht hatte dies wieder geändert und weckte den Wunsch nach mehr in ihm, auch wenn er ganz genau wusste, dass es absolut unsinnig war. Nicht nur, dass es bei einem Engel und einem Dämon einfach seltsam wäre, stand dies bei August sicher nicht einmal an letzter Stelle auf der Liste der 1000 Dinge, die er noch einmal tun wollte.
Als der Schwarzhaarige ihm ein weiteres Mal riet, dass er schlafen sollte, dieses Mal aber hinzufügte, dass er unglaublich lästig sei, schnaubte er leise. Diese Aussage vertrieb mit einem mal alle Gedanken von eben und er trank demonstrativ seinen Tee aus, um die Tasse anschließend auf den Tisch zu stellen. Er zuckte kurz zusammen und zischte vor Schmerz - die Wunde an seiner Seite hatte er tatsächlich für einen Augenblick vergessen. Anschließend legte er sich wieder richtig hin und kuschelte sich etwas mehr in die beiden Decken.
“Wenn ich dir doch so lästig bin und dich so sehr nerve, frage ich mich, wieso du dann hier bei mir bleibst?! Aber vermutlich ist es mal wieder die falsche Freundlichkeit eines Engels…”
Noch immer sprach er leise und obwohl er sich genauso wie August im Augenblick nicht mehr streiten wollte, da es ihn einfach zu sehr anstrengte, konnte er doch nicht verhindern, dass er ihm ein weiteres Mal indirekt einen Vorwurf machte. Der andere reizte ihn einfach - selbst dann, wenn er es vielleicht überhaupt nicht beabsichtigte, aber es schmerzte einfach, immer wieder zu hören zu bekommen, wie gerne August ihn eigentlich wieder loswerden wollte.
“Aber damit du mich nicht länger als nötig ertragen musst, werde ich deinen Rat nun ausnahmsweise beherzigen. Nicht, dass ich dir noch mehr von deiner kostbaren Zeit nehme, die du sicher lieber sinnvoller nutzen würdest, als dich um einen lästigen Dämon zu kümmern.”
Mit diesen Worten drehte er sich unter Schmerzen und einem erneuten Zischen auf seine unverletzte Seite. Die Nacht, die er auf dem Rücken schlafend verbracht hatte, hatte ihm gereicht und er musste sich einfach anders hinlegen, selbst wenn das bedeutete, dass es wehtat. Dabei hoffte er allerdings, dass die Wunde nicht wieder aufging. Schließlich würde er dem anderen dann womöglich noch länger zur Last fallen und so sehr er dessen Nähe auf der einen Seite auch genoss, ertrug er den Gedanken nicht, dass es ganz offensichtlich nur von seiner Seite so war.
Als er es nach seiner Wendeaktion endlich geschafft hatte, einigermaßen bequem zu liegen und die Verletzung nur leicht pochte, zog er die Decke mit einer Hand bis zu seinem Gesicht und hielt diese dort, während er die andere neben sich legte. Dabei bemerkte er, dass auch Augusts zweite Hand dicht neben ihm lag und er biss die Zähne zusammen. Es wäre so einfach für ihn, seinem Bedürfnis nach der Nähe des anderen nachzugeben, auch wenn es ihn verärgerte, dass dieser ihn offensichtlich schnell wieder loswerden wollte. Aus diesem Grund zögerte er. Nur weil er seine Geste zugelassen hatte, als er nach dem Oberteil gegriffen hatte, hieß das nicht, dass es nun genauso war, wenn er nachgab und tat, wonach es ihn gerade verlangte. Sollte er das wirklich tun, obwohl erstens die Chance bestand, dass August es abwies und er zweitens wusste, dass es, egal, was der Engel tat, schmerzen würde, sobald er wieder alleine war? Doch war seit ihrem Wiedersehen nicht schon genug passiert, dass ihn beschäftigen und quälen würde, dass es da keinen großen Unterschied machte, wenn er seinem Egoismus noch ein wenig mehr nachgab?
Mit diesen Fragen im Kopf schloss er die Augen, vergrub sein Gesicht noch mehr in der Decke und verschränkte zwei seiner Finger mit denen von August. Am liebsten hätte er die gesamte Hand umschlossen, so viel Berührungsfläche wie möglich gehabt, doch so wie es nun war, musste es wohl erst einmal reichen. Ein kleines zufriedenes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, das er hinter der Decke versteckte, und mit diesem versuchte er trotz der hämmernden Kopfschmerzen zu schlafen.
Ging es darum selbstzerstörerisch zu handeln, konnte ihm nur Crispin Konkurrenz machen, denn wenn jemand genau so destruktiv dachte wie er, dann war es der Schwarzhaarige Dämon, der sich oftmals selbst quälte, indem er sich schlechter darstellte als er eigentlich war. Dafür konnte er nichts, es lag an seinem Umfeld. Eine Familie, die ihm keine Beachtung schenkte, ihn nicht zu schätzen wusste und Freunde, die ihn ebenfalls in ein Milieu hinunterzogen , dass für jemanden wie ihn gefährlich werden konnte, prägten den Charakter, der von dunklen Gedanken nur so triefte. August verstand ihn. Hatte er immer schon, war er doch in seinem vorherigen Leben nicht anders gewesen und hatte unter denselben Einflüssen gelitten. Einsamkeit war ihm niemals fremd gewesen, eher ein Dauerzustand, mit dem er sich nach Jahren der Isolation abgefunden hatte, aber wünschte er das jemand anderem? Niemals. Niemand sollte alleine bleiben. Besonders nicht ein wundervoller Mensch wie Crispin, der stark, aber mindestens genau so zerbrechlich war und den er wie einen wertvollen Schatz hüten wollte. Ihn von allem Bösen zu schützen, ihm zu verstehen geben, dass er so viel mehr Wert war, stand bei ihm an oberster Stelle und war fast schon etwas wie seine Lebensaufgabe - zumindest auf die Lebenszeit des Menschen beschränkt, den mit seinem Tod wäre hätte auch seine Aufgabe ihr Ende erreicht. Einen Toten zu schützen war nicht möglich. Ob Crispin in den Himmel gekommen wäre? Sicher, sein Verhalten entsprach nicht dem eines Vorzeigeengels aber August strotzte auch nicht gerade vor lauter positiven Eigenschaften. Tief in seinem Herzen glaubte er fest daran, dass es eine gutmütige Seele erforderte und auch wenn Crispin verletzt und wütend war, hätte der Engel niemals behaupten können, dass er nicht gutmütig war. Nicht, wenn er neben ihm am Dock des Hafens saß und ihn anlächelte, während sie den Sonnenuntergang beobachteten. Nicht, wenn er mit geschlossenen Augen am Klavier spielte und dabei so vertieft in das Musikstück war, dass er alles um sich vergaß. Jemand wie er konnte gar keinen bösen Kern haben. Zumindest dachte er das früher... bevor er zu einem Dämon wurde.
Dämonen sind der Ursprung alles Bösen, allem Schlechten. Sündhaft, hasserfüllt und skrupellos. Das Gegenteil von uns. So hieß es immer, wenn man im Himmel über sie sprach. Wie ein Mantra sagte man sich die magischen Worte auf, die einem halfen die unzähligen Tode dieser Kreaturen zu verarbeiten und irgendwann saß es so tief in einem, dass es fast schon normal war eine natürliche Abneigung gegen sie zu empfinden. Crispin wusste das ganz genau, hatte August ihm doch von den Wesen dieser Welt erzählt und dabei besonders abwertend über die dunkle Rasse gesprochen, die wahllos Menschen tötete und vor denen er den Menschen immer beschützen würde, egal was auch kam. Davor, dass sich der andere der dunklen Seite hingab, hatte er ihn allerdings nicht beschützen können und diese Tatsache saß wie ein Fels auf seinem Herzen, das drohte unter dem Gewicht nachzugeben. Viel zu gerne hätte er gewusst, wie es dazu kam - was er dafür tun musste. Klassisch waren Morde, deren Ausmaß ganz bei der Person und ihrer Skrupellosigkeit lagen. Wozu war der Jüngere im Stande gewesen? Viel zu gerne hätte er gefragt, fand es jetzt allerdings höchst unpassend, wo nun endlich etwas wie Frieden zwischen ihnen herrschte, zumindest bis der Verletzte sich erholt hatte. Danach würde sehr wahrscheinlich wieder, der Umgang, den sie noch in der Gasse miteinander gepflegt hatten, einkehren und der Gedanke daran ließ ihn trotzig werden. Wieso konnte es nicht so bleiben wie es jetzt gerade war? Die beiden auf dem Sofa, fast schon wie früher - mit der Ausnahme von ein oder dem anderem bissigen Kommentar, mit dem August leben konnte, solange der Dämon nicht einfach wieder verschwand und stattdessen Zeit mit ihm verbrachte.
Du weißt, warum es nicht sein darf. Es ist falsch. Was würden die anderen dazu sagen, wenn sie es herausfinden?
Jedoch war es schwer seinen Bedürfnissen nicht nachzugehen, wenn der andere, genau so wie zu besseren Zeiten, einem das Gefühl vermittelte, dass er sich immer noch schlecht redete und August sich nichts mehr wünschte, als ihm zu sagen, dass er so viel mehr Wert war und es nicht an der falschen Freundlichkeit des Engels, sondern an seinem Mitgefühl und daran lag, dass er ihn einfach vermisste. Er vermisste es ihn zu halten, ihn zu küssen, ihm aufmunternde Worte in's Ohr zu flüstern, neben ihm aufzuwachen,... einfach alles. Sie hatten damals so wenig und gleichzeitig so viel gehabt. Crispin sprach von kostbarer Zeit, die er sinnvoller nutzen würde, aber was machte schon mehr Sinn, als sich hier und jetzt um ihn zu kümmern? Ja, er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas so sinnvolles getan hatte, auch wenn es gegen alle seine Prinzipien sprach und sich nicht so richtig anfühlen sollte. Wie gerne hätte er ihm gesagt, dass er nichts lieber tun würde, als ihn zu pflegen, aber es war falsch und Crispin war nicht mehr derselbe wie früher, der das ganze wahrscheinlich sowieso nur über sich ergehen ließ, weil er nicht anders konnte. Das tat weh. Zu wissen, dass seine Mühen eigentlich um sonst waren, aber für diesen Moment, redete er sich einfach ein, dass es der Dämon vielleicht auch nicht so schlimm fand - nicht, wenn er so verletzt klang, wenn es darum ging, dass August ihn als lästig bezeichnete.
"Damit meinte ich nicht deine Anwesenheit, du Idiot. Sondern deine Kommentare. Die sind lästig." Wohl eher schmerzhaft. Denn genau diese Meldungen zerstörten die Illusion, dass da noch etwas zwischen ihnen sein konnte - dass da immer noch etwas war, dass sie beide nicht komplett verdrängen konnten. Nein, wahrscheinlich sprach er nur für sich selbst. Cris hatte doch mehr als deutlich bewiesen, dass da nichts mehr war. Keine Spur von der Gutmütigkeit, die zuvor noch in ihm herrschte und die nur August zu spüren bekam. Und dennoch... Die Berührung ihrer Hände - eine so unschuldige und herzerwärmende Geste - ließ sein Herz komplett schmelzen. Es liegt am Fieber. Das ist nicht das was er wirklich will, August. Der Engel entzog seine Hand dem anderen, nur um mit den Fingerspitzen von seinem Handrücken zu seiner Handfläche zu streichen und dann ihre Hände erneut miteinander zu verschränken - dieses mal richtig. Dabei sah er nicht zu dem anderen, hätte es nicht ertragen ihn entweder angewidert oder aber auch glücklich zu sehen. Beides stimmte ihn nicht zufrieden, wobei ersteres seine persönlichen Wünsche verletzt hätte und das zweite den allgemeinen Engelskodex, an den er sich halten sollte.
Aber er war egoistisch, sehnsüchtig und so gab er den Gedanken, den Bedürfnissen nach, die nicht sein durften. Vielleicht erinnert er sich später nicht mehr daran. Oh Gott, bitte lass ihn alles vergessen. Falls er Wind davon bekommen sollte, dass August tatsächlich noch etwas für ihn empfand, konnte er diese Schwäche locker gegen ihn nutzen. Wissen war in dem Fall wirklich Macht und es hätte irgendwo auch an seinem Stolz gekratzt, wenn er durch die Hand des anderen gestorben wäre, nur weil er selbst nicht dazu in der Lage war ihn in's Nirvana zu schicken.
Die Fernsehsendung rückte durch diesen Ausflug in seine Gedanken immer weiter in den Hintergrund, als sie es vorher schon gewesen war und als der Engel endlich das regelmäßige Atmen, des anderen wahrnahm, wagte er es seinen Blick von dem Bildschirm abzuwenden und ihn auf die schlafende Figur neben ihn zu richten, die aussah, als könnte sie niemandem etwas antun. Das stimmte natürlich gerade nur bis zu einem gewissen Grad, denn der einzige Grund, weshalb er gerade nichts tun konnte, war die Wunde an seiner Seite und das Fieber, das ihn auslaugte und trotzdem war Crispin in dem Moment für ihn das unschuldigste Wesen auf dieser Welt. Einfach nur missverstanden.
Die Müdigkeit holte auch ihn ein und dachte darüber nach, wie es wohl weitergehen sollte, nachdem der geschwächte Dämon neben ihm wieder aufwachte. Wie konnte er ihn länger bei sich behalten, ohne, dass es zu auffällig war?
Ein Bad. Ja, er musste unbedingt ein heißes Bad nehmen und danach etwas essen, damit er wieder zu Kräften kam. Das Pflaster musste auch noch gewechselt werden. Wenn es also gut ging, würde er eventuell noch einen halben Tag bei ihm bleiben, vorausgesetzt er ließ das alles ebenfalls noch über sich ergehen. Und danach? Danach gab es eigentlich nichts mehr zu tun, kein Grund ihn länger aufzuhalten und bei sich zu behalten. August schüttelte den Kopf. Darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Viel lieber genoss er die begrenzte Zeit mit dem anderen, ließ dabei seinen Egoismus immer wieder gewinnen. Nach all dem würde er ihn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nicht mehr sehen, was seinem Herz wiederum einen Stich versetzte. Er wollte ihn nicht einfach wieder gehen lassen...
Die Augen des Älteren wurden mit der Zeit schwerer, der Fernseher immer leiser und leiser. Er spielte mit dem Gedanken, noch einen weiteren Schritt zu gehen - nachdem er heute schon so oft nachgegeben hatte war es doch mittlerweile schon egal oder? Außerdem brauchte er nur rechtzeitig vor Crispin aufwachen und alles war nie geschehen. Nur er würde davon wissen und das war auch gut so. Nach einem kurzen Kampf mit sich selbst, den er nur führte, damit er behaupten konnte, er hätte versucht dem Gedanken zu widerstehen, machte er es sich neben dem schlafendem Dämon gemütlich, indem er weiter unter die Decke kroch und sich mit der Brust an seinen Rücken schmiegte. Einen Arm legte er dabei besitzergreifend um ihn - achtete dabei nicht die Wunde zu streifen - und schob den anderen unter den Kopf des anderen. Das hatte er vermisst. Dem anderen wieder so nahe zu sein, dass er seinen Duft wahrnahm, der jetzt zwar vermischt war, mit einer Note, die an süßlichen Teer erinnerte - aber nicht im schlechten Sinne. Es überraschte ihn, dass er die Note mochte, die sich so nahtlos mit Crispins normalem Duft vermischte und er konnte es kaum vermeiden, sein Gesicht in die Halsbeuge des anderen zu drücken, wo er alles noch stärker wahrnahm. So war alles in Ordnung. So sollte es sein. So hätten sie enden sollen und nicht als Feinde, die sich nicht ausstehen konnten. Aber für diese paar Stunden, wollte er die ganzen negativen Ereignisse vergessen und so tun, als hätte sich nie etwas zwischen ihnen verändert.
August quälte sich gerne selbst.
August war ein egoistischer Engel.
Aber August konnte nicht anders, wenn er im Gegenzug dazu Momente wie diese vollkommen ausschöpfen durfte.

"Ich vermisse dich.", flüsterte er kaum hörbar an den Nacken des anderen, über dessen Haut er mit den Lippen streifte, und ergab sich schließlich der Erschöpfung, die an ihm nagte und ihn in einen Schlummer sinken ließ.

Crispin Cipriano

Crispin war bereits dabei langsam wegzudämmern, als er leise Augusts Erwiderung auf seine Worte, die insgeheim auch eine Art Vorwurf waren, hörte. Sein Kopf war allerdings nicht mehr wach genug, um sie vollends zu realisieren, auch wenn sie dennoch ein warmes Gefühl in ihm auslösten. Genau wie die Tatsache, dass der Engel seine Hand erst von seiner löste, um sie anschließend vollends miteinander zu verschränken. Beides gab ihm das Gefühl, zumindest für den Moment, trotz allem, was geschehen war, hier willkommen zu sein. So wie früher, als er es noch zu jeder Zeit war - solange der Engel auf der Erde war und in dem Körper steckte, den er auch jetzt bewohnte. Ihn persönlich hatte diese Tatsache nicht abgeschreckt, eher fasziniert. Und nachdem August ihm erklärt hatte, dass es keine andere Möglichkeit für ihn gab, um hier sein zu können - bei ihm sein zu können - war er noch viel weniger dagegen, dass er einen anderen Menschen brauchte. Insgeheim wäre er wohl auch nicht dagegen gewesen, wenn August ihm erzählt hätte, dass der eigentliche Besitzer darunter litt. Der Gedanke war falsch, das wusste er damals, aber sein Egoismus war einfach stärker, als die Einordnung in richtig oder falsch. Heute hätte er damit natürlich noch viel weniger ein Problem. Schließlich hatte er sich den Körper seines Bruders einfach genommen - ohne dessen Einwilligung, die ein Engel im Gegensatz zu ihm brauchte. Ihm war es auch egal, was aus ihm wurde. Er stand ihm ohnehin nie besonders nah. Außer vielleicht als Kinder. Bis er sich in eine Richtung entwickelte, die weder sein Bruder noch seine Eltern oder der Rest seiner Familie gut fanden, weil er einfach ab einem bestimmten Zeitpunkt merkte, dass - egal, was er tat - sein großer Bruder doch bevorzugt wurde. Er wusste den Grund dafür nicht und in seiner kindlichen und später auch jugendlichen Naivität hatte er einen Weg eingeschlagen, der ihm so zu eigen wurde, dass er ihn auch jetzt noch bestritt. Nur mit dem Unterschied, dass er nun nicht mehr versuchte, damit die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu erreichen.
Und obwohl Augusts Worte, nicht er sondern seine Kommentare wären lästig, zumindest teilweise in seinen Verstand gesickert waren, verfolgten sie ihn auch noch bis in den Schlaf hinein, der ihn immer mehr überwältigte, bis er sich ihm hin- und seinen Träumen ergab:

Zuhause. Der Ort, an dem man zu jeder Zeit willkommen war, wo man sich wohl und aufgehoben fühlte. Der Ort, an dem im besten Fall jemand auf einen wartete, der einen akzeptierte, wie man war, egal, welche Ecken und Kanten man hatte. Es war ein Zufluchtsort, wenn alles drunter und drüber ging und wo man sich vor der ganzen Welt verstecken konnte, um zur Ruhe kommen zu können und Kraft zu tanken.
Für Crispin war das Haus seiner Eltern schon lange nicht mehr sein Zuhause. Es war sein Dach über dem Kopf, doch ein wirkliches Zuhause war es nicht. Lange Zeit hatte er keinen Ort gehabt, den er so bezeichnen würde. Bis zu dem Tag, an dem August ihn das erste Mal mit zu sich genommen und es sich richtig angefühlt hatte, dass er dort war. Als hätte dieser Ort nur darauf gewartet, dass er dort auftauchte. Ab diesem Tag waren Augusts Haus und allgemein die Nähe des Engels der Ort, an dem er Zuflucht suchte, wenn ihm alles zu viel wurde. So auch an einem Abend im Frühsommer.
Seine Familie war zu einem dieser unglaublich langweiligen und für ihn völlig unsinnigen Feste eingeladen, bei denen er im Normalfall ebenfalls auftauchen sollte, da es keinen guten Eindruck machte, wenn nicht die gesamte Familie dort anwesend war. Ihn interessierte dies allerdings schon lange nicht mehr. Bereits als Kind hatte er solche Veranstaltungen gehasst und irgendwann hatte er einfach angefangen, sie genauso zu schwänzen wie den einen oder anderen Schultag. Seine Eltern waren jedes Mal aufs Neue wenig begeistert davon, aber was sollten sie schon groß machen, wenn er einfach abhaute?! Zeit, ihn zu suchen, hatten sie nicht, wenn sie pünktlich zu ihrem wichtigen Termin kommen wollten. Und doch hatte Crispin immer wieder gehofft, dass er ihnen wichtiger war. Dass sie sich Sorgen machten und ihn suchen würden. Doch nichts geschah. Ganz egal, wie oft er dieses Spiel auch spielte, er war ihnen egal.
Aus diesem Grund hatte er irgendwann angefangen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Er betrank sich und provozierte einen Streit nach dem nächsten und somit auch eine Menge Prügeleien, nach deren Ende er in den meisten Fällen bei der Polizei saß und darauf wartete, abgeholt zu werden. An diesem Abend war es ebenfalls so. Er war bereits bekannt und ihm der ganze Ablauf schon in Fleisch und Blut übergegangen. Mit zerfetzten Klamotten und einigen Verletzungen im Gesicht und an den Händen saß er trotzig auf dem Gang des Polizeireviers und wartete darauf, dass seine Eltern das Gespräch beendeten, das sie vermutlich bereits auswendig kannten. Nicht weit von ihm entfernt stand sein Bruder, der ihm immer wieder verstohlene, aber angewiderte Blicke zuwarf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sich allerdings als lediglich eine Stunde entpuppte, warf sein Vater hinter ihnen die Haustür ins Schloss. Crispin wusste bereits, was ihn erwartete, nachdem alle während der Fahrt geschwiegen hatten: eine Predigt. Es war nicht die erste, die er über sich ergehen ließ, und inzwischen sagte er sich selbst, dass sie ihm vollkommen egal waren. Doch tief in seinem Inneren tat jede einzelne von ihnen weh.
‘Ich frage mich wirklich, was wir falsch gemacht haben. Wieso kannst du nicht zumindest ein bisschen, wie dein Bruder sein? Aber nein, du bist das genaue Gegenteil von ihm. Lästig und eine Schande für die gesamte Familie!’
Lästig und eine Schande… Genau dies waren die einzigen Gefühle, die ihm seine so genannte Familie immer wieder vermittelte. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, ihnen nicht zu zeigen, wie sehr es ihn verletzte und was er sich eigentlich von ihnen wünschte. Sie würden es nicht verstehen und ihm schon gar nicht geben. Aus diesem Grund verschwand er an diesem Abend ein weiteres Mal aus dem Haus, als alle beschäftigt waren und nicht mehr auf ihn achteten - was sie ohnehin selten taten.
Sein Weg führte ihn direkt zu Augusts Haus oder besser gesagt, zu dem Haus, in dem die Person lebte, deren Körper er sich für ihre Treffen lieh. Er hoffte so sehr, dass er ihn im Auge gehabt und da sein würde. Ungeduldig und zum Teil auch nervös wartete er darauf, dass sich die Tür öffnete und der Engel vor ihm stand und als es endlich so weit war und er ihm in die Augen sah, wusste er sofort, wo er war: Zuhause. Bei dem anderen war er immer willkommen, selbst dann wenn er mit kaputten Sachen und verletzt bei ihm auftauchte und er ganz genau wusste, was passiert war. Er nahm ihn an, war für ihn da, ohne aufdringliche Fragen zu stellen, wenn er nicht reden wollte und tröstete ihn alleine durch seine Anwesenheit, aber auch mit den flüchtigen Berührungen und den leisen Worten, die er ihm ins Ohr flüsterte. Und jedes Mal aufs Neue wünschte er sich, er könnte für immer bei ihm bleiben, auch wenn er ganz genau wusste, dass dies nicht ging.

Langsam und schwerfällig öffnete Crispin seine Augen wieder. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht und auch die Helligkeit im Raum gab ihm keine Antwort darauf. Was er jedoch wusste, war, dass er so gut wie gerade, schon lange nicht mehr geschlafen hatte. Wenn er es genau nahm, war das letzte Mal eine Nacht gewesen, in der er neben August eingeschlafen war. Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, wurde ihm mit einem Mal vollends bewusst, dass er nicht alleine auf dem Sofa lag und sich jemand an seinen Rücken gekuschelt hatte. Wobei jemand die falsche Bezeichnung war, denn er wusste ganz genau, wer es war. Das warum erschloss sich ihm allerdings nicht. Er träumte, oder etwa nicht?! Das konnte nur ein Traum sein. Die Arme, die um ihn geschlungen waren, der Oberkörper, der sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte, sich dabei noch weiter an ihn drängte und der warme Atem, der immer wieder seinen Nacken streifte und ihm dabei des öfteren wohlige Schauer über den Körper jagte, sprachen jedoch eine ganz andere Sprache. Er träumte nicht. Doch warum?! Wieso hatte sich August zu ihm gelegt, anstatt so sitzen zu bleiben oder sich wieder auf den Sessel zu verziehen? Ihn im Auge behalten, hätte er so schließlich ebenfalls gekonnt - und das vermutlich auch noch viel besser, als so, wie es jetzt war.
Vorsichtig drehte er seinen Kopf, versuchte über seine Schulter zu dem Engel zu schauen, ohne ihn zu wecken. Auch wenn ihm tausende Fragen durch den Kopf schossen und die Antworten darauf zu finden, ihm wohl ein weiteres Mal Kopfschmerzen bringen würde, genoss er diesen Moment. Es fühlte sich wieder genauso wie früher an, wenn er - wie in seinem Traum - bei August aufgetaucht war. Damals war er seine Zuflucht und daran zu denken, dass dies nun nicht mehr so war, schmerzte so sehr. Für jetzt wollte er daran allerdings nicht denken und einfach nur den Augenblick auskosten. Er wollte seinem egoistischen Ich nachgeben, das ihm sagte, dass er einfach ruhig liegen bleiben sollte. Die Realität würde ihn schnell genug wieder einholen, sobald der andere ebenfalls wach war und was war so schlimm daran, den Frieden zwischen ihnen einfach noch ein wenig in die Länge zu ziehen? Denn sobald August aufwachte, würde er sich nicht zurückhalten können, ihn zu fragen, wieso er dies getan hatte. Es beschäftigte ihn und auch wenn er nicht einschätzen konnte, welche Antwort ihn darauf erwartete, wollte er sie haben. Andernfalls würde er sich - sobald er hier wieder weg war - ewig den Kopf darüber zerbrechen, ohne zu einer Lösung zu kommen.
Mit einem kaum hörbaren Seufzen verscheuchte er diese Gedanken, ergab sich seinem Egoismus und schloss ein weiteres Mal die Augen, ohne jedoch erneut einzuschlafen.
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