Wind Beyond Shadows

Normale Version: File report: 3:04 A.M. - at the gas station
Du siehst gerade eine vereinfachte Darstellung unserer Inhalte. Normale Ansicht mit richtiger Formatierung.
Seiten: 1 2
Der Americano aus dem Tankstellenautomaten schmeckte um diese Uhrzeit immer besonders wässrig, was wohl daran lag, dass die Primetime des Kaffees in der Mittagszeit war, wenn die Maschine die abgestandene Brühe vom Vortag entleert hatte und sie wieder frisch aufgefüllt wurde. Um 3 Uhr morgens konnte man entweder mit der besagten wässrigen Brühe oder einem dickflüssigen Matsch rechnen, der selbst mit viel Zucker wie eine Kombination aus Asche und Kandisin schmeckte. August hatte mit beidem bereits Bekanntschaft gemacht und ging das Risiko jedes Mal auf’s Neue ein. Das Surren des Automaten und das anschließende Gurgeln, ließ darauf hindeuten, dass er mit der ersten Option beglückt wurde. Den Becher am oberen Rand anfassend, schlenderte er zum Süßigkeitenstand, der nicht einmal einen halben Meter groß war und eine traurige Auswahl für alle Naschkatzen anbot, denn neben Schokolade, die er zuletzt in den 80ern gesehen hatte - und bei denen er auch stark darauf tippte, dass sie seitdem im Regal lagen - gab es gerade mal drei Schokoriegel und eine versteckte Tüte mit Riesen. Das wird ein mickriger Snack., dachte er sich und griff seufzend nach der schwarzen Verpackung mit den Schokokaramell-Bonbons, die er sogleich am Tresen bezahlte. Die letzten Tankstellen, die er besucht hatte waren ähnlich wie diese ausgestattet, mit dem Unterschied, dass es hier sogar ein paar Stehtische gab, die der Engel sogleich ansteuerte, um seine wässrige Brühe abzustellen und die kleine Packung zu öffnen, um eines der Bonbons hinauszufischen. Er zog seinen Mundschutz vom Gesicht und befeuchtete seine spröden Lippen, die durch die Kälte rissig geworden waren. Bis auf ihn und den alten Herren an der Kasse, der ein schmuddeliges Comicheft las, war es wie immer menschenleer - so wie er es bevorzugte, wenn er seine Aufträge erledigen wollte. Ein Blick auf die Uhr über der Gefriertruhe ohne Eis ließ ihn etwas schneller an dem zähen Karamell kauen und den Kaffee mit einem Schluck bis zur Hälfte leeren. Noch 20 Minuten, bis er eintraf… oder eher eintreffen sollte. Hope war sehr genau was seine Einschätzungen anging, denn bis jetzt hatte es immer erschreckend gut funktioniert und es gab fast nie zeitliche Abweichungen von dem was der Heiler vorhergesagt hatte. Woher dieser so genau bescheid wusste, wollte der Schwarzhaarige mittlerweile gar nicht mehr wissen. Seine Aufgabe zu erledigen und dann so schnell wie möglich auf seinem ausgeborgten Motorrad nach Hause zu düsen war der einzige Plan, den er verfolgte. Danach gab es zwar noch eine Rücksprache, bei der er offen sagen wollte, dass dies sein letzter Auftrag war, denn seine Zeit als Jäger sollte gerade mit der Beziehung zu Crispin langsam ihr Ende finden. Wenn nicht so viel von all dem abhängen würde, hätte er auch niemals zugesagt, aber nun stand er, irgendwo abseits von New York, in einer Tankstelle auf einer verlassenen Straße und wartete darauf, dass der Minutenzeiger sich endlich weiter bewegte.
Den leeren Plastikbecher warf er gekonnt in einen der leeren Eimer und verdrückte anschließend zwei weitere Bonbons. Den Rest stopfte er sich in die Innentasche seiner Lederjacke. So hatte er auch am Heimweg noch etwas zu naschen und vielleicht freute sich auch sein Freund über zerdrückte Schokolade mit zähem Karamell als Souvenir. Oh, richtig. Das wollte er auch noch mitnehmen, damit er nicht mit leeren Händen nach Hause kam.
Wie lang hatte er noch Zeit? Acht Minuten.
Die “I ❤ Canarsie”-Shirts und die passenden Schlüsselanhänger dazu weckten keinen Kaufreiz in ihm und auch die Tassen mit seltsamen Sprüchen, die wohl nur die lokale Nachbarschaft verstand, waren keine Option. Die Zeit drängte und er schien nichts zu finden, weswegen er es einfach mit einem der Spielzeugautomaten für Kinder versuchte, die zumindest ansehnlicher waren als so ziemlich alles andere in dem Laden. In dem kleinen Plastikball befand sich ein pinker Lollipop-Ring in Form eines übergroßen Diamanten und sogar in Crispins Lieblings Geschmacksrichtung. Lächelnd steckte er ihn ein und malte sich bereits den Moment aus, in dem er dem Jüngeren den viel zu kleinen Ring anstecken und sie darüber lachen und Witze reißen würden. Er vermisste seine bessere Hälfte furchtbar und auch wenn er die letzten Tage jede Nacht durchgehend an ihn gedacht hatte, so fühlte es sich jetzt gerade am schlimmsten an. Was er wohl gerade machte? Hoffentlich lag er bereits im Bett und schlief seelenruhig, aber August hätte gelogen, wenn er zu hundert Prozent an diese Hoffnung geglaubt hätte. So wie er ihn kannte - und er kannte ihn gut - war er entweder unterwegs und spazierte in der Gegend umher oder tigerte durch sein Apartment, auf der Suche nach Ablenkung. Ob er doch zum Alkohol gegriffen hatte? Er wünschte, dass es nicht so war.
3 Minuten noch.
Zeit zu gehen, August.
Beim Verlassen des Ladens traf ihn erneut die eisige Luft und der Nieselregen, der schon seit Stunden durchgehend fiel. Für das Wetter war er zwar nicht vorteilhaft angezogen, aber ihm ging es dabei auch weniger um Wärme, sondern Bewegungsfreiheit, die er eventuell brauchen würde, wenn er handgreiflich werden musste. Auf dem Weg zu seinem Motorrad, zog er die Maske wieder über seinen Mund, damit seine Lippen nicht noch mehr leiden mussten, und öffnete den Seitenkoffer, indem sich ein weiterer schwarzer Koffer befand. Alles abschließend ging er mit dem Koffer hinter das Gebäude und nahm die Feuerleiter, um auf das Dach der Station zu steigen, wo er sich am Rand hin hockte und den Koffer und das, was sich innen befand, sorgfältig ausräumte und platzierte. Hope nannte das Ding Morpheus, weil es neben Weihwasser ein Betäubungsmittel enthielt, dass einen Dämon zumindest benommen machen konnte- vorausgesetzt man war schnell genug um ihn zu erwischen. Das Weihwasser diente einfach dem Schmerz und der sadistischen Ader, wenn man es so ausdrücken konnte, denn die Menge reichte nicht aus, um jemanden zu töten.
Die Waffe erinnerte, wenn man sie korrekt zusammen baute, an ein Luftdruckgewehr, das man oft in Filmen zu sehen bekam.
August legte sich mit dem Bauch auf das feuchte Dach und richtete die Waffe ein, bevor er durch das Visier hinunter zu den Tanksäulen sah und wartete. Nach seiner Schätzung, musste er jeden Moment ankommen und als er ein sich näherndes Brummen eines Auspuffs hörte, spürte er erstmals die erdrückende Aura des anderen. Hope hat dich nicht umsonst geschickt., erinnerte ihn die leise Stimme in seinem Kopf.
Nein, das hatte er nicht.
Dieser Dämon war ein anderes Kaliber, als er erwartet hatte und so sehr ihn das früher vielleicht gefreut hätte, bedeutete es jetzt nur mehr Arbeit als gewollt und mehr Vorsicht.
Der Hülle, ungefähr 27, stoppte das Motorrad und war gerade dabei abzusteigen. Ob er schon zu viel Zeit verschwendet hatte? Möglicherweise wusste der Dämon bereits, dass sich ein Engel in der Nähe befand. Seine eigene Aura konnte er schon lange nicht mehr einschätzen, da sie seit seinem Fall schwächer als zuvor geworden war, aber bei jemandem von hohem Rang machte das keinen Unterschied, außer man war abgelenkt und mit den Gedanken ganz woanders. Tu es einfach. Danach bricht hier sowieso die Hölle los. Nutze deinen Vorteil solange du kannst. August kniff ein Auge zu und visierte den Mann an.
Er hielt die Luft an, krümmte den Finger am Abzug und schoss eine der Kugeln direkt auf den Hals des anderen. Dabei war kein Geräusch zu hören, bis auf den leisen Regen, der noch viele Stunden danach vom Himmel fallen würde.
Wieso tat er sich das alles eigentlich an und quälte sich damit selbst? Diese Frage stellte sich Jaydee seit dem frühen Morgen des vergangenen Tages, seit er die Entscheidung getroffen hatte, die ihn jetzt mitten in der Nacht dazu brachte mit seinem Motorrad Richtung Flughafen zu fahren, und bisher war er noch auf keine vernünftige Antwort gekommen. Oder besser gesagt: Er kam auf keine Antwort, die am Ende nicht zeigte, dass er eine masochistische Ader hatte und vermutlich einen großen Fehler machte. Ein Teil von ihm war jedoch der Meinung, dass er bereits so viele Fehler in seinem langen Leben begangen hatte - unter anderem auch welche, die genau dieses Leben auf den Kopf gestellt hatten - dass ein weiterer vermutlich nicht groß ins Gewicht fiel. Im Normalfall hätte er diesem Teil von sich auch uneingeschränkt recht gegeben. Wenn man so lange lebte wie er, waren falsche Entscheidungen unumgänglich. Mit der Zeit lernte man, damit umzugehen. Man lebte mit den Konsequenzen, wuchs daran und lernte im besten Fall daraus, um nicht denselben Fehler wieder zu machen. Er war gerade allerdings auf dem besten Weg seinem größten Fehler wieder ins Gesicht zu blicken, obwohl er sich geschworen hatte, ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Nicht umsonst war er unter anderem von Toronto weggezogen und lebte nun wieder in New York - auch wenn diese Stadt der Beginn all dessen war, was in den letzten Jahren passiert war. Eine einzelner Nachricht aus der Stadt, aus der er im Grunde regelrecht geflohen war, hatte jedoch genügt, um ihn entscheiden zu lassen, dass er gegen seine Vernunft handelte. Wieder einmal steckte er in der Zwickmühle Kopf gegen Herz, an dessen Ende bei ihm in den meisten Fällen der pure Egoismus gewann. Ganz besonders, wenn es um die Person ging, wegen der er angeschrieben wurde und nun auf dem Weg nach Kanada war:

Mit einem leisen Seufzen sah Jaydee auf den Namen, der auf seinem Handydisplay angezeigt wurde, um ihm zu signalisieren, dass Yuki ihm gerade eine Nachricht geschrieben hatte und aus irgendeinem Grund mit ihm reden wollte. Seit er aus Toronto weggezogen war und der kleinen Kitsune ihre Bar wieder überschrieben hatte, beschränkte sich ihr Kontakt auf ein paar Nachrichten oder ein kurzes Telefonat alle paar Wochen und er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Während ihrer gemeinsamen Zeit in der Bar und auch während sie bei ihm untergekommen war, hatte er sie immer wieder zur Weißglut getrieben, sodass sie sich von Anfang an wünschte, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Wobei er sich gut daran erinnern konnte, dass sie anfangs ebenfalls ständig seine Nerven strapazierte und es somit häufiger zu ernsthaften Auseinandersetzungen kam, denn auch wenn sie klein und zierlich war, besaß sie doch Krallen, die sie sich nicht scheute gegen ihn einzusetzen. Warum er sie überhaupt bei sich aufgenommen hatte, war ihm dadurch lange ein Rätsel - nicht zuletzt weil er weder ihr noch sich selbst gegenüber eingestehen wollte, dass es immer wieder Momente gab, in denen er sich ein wenig Gesellschaft wünschte, die sich nicht nur auf eine Nacht beschränkte.
Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die Gedanken und nahm sein Handy in die Hand, das vor ihm auf dem Wohnzimmertisch lag und dessen Display inzwischen wieder dunkel war. Jaydee konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas wichtiges war, was sie ihm sagen wollte. Vermutlich wollte sie ihn wieder einmal versuchen davon abzubringen, seinen Plan in die Tat umzusetzen - so wie sie es schon häufiger probiert hatte und auch wenn er es nicht zugab, wusste er es doch ein wenig zu schätzen, dass es zumindest eine Person auf diesem Planeten gab, die nicht wollte, dass er starb. Dies war auch der Grund, warum er sich ihre Versuche immer wieder antat und auch jetzt die Nachricht öffnete, obwohl die Möglichkeit bestand, dass sie es ein weiteres Mal versuchen wollte.


»Hey, Jaydee. Es gibt da etwas Wichtiges, das du, denke ich, wissen solltest. Wäre also gut, wenn du dich so schnell wie möglich melden würdest.«


»Hey, Füchschen. Hast du es geschafft, die Bar abzufackeln und brauchst jetzt Hilfe?«


»Wirklich sehr witzig. Ich war fast froh, dass du so schnell geantwortet hast. Wieso hätte ich damit rechnen müssen, dass so eine Antwort von dir kommt?!«


»Weil du mich kennst. Und jetzt sag schon, was los ist, was so wichtig sein soll.«


»Das war eine rhetorische Frage… Aber gut, zurück zum Thema. Es wird dir nicht gefallen, was ich dir sagen werde...«


»Jetzt spuck es schon aus, Yuki!«


»… Es geht um Viona. Sie ist gestern Abend bei mir in der Bar aufgetaucht - blutüberströmt - und zusammengebrochen. Ich hab sofort den Krankenwagen gerufen, da ich aber keine Angehörige bin, konnte ich mich jetzt erst mit eigenen Augen davon überzeugen, was los ist. Sie liegt im Koma und wenn ich die Ärzte richtig gehört hab, wissen sie auch nicht, wann oder ob sie überhaupt wieder aufwacht.«


»Und wieso gehst du davon aus, dass mich das interessiert? Das Thema ist für mich abgehakt.«


»Jay… Ich weiß, dass du sie noch immer liebst. Wenn du es mir gegenüber schon nicht zugibst, dann tu es wenigstens dir gegenüber. Was du mit der Information anstellst, ist dir überlassen. Ich wollte es dir nur sagen, denn ich bin sicher, dass du mir die Hölle heiß gemacht hättest, wenn du es anders erfahren hättest, obwohl ich davon weiß. Und da kannst du nun auch sagen, was du willst, ich weiß, dass ich recht hab.«


Yuki hatte mit ihren Worten einen Nerv getroffen. Sie kannte ihn zu gut und wusste, welche Knöpfe sie drücken musste. Was aber das schlimmste war: Sie hatte recht. Mit allem, was sie gesagt hatte. Jaydee hätte ihr tatsächlich die Hölle heiß gemacht, auch wenn er das ungern zugab. Das Thema ist für mich abgehakt. Schön wäre es. Noch immer kehrten seine Gedanken immer wieder zu der jungen Jägerin zurück und es kam auch vor, dass er sich dabei erwischte, darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn er seine Entscheidung doch ändern und zurückgehen würde. Doch jedes Mal aufs Neue ermahnte er sich, dass es so besser für sie war, weil seine Anwesenheit in ihrem Leben nur bedeutete, dass sie ständig Gefahren ausgesetzt war, die die glücklichen Momente bei weitem nicht wettmachen würden. Sie hatte etwas besseres verdient. Und doch war er nun bei strömendem Regen auf dem Weg zu ihr. Es hatte nicht lange gedauert, bis er alle Bedenken über den Haufen warf, weil sein Beschützerinstinkt die Führung übernahm, und er den nächsten Flug mit einem freien Platz gebucht hatte. Anschließend war er wie ein Tiger im Käfig in seinem Loft hin und her gelaufen, weil die Zeit einfach nicht vergehen wollte. Kurzzeitig war ihm der Gedanke gekommen, mit seinem Motorrad einfach zu fahren, doch er verwarf diese Idee ganz schnell wieder, die in diesem Punkt seiner Ungeduld geschuldet war, die er auch früher, was Viona betraf, an den Tag legte. Er wäre nie im Leben schneller da, als wenn er den Flug nahm.
Diese ganzen Gedanken wurden in den Hintergrund gedrängt, als er in die Nähe einer Tankstelle kam, bei der er bereits geplant hatte, dort anzuhalten, da seine Maschine sonst unterwegs liegen blieb. Dass er fast dort war, war es allerdings nicht, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war die Aura, die er ganz schwach spürte: Ein Engel.
“Und das ausgerechnet jetzt”, murmelte er, denn das passte so gar nicht in seinen Plan. Die Aura war zwar nur schwach zu spüren, an sich aber stark genug, dass das Geflügel ihm nicht nur einige Probleme bereiten sondern das Ganze ihn auch so viel Zeit kosten könnte, dass er seinen Flug verpasste, was seine Laune auf Null sinken ließ. Die Intensität der Aura ließ darauf schließen, dass der Engel wohl schon eine Weile auf der Erde war, was jedoch keinen großen Unterschied machte, da dies verschiedene Gründe haben konnte.
Aufmerksam fuhr er weiter, bis er an der Tankstelle ankam. Mit den Augen suchte er die Umgebung ab, spürte aufgrund des Regens, der noch immer auf ihn fiel und seine Sachen inzwischen komplett durchweicht hatten, die Richtung aber eher, als er den Engel sah. Jaydee zog die Augenbrauen zusammen, als er zwar ein weiteres Motorrad, aber bis auf den Tankstellenwart niemanden weiter ausmachen konnte. Er stellte sein eigenes Bike daher in höchster Alarmbereitschaft ab. Dass ihm Engel und andere Wesen auflauerten, war für ihn nichts neues. Wenn man so lange lebte und einen gewissen Ruf hatte, blieb das nicht aus. Dieses Exemplar schien sich diesmal allerdings ein wenig geschickter anzustellen - zumindest auf den ersten Blick, denn gerade als er abgestiegen war, merkte er, wo genau sich der andere befand und sein Blick wanderte direkt zum Dach des Gebäudes. Durch den Regen hindurch sah er im Licht der in der Nähe stehenden Laterne ganz kurz etwas aufblitzen und mehr aus Instinkt heraus, als wirklich geplant, konzentriere er sich mithilfe seiner telekinetischen Kräfte darauf und sah erst im nächsten Augenblick, was er da gesehen hatte. Mit noch immer zusammengezogenen Augenbrauen schnappte er sich die Kugel, die er aufgehalten hatte und musterte sie. Anschließend sah er wieder zum Dach hinauf.
“Wirklich netter Versuch. Beim nächsten Mal solltest du dich aber ein wenig geschickter anstellen. Auch wenn ich an deiner Stelle nicht damit rechnen würde, dass es noch ein nächstes Mal gibt.”
Abwartend blieb Jaydee stehen, wo er war. Er wollte sehen, ob der Engel sich aus seiner Deckung traute oder ob er ihn eigenhändig vom Dach holen musste. Wobei er nicht genau sagen konnte, welches Szenario ihm in seiner derzeitigen Laune besser gefiel. Hauptsache er bekam ihn zwischen die Finger auch wenn ihm mit jeder verstreichenden Minute die Zeit davon lief.
Interessant. Das genaue Ausmaß der Kräfte des anderen konnte er sich noch nicht ausmalen und er verfluchte seinen besten Freund dafür, dass wichtige Informationen wie diese nicht von Anfang an klar kommuniziert wurden. Wie oft hatte er sich schon in einer Situation befunden, bei der seine Gegner plötzlich mit den außergewöhnlichsten Fähigkeiten ankamen. Von Feuerkontrolle bis hin zu Gedankenlesen - alles hatte er schon gesehen und musste vieles davon am eigenen Leib spüren. Rund 70% der Fälle hätte er sich aber ersparen können, wenn Hope ihn nur rechtzeitig informiert und gewarnt hätte. August war schon immer dafür, dass die Engel ihr Recherche-Team ausbesserten, aber die Prioritäten lagen anscheinend nicht darin die eigenen Leute bei ihrem Tun zu unterstützen.
Konzentration.
Wie auch immer der andere es geschafft hatte den Angriff aufzuhalten - es blieb nicht viel Zeit, um sich jetzt Gedanken darüber zu machen. Auf dem Dach einer schäbigen Tankstelle über Fähigkeiten des Gegners zu philosophieren, mochte vielleicht auf den ersten Blick als klug und taktisch erscheinen, aber wer auch nur im geringsten etwas von Taktik verstand, wusste, dass vieles auch von dem richtigen Timing abhing. Die provokanten Worte des anderen riefen ein leises Schnauben hervor. Da hatte er sich einen Dämon mit ganz tollem Humor geangelt. “Mal sehen was du noch so drauf hast.” Die Worte waren leise und eher ausgesprochene Gedanken, die er von sich gab, während er sogleich die nächste Kugel in die Waffe einführte und erneut auf seinen Gegner zielte, der geradewegs zu ihm hinaufsah. Von den klassisches Waffen, wie zum Beispiel der Claymore oder auch alten Bögen, hatten die Engel schon lange abgelassen. Wenn sie auch nicht viel vom Wandel mit der Zeit mitbekamen und auf der Erde komplett aufgeschmissen waren, konnte wenigstens die Waffenabteilung durch ihren Fortschritt glänzen. Aber so war es schon immer gewesen nicht? Nicht nur Menschen, sondern auch die Engel steckten die meiste Arbeit in die Weiterentwicklung von Gewehren. August wäre es jedenfalls lieber gewesen, wenn sie alle in Frieden leben könnten und gerade jetzt, wo er seinen Job nicht mehr mit derselben Motivation wie früher ausübte, sah er manchmal keinen Unterschied zwischen den Grausamkeiten der verschiedenen Wesen gegenüber einander. Es gab kein Gut oder Böse, wenn man den ewigen Krieg zwischen Himmel und Hölle betrachtete - nur die eine oder die andere Seite. Für ihn hatten beide ihren Reiz verloren und er schwor sich, sich nach diesem Auftrag von beiden zu distanzieren.
August wartete das Ergebnis seines Schusses nicht ab und zerlegte die Waffe geschickt mit wenigen Handgriffen, sodass sie wieder in den Koffer passte und er schnellstmöglich aufstehen und von dem Dach springen konnte. Kurz bevor er am Boden ankam, breitete er seine weißen Flügel aus, die ihn sanft neben einer Pfütze landen ließen. Sich so zu zeigen war ungewohnt und schon lange wagte er es nicht mehr große Strecken zu fliegen oder sich gar zu teleportieren. Sein Fall hatte ihn eingeschränkt und nichts war gefährlicher, als sich als ein ausgestoßener Engel auf der Erde mit seinen Flügeln herumzuschlagen. Eine fehlgeschlagene Teleportation endete nicht selten mit dem Tod, denn wenn der Körper sich ungünstig teilte, war es schnell vorbei. Um aber nicht ganz die Übung zu verlieren, setzte er sie zumindest für kleine Hüpfer oder als sein Schutzschild ein. Natürlich tat auch das weh, aber besser es traf das Federkleid, als seinen Körper.
Der Kleinere ging um die schäbigen Wände, bis er vorne ankam und ungefähr zwanzig Schritte von dem Dämon entfernt stand. “Endstation.”, rief er dem anderen zu, während er seine Lederhandschuhe aus seiner Jacke fischte und sie sich anzog. Um den Mann an der Theke machte er sich keine Sorgen. Der war ohnehin mit seinem Heft beschäftigt und beim Hinausgehen hatte er gesehen, wie sich der Typ billige Kopfhörer aufgesetzt hatte. Wer konnte es ihm auch verübeln? Die Stadt war verlassen und um diese Uhrzeit stoppten kaum Leute, um zu tanken - geschweige denn bei diesem Wetter und bei den viel zu hohen Preisen für das Benzin. “Wir können das auf die klassischen zwei Arten erledigen und mir wäre die schnellere von beiden ehrlich gesagt am liebsten. Ich habe wichtigere Pläne, als mich mit jemanden wie dir herumzuschlagen.”, sagte er und näherte sich dem anderen. Beim Gehen zog er seinen Dolch aus dem Stiefel und fuhr mit dem Daumen über das eiskalte Mithril, das nahezu unter seiner Haut vibrierte. Es spürte, dass sich ein Dämon in der Nähe aufhielt. August drehte das Ende des Dolches und zog einen silbernen Faden hinaus, der mit dem Mithril verbunden war. Den Faden wickelte er sich fest um seine Hand und sprintete von einem Moment auf den nächsten auf den anderen zu, ehe er ausholte und den Dolch auf den anderen zuschießen ließ. Früher hatte er das Gefühl der Jagd geliebt. Aber jetzt… seine Motivation und seine Gedanken lagen einfach wo anders. Zum ersten Mal bekam er Zweifel, ob er diese Mission überhaupt richtig ausführen konnte und dieser Gedanke biss sich durch seine Knochen - viel eisiger als der kalte, peitschende Wind in dieser Nacht.
“Kommst du runter oder muss ich zu dir hoch kommen, um dich zu holen?”
Jaydee spürte, wie ihm die Zeit im Nacken saß und sein Flug, den er eigentlich nehmen wollte, mit jeder Minute näher rückte. Er musste ihn erwischen. Alles andere würde er sich wohl selbst nicht verzeihen. Yukis Worte hatten sich in seine Gedanken gebrannt und auch wenn Viona durchaus dazu in der Lage war, gegen einen Dämon zu kämpfen, ließ die kurze Beschreibung ihres Zustandes darauf schließen, dass sie einem begegnet war, dem sie nicht im geringsten gewachsen war. Eigentlich sollte es ihm vollkommen egal sein, was mit ihr war, doch wenn er nur daran dachte, dass sie es nicht schaffen könnte und er nicht bei ihr war, um ihr beizustehen, schmerzte es zutiefst und er presste die Kiefer aufeinander. Somit war sein Ziel, diese Situation so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, um dann weiter zum Flughafen zu fahren.
Konzentrier dich, Jay! Innerlich verfluchte er sich dafür, dass die Jägerin mal wieder so viel Platz in seinen Gedanken einnahm. Zu viel, um sich voll und ganz konzentrieren zu können, was fatal sein konnte, wenn er nicht richtig aufpasste. Dass er gerade jetzt einem Engel begegnete, war somit alles andere als vorteilhaft. An jedem anderen Tag hätte er ihn mit einem Grinsen zusammengefaltet und wäre anschließend seines Weges gegangen, doch die Sorge um die Person, die er insgeheim noch immer liebte, lähmte ihn beinahe. Ein leiser Fluch lag ihm auf den Lippen, denn genau das war es, was ihn nach ihrem vermeintlichen Verrat wieder dazu bewegte, eine Mauer um sein Herz zu errichten und niemanden näher an sich heranzulassen. Diese Gefühle machten ihn schwach, behinderten ihn im Kampf, weil das einzige, an das er denken konnte, Viona war. Freundschaften und Liebe waren eine Schwäche, die andere ausnutzen konnten und er war sich sicher, dass der Engel, der auf dem Dach hockte, genau das tun würde, wenn er bemerkte, dass er unkonzentriert war.
Was ihm bereits im nächsten Augenblick beinahe zum Verhängnis wurde, als eine weitere Kugel im letzten Moment durch seine telekinetischen Fähigkeiten vor ihm gestoppt wurde.
“So wie es aussieht, willst du dein Glück tatsächlich herausfordern”, knurrte er und verlor langsam aber sicher die Geduld.
Anstatt die Kugel, die auf ihn abgefeuert wurde, einfach fallen zu lassen, nutzte er sie selbst als Geschoss, in der Hoffnung den Engel damit zu treffen, doch er verfehlte um einen halben Meter. Das kam davon, wenn man diese Fähigkeit kaum nutzte, auch wenn sie ihm gerade sehr zugute kam, und zudem nicht 100%ig bei der Sache war. Sein bevorzugter Kampfstil war nun einmal der Nahkampf mit seinen Dolchen und genau wie dieser musste Telekinese trainiert werden, um sie zu beherrschen, denn anders als seine anderen Fähigkeiten, die eher passiver Natur waren, gehörte diese in das aktive Repertoire eines Dämons, wenn man es beherrschte. Jaydee erinnerte sich gut daran, dass er schon öfter gefragt wurde, warum er es nicht nutzte, da es doch durchaus praktisch war und er es zudem seinem damaligen Training mit einem hochrangigen Dämon zu verdanken hatte, dies zu können, doch seine Antwort war jedes Mal dieselbe: Er hatte kein Problem damit, sich bei der Jagd und im Kampf die Hände schmutzig zu machen und zudem wäre beides viel zu einfach, wenn er es nutzen würde, wodurch der Spaß auf der Strecke bliebe.
Im Moment überlegte er allerdings, ob es nicht besser wäre, den Kampf mit dem Engel, der nun endlich seinen gefiederten Hintern von dem Dach bewegte, dadurch zu verkürzen, sodass er schneller zum Flughafen kam. Wirklich sicher war er allerdings nicht und sehr viel Zeit darüber nachzudenken hatte er ebenfalls nicht, da er im nächsten Augenblick die kleine schmächtige Gestalt des Engels hinter der Tankstelle herkommen sah. Er hob eine Augenbraue, als er näher kam und nicht weit entfernt von ihm zum Stehen kam.
“Ein Knirps will es mit mir aufnehmen. Ich glaube, heute ist der 1. April. Müsstest du nicht schon zu Hause im Bett sein? Der Sandmann ist lange vorbei und Mami vermisst dich sicher schon”, gab er spöttisch von sich, um ihn zu provozieren. Wessen Endstation der Vorplatz dieser heruntergekommenen Tankstelle war, die vermutlich nur sehr selten mal einen Kunden sah, würde sich zeigen. Um den Tankstellenwart machte er sich keine Gedanken und er würdigte ihn auch keines Blickes. Sollte dieser Probleme machen, würde er die nächste Leiche auf seiner langen Liste werden - gemeinsam mit dem Engel vor ihm. Dass er unter Zeitdruck stand, versuchte er sich nicht anmerken zu lassen und auch generell nicht zu sehr daran zu denken, warum er überhaupt hier war - was allerdings leichter gesagt als getan war. Vor allem als der andere ein weiteres Mal die Stimme erhob, die sich mit dem stetigen Geräusch des Regens vermischte.
Er verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte locker zu wirken, während er den Schwarzhaarigen ganz genau im Auge behielt und auf jeden kleine Bewegung achtete. Zusätzlich schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen, mit dem er ihn zusätzlich provozieren und vielleicht dazu verleiten wollte, einen Fehler zu begehen.
“Da sind wir schon mal zu zweit. Ich habe weit besseres zu tun, als hier meine Zeit mit dir sinnlos zu verschwenden. Aber wenn du wichtigere Pläne hast, könntest du ja auch einfach diesen nachgehen, anstatt mich hier aufzuhalten und wir hätten beide was davon.”
Ihm war klar, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde, was ihm der Engel im nächsten Augenblick bereits bewies. Das wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein und wann hatte ihm das Leben in den letzten Jahren schon einmal etwas geschenkt, anstatt ihm etwas zu nehmen? Und so wie es aussah, hatte sich genau dieses Leben heute vorgenommen, ihm erneut etwas zu nehmen: Viona so schnell wie möglich noch einmal zu sehen.
Jaydee atmete tief durch, um seine Gedanken zur Ordnung und zu dieser Situation zu rufen, als er sah, dass der Engel auf ihn zugerannt kam. Augenblicklich verließ er seine - nach außen hin - gelassene Haltung und wich ihm aus, kurz bevor das Metall auch nur seine Lederjacke treffen konnte, sodass er ins Leere lief. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihm gleichzeitig ein Bein zu stellen. Im gleichen Augenblick beugte er sich blitzschnell nach unten, um einen seiner eignen beiden Dolche aus seinem Stiefel zu ziehen. Als er die angenehme Schwere der Waffe in seiner Hand spürte, erschien ein weiteres Grinsen in seinem Gesicht, da er zudem spürte, dass der andere haderte.
“Nur so zur Info: um mich zu töten, solltest du 100%ig hinter deinem Plan stehen, sonst wird das hier deine letzte Nacht, die du erlebst. Es haben bereits viele andere Engel versucht, was du vorhast, und wie du siehst, sind sie alle gescheitert.”
Ein Kinderspiel würde es wohl dennoch nicht werden, was allerdings weniger an der Stärke seines Gegners, sondern viel mehr an seiner eigenen Unfähigkeit lag, sich gerade zu konzentrieren. Dennoch ging er seinerseits mit seinem Dolch auf ihn, um diesen Kampf möglichst schnell zu einem Ende zu bringen.
“Wow, deine originellen Sprüche hast du sicher aus dem Fernsehen, du Clown. Mach mal lieber deine große Klappe zu, bevor da noch ne Fliege hinein fliegt.”, konterte er seinerseits, denn er war es mittlerweile gewohnt, dass man auf seiner Größe herumhackte. Sowohl im Himmel, als auch bei Außeneinsätzen, jedoch kam ihm diese Unterschätzung immer wieder zugute.
Die meisten rechneten bei seiner Größe nicht damit, dass er ordentlich und auf verschiedenste Weisen austeilen konnte und das war es dann doch allemal wert. Natürlich war ihm bewusst, dass viele Engel vor ihm bereits daran gescheitert waren, diesen expliziten Dämon zu töten, sonst würde er jetzt nicht vor ihm stehen und seine unlustigen Bemerkungen schieben, aber man hatte nicht umsonst den Schwarzhaarigen geschickt. Er kannte zumindest aus den Akten den Namen Jaydee und ja, er hatte eine bemerkenswerte Anzahl an Menschen und Engeln getötet - hier und da vielleicht auch noch ein anderes Wesen, aber er konzentrierte sich hauptsächlich auf die beiden “unschuldigeren” Wesen. Den Auftrag hatte er schon einmal bekommen, musste ihn jedoch ablehnen, weil er zu dem Zeitpunkt unter Verdacht stand und den Rat im Nacken sitzen hatte, bis es sowieso zu seiner Verurteilung kam.
Dass er früher oder später wieder an die Front berufen wurde, wusste er schon, allerdings hätte er mit etwas weitaus unkomplizierteren gerechnet. Egal, das war sein letzter Auftrag und er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen, bevor er mit erhobenem Mittelfinger gen Himmel Abschied nahm und sich der Ewigkeit auf der Erde hingab - natürlich zusammen mit seinem Freund.
“Wie gut, dass ich keine halben Sachen mache. Bei mir gibt es nur 100% und mehr.”, sagte er und zog dabei provokant einen Mundwinkel hoch, denn der andere lief direkt in seinen geplanten Angriff. Schön und gut, dass er so mächtig war, aber August hatte einige Tricks im Ärmel, die er im schlimmsten Fall alle ausspielen würde, nur um diesen Kampf für sich zu entscheiden. Es ging nicht darum, Hope zufrieden zu stellen, sondern endlich zu seinem Freund gehen zu können, der bereits wartete und auch August wartete sehnsüchtigst darauf, endlich wieder bei ihm sein zu können, nachdem sie so lange voneinander getrennt waren.
Der Dolch flog über die Schulter des Dämons, ohne ihn zu streifen, jedoch setzte der Schwarzhaarige sich sofort in Bewegung, um nicht nur dem Angriff des anderen auszuweichen, sondern um ihn zu umkreisen und den Dolch, der nun hinter ihm am Boden lag, aufzuheben, bis sich der silbern schimmernde Faden um den Hals von Jaydee zusammenzoh und August beide Enden in seinen Händen hielt.
“Bei deiner großen Klappe habe ich viel mehr erwartet als das hier. Komm schon, zeig mir deine tollen Kräfte. Dein kleiner Zahnstocher dient ja wohl eher als Spielzeug, wenn du auf Menschenjagd gehst.”, feixte er und zog fester an der Schnur, damit sie langsam die Atemwege der Hülle blockierte.
Er reagierte auf seine Provokation. Natürlich tat er das. Die meisten, die eher kleingewachsen waren, hassten es regelrecht, wenn man sich über ihre Größe lustig machte und gerade Jaydee war jemand, der genau diesen Umstand nur zu gerne ausnutzte. Dennoch war er niemand, der seine Gegner nur aufgrund dieser Tatsache unterschätzte und für schwach hielt. Auch diese Personen konnten einige Asse im Ärmel haben und er hatte schon einige gegen einen kleineren Gegner scheitern sehen, weil sie den Fehler begingen, davon auszugehen, dass es ein leichter Kampf werden würde. Er selbst war einer von ihnen, als er noch jung und übermütig war und der einzige Grund, warum er an diesem Tag nicht drauf gegangen war, war die Dämonin, die über Jahrhunderte hinweg an seiner Seite war. Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln verscheuchte er die Erinnerungen an sie und konzentrierte sich stattdessen wieder auf den schwarzhaarigen Engel vor sich.
“Falsch, die originellen Sprüche stammen tatsächlich von mir, stell dir vor. Und sie scheinen ja ihre Wirkung nicht zu verfehlen”, gab er mit einem erneut breiten Grinsen von sich.
Dass man die Originalität anzweifeln konnte, wusste er selbst, aber das mussten sie wie man sah auch gar nicht sein, um trotzdem die beabsichtigte Wirkung zu haben. Aus der Reserve locken und zu einem Fehler bewegen, konnte er ihn zu seinem Leidwesen damit aber wohl scheinbar doch nicht, denn anders als er, war er wohl weit mehr bei der Sache als er selbst, wofür er sich selbst verfluchte. Egal, wie schwach der Engel vielleicht sein mochte, er konnte den Kampf dennoch verlieren, wenn er nicht gut genug aufpasste. Was sich in dem Moment zeigte, als der andere ihm auswich und den dünnen Fäden, der an dessen Dolch befestigt war, zuzog. Halbe Sachen machte er tatsächlich nicht und ihm wurde deutlich bewusst, dass er sich langsam aber sicher ebenfalls voll und ganz auf das Hier und Jetzt konzentrieren und wohl oder übel doch seine Fähigkeiten einsetzen musste, denn seine Zahnstocher alleine halfen ihm nicht weiter und würden ihm auch nicht den Sieg bringen. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte, während ihm langsam immer mehr die Luft abgeschnürt wurde. Er legte den Kopf ein wenig zurück und griff hinter sich nach dem Faden, doch das brachte herzlich wenig. Allerdings fiel sein Blick dadurch auf eine der wenigen Straßenlaternen und ihm kam eine Idee, die ihn hoffentlich aus dieser Situation retten konnte. Sterben würde er aus Sauerstoffmangel nicht. Lediglich die Hülle, aber die wollte er ungern aufgeben, nachdem er sie schon so lange sein Eigen nannte. Hinterher würde sich der andere wünschen, er hätte ihn nicht dazu aufgefordert, seine Fähigkeiten zu zeigen.
Aus diesem Grund schloss er die Augen, konzentrierte sich und kurz darauf hörte er über den Regen hinweg, wie die erste Lampe zersplitterte und alle anderen im Umkreis ihrem Beispiel folgten. Selbst in der Tankstelle gingen die Lichter aus und um sie herum wurde mit einem Mal alles dunkel. Den Überraschungsmoment nutzend, lenkte er seine Konzentration anschließend auf den zweiten Dolch in seinem Stiefel und bewegte ihn allein durch seine Gedanken daraus hervor und schleuderte ihn anschließend blind nach hinten, auch wenn er spüren konnte, wo in etwa der Engel stand, in der Hoffnung, ihn damit zu treffen und als er das Geräusch von reißendem Stoff hörte, war er sicher, dass es zumindest die Klamotten erwischt hatte.
Oh, wenn er diesen elenden Dämon endlich zur Strecke brachte, dann war Schluss mit diesen nichtsnutzigen Kommentaren. Sie hielten sich immer für die größten und besten und am Ende? Tja, am Ende erlagen sie der Klinge eines Engels - manche früher, andere später. Bei diesem Jaydee eben sehr viel später, denn seine Akte war prall gefüllt mit vielen, vielen Morden und das nicht nur an Menschen, sondern auch mit Genossen aus dem Himmel. Wieso sie den Job nicht gleich einem hochrangigen Engel gegeben hatten, wusste sich der Schwarzhaarige auch nicht zu erklären, denn wenn er von Anfang an - und damit meinte er die Zeit, in der er zum Trainer der Dämonengruppe befördert wurde - auf diesen Typen gesetzt worden wäre, dann hätten sie sich einiges erspart. Aber bitte, er machte nicht die Regeln im Himmel, sonst würde da vieles anders aussehen.
“Bleibt da jemandem die Luft weg?”, spottete er und zog fester zu, jedoch ohne zu sehen, dass der Dämon seine Augen geschlossen hatte und sich aif etwas konzentrieren zu schien. Fast hatte er vergessen, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen Gegner handelte, den man nur mit einfachen Mitteln wie diesen in Schach halten konnte, und er wurde einen Moment später daran erinnert, als die erste Laterne zersprang. Das Geräusch ließ ihn sofort hochsehen und während eine Lichtquelle nach der anderen ausging, merkte er etwas zu spät, dass der andere bereits wieder zum Angriff setzte. Sein Griff um die Fäden lockerte sich, was dem anderen leider genug Spielraum gab, um seinen Dolch zu werfen, den der Engel nicht sehen konnte. Zwar meinte er, etwas zu spüren, aber die Einsicht kam etwas zu spät und so streifte die Klinge seine Hüfte und ließ ihn zischend ausweichen. Verdammter Mist!
“Du nervst gewaltig, weißt du das? Wir könnten das hier so schnell beenden, aber du willst ja nicht mitspielen.”, rief er in die Dunkelheit hinein, an die er sich erst gewöhnen musste. Die Umrisse des anderen waren nicht mehr zu sehen, also musste er sich bereits in Bewegung gesetzt haben. Der Regen erschwerte es die Schritte des Älteren zu hören und so blieb August nichts anderes übrig, als sich auf sein Gefühl zu verlassen.
“Oohh, muss der arme, arme Dämon sich in der Dunkelheit verstecken?” Seine zwei Klingen hatte er bereits wieder an sich gezogen und hielt sie bereit. Sein Blick musterte die Gegend aufmerksam, deren Umrisse sich langsam mehr und mehr zeigten. “Komm raus, komm raus. Auf Versteckspielchen habe ich keine Lust.”
Sehr lange Zeit konnte sich Jaydee nicht nehmen, um seinen kleinen Triumph zu genießen, als er das Zischen des Engels hinter sich hörte. Ein Grinsen schlich sich dennoch auf seine Lippen. Wem hier gleich die Luft ausgehen würde, würde sich zeigen. Ohne viel Zeit zu verplempern, nutzte er die Ablenkung des anderen und die Dunkelheit um sie beide herum, um sich von den Resten des Fadens, der um seinen Hals lag, zu befreien und seinen Standort zu wechseln. Die Geräusche des Regens kamen ihm dabei zugute, denn mit seinen schweren Stiefeln konnte er sich auf Asphalt und ebenem Untergrund zwar wunderbar leise an einen Gegner heranschleichen, aber der Schotter, der hier überall lag, machte dies doch unmöglich. Daher dankte Jaydee dem Wetter, dass zumindest dieses auf seiner Seite war und ihn ein wenig unterstützte. Mit schnellen Schritten lief er um den Engel herum, sodass er wenige Meter hinter ihm zum Stehen kam, wo sein Dolch auf den Boden gefallen sein musste. Sehen konnte er diesen ebenfalls nicht, denn das fehlende Licht behinderte ihn ebenso. Dass er wusste, wo sich der andere ganz genau befand, hatte er nur seiner Aurenortung zu verdanken, die ihm zeigte, wo er stand. Was seinen Dolch betraf, half sie ihn allerdings recht wenig.
Das Glück schien allerdings noch einmal auf seiner Seite zu sein, als er mit dem Stiefel dagegen stieß. Da er allerdings nicht wusste, ob der kleine Schwarzhaarige es ebenfalls gehört hatte oder sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, ging er nicht das Risiko ein, sich danach zu bücken. Bereits jetzt nach diesem kurzen Angriff, merkte er, dass dieser Engel ein ganz anderes Kaliber war, als die, mit denen er es bisher zu tun hatte. Ganz so, als hätten sie ihm bisher immer nur blutige Anfänger oder unvorsichtige Stümper geschickt und sich nun endlich mal für die Elite entschieden. Dabei spielte es auch keine Rolle, dass seine Aura deutlich zeigte, dass er sich schon einige Zeit auf der Erde befand, was in ihm den Eindruck erweckte, dass er vielleicht gefallen war. Sollte dies stimmen, änderte dies aber nichts an seinem Können. Jaydee hatte schon einige gefallene Engel gesehen. Von völlig hilflosen, die ihre kompletten Fähigkeiten eingebüßt hatte, bis hin zu denen, die bis auf ihr Recht in den Himmel zurückzudürfen, kaum etwas verloren hatten. Wie es bei diesem Exemplar aussah, wusste er nicht, denn besondere Fähigkeiten hatte er noch nicht gezeigt und körperliche Fertigkeiten waren nichts, was sie einem bei einem Fall nehmen konnten. Anders als sein Gegner hatte er aber auch nicht vor, es darauf ankommen zu lassen, dass dieser zeigte, was er vielleicht für schicke Tricks auf Lager hatte. Für so etwas hatte er keine Zeit und die Worte seines Gegenüber zeigten ihm dies auch wieder eher gekonnt.
Am liebsten hätte er etwas gesagt, doch damit hätte er seine Position verraten und er war schon lange kein impulsiver Jungdämon mehr, der sich auf solche Provokationen einließ, wenn sein Leben dabei auf dem Spiel stand. Eine Antwort würde er ihm dennoch liefern. Kurz konzentrierte er sich auf den Dolch zu seinen Füßen, um diesen mit Hilfe seiner Telekinese in seine Hand zu befördern. Es fühlte sich gut an, ihn wieder dort zu wissen. Anschließend verkürzte er die Distanz, überwand die paar Meter zwischen ihnen und als er hinter dem Engel ankam, stieß er ihm den Griff seiner Waffe in die Kniekehlen, um ihn in die Knie zu zwingen. Mit einem Tritt seines Stiefels schickte er ihn hinterher auf den Boden und fixierte ihn dort, indem er ihm mit seinem Gewicht ein Knie zwischen die Schulterblätter drückte. Seine freie Hand hingegen nutzte er, um ihn an den Haaren zu packen und den Kopf ein Stück nach hinten zu ziehen. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie schmerzhaft diese Position sein konnte. Je mehr man zog, umso mehr zog sich auch der Schmerz durch den Körper.
Im Grunde wäre es nun ein leichtes für Jaydee, ihm einfach die Luft ausgehen zu lassen und er legte auch schon die Klinge seines Dolches an die Kehle. Doch er hielt mitten in der Bewegung inne, als ihm eine Idee kam. Vielleicht konnte ihm dieser Engel noch einmal nützlich werden.
“Jetzt spuckst du nicht mehr so große Töne, was? Aber ich habe einen kleinen Vorschlag für dich und wenn dir dein Leben lieb ist, würde ich an deiner Stelle darauf eingehen.”
Einen kleinen Moment lang hielt er inne und überlegte, ob er das wirklich machen sollte. Doch früher oder später bräuchte er ohnehin einen Jäger, um dieser Welt Adios zu sagen und warum nicht diesen hier dafür einspannen, wenn er einmal einen erwischte, der nicht komplett unfähig war?
“Hör gut zu. Wir beide haben an diesem Abend scheinbar noch weit besseres zu tun, als unsere Zeit hier mit diesem Kampf zu verschwenden. Also hier mein Angebot. Du gibst auf und ich mache dich dafür keinen Kopf kürzer. Wir gehen heute beide unserer Wege, aber sobald ich alles erledigt habe, was ich noch erledigen muss, darfst du gerne der Engel sein, der sich vor dem anderen Geflügel mit meinem Tod brüsten darf. Was hälst du davon?”
Das Schicksal meinte es einfach nicht gut mit ihm - irgendjemand musste einen gewaltigen Hass auf ihn haben- oh warte, genau das war ja der Fall. Wow, in was für einer tolle Situation er sich gerade befand. Von einem Bruder hintergangen, aus dem Himmel ausgestoßen und auf der Todesliste eines Dämons, der gerade mehr als nur im Vorteil war. August hatte schon durchaus bessere Tage gehabt und es wollte einfach nicht besser werden. Die Dunkelheit verschlang seine ganze Umgebung und machte es ihm sehr schwer, seinen gegner ausfindig zu machen, der im schlimmsten Fall auch noch unter dämonischer Nachtsicht verfügte, um de Engel das Leben schwer zu machen. Es dauerte jedoch, bis der andere sich bemerkbar machte - zumindest glaubte der Schwarzhaarige das, denn eigentlich konnte er sich durch die unvorteilhafte Geräuschkulisse nicht sicher sein was gerade passierte.
Unglaublich dass ihn einfache Verhältnisse wie diese seinen Auftrag erschwerten. August hatte bereits am Rande der Hölle, in unglaublicher Hitze sowie in eisigen Temperaturen gekämpft und erfolgreich seine Gegner zur Strecke gebracht - aber kaum wurde es dunkel, waren alle seine Fähigkeiten nutzlos. Wäre er noch ein offizieller Dämonenjäger und vollwertiger Engel, hätte er irgendeine hübsche Sphäre in seiner Hand erscheine lassen können, aber seit der Sache mit dem Rauswurf, waren seine Fähigkeiten ziemlich eingeschränkt. Ein Wunder, dass er seine Flügel behalten durfte!
August versuchte sich allerdings wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentriere, damit er eventuell durch den Regen Geräusche des Dämons erhaschen konnte, um ihn zumindest lokalisieren zu können, jedoch war es vergebens. Viel zu spät nahm er den anderen war und zwar, als dieser schon genau hinter ihm stand und ihn durch einen Hieb in die Kniekehlen und einem anschließenden Tritt nach vorne Fallen ließ. Der Engel stützte sich rechtzeitig mit den Händen ab, damit er nicht mit dem Gesicht auf den verregneten Asphalt landete, aber auch das brachte nichts, denn sofort spürte er das Gewicht des anderen - wahrscheinlich war es sein Knie - an seinem Rücken. Ein lautes Zischen und ein noch lauterer Ausruf des Protestes entfuhr ihm, als der Dämon an seinen Haaren zog und schließlich auch noch die Klinge an seinen Hals hielt.
Verdammte Scheiße. Wieso war er so unvorsichtig gewesen?! War das jetzt etwa sein Ende? Unter irgendeinem vorlauten Dämon, der dachte, er wäre der tollste und beste auf der Welt? Also wirklich! Das konnte nicht sein! All die Jahre, die er unter der strengen Hand seines Trainers und schließlich selbst an der Position gekämpft hatte - alles umsonst? Musste er das alles über Bord werfen, nur weil er heute nicht ganz bei der Sache war? Viele dieser Gedanken schlichen sich in seinen Kopf, aber einer war ganz besonders präsent: Crispin. Musste er aufgrund seiner Unachtsamkeit ewig auf ihn verzichten? Nein, das durfte einfach nicht sein! Er hatte es ihm hoch und heilig versprochen, dass er zurückkam! Da gab es kein sterben! Das war so nicht abgemacht! Der Frust, der in ihm aufstieg war unermesslich und er kniff die Augen zusammen, bis er die Worte des anderen hörte…
Ein Vorschlag. Ein was-??! August dachte einen Moment lang, er habe sich verhört, was bei dem Prasseln des Regens durchaus möglich sein konnte, aber meinte gleichzeitig deutlich das Wort “Vorschlag” gehört zu haben, das aus dem Mund eines Dämons so absurd klang, wenn es an einen Engel gerichtet war. Dämonen und Engel machten sich keine Vorschläge, so funktionierte das einfach nicht - vor allem wenn besagtes Kind der Hölle bereits tausende von Seelen ins Jenseits geschickt hatte. Da ging man doch keine Kompromisse oder sonst was ein! Nicht, wenn man dafür bekannt war erfolgreich Dämonen aus der Welt auszulöschen! Und doch... wartete er, dass der andere den angefangenen Satz weiterführte. Etwas wie Hoffnung stieg in ihm auf, was eigentlich gar nicht sein durfte, aber er war verzweifelt, dachte nur an seinen Freund, der Zuhause saß und auf ihn wartete und den er seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Das Angebot - er hatte sich also wirklich nicht verhört! - folgte und so schmackhaft es im ersten Moment auch klang, rief es mindestens genau so viel Verwirrtheit in ihm hervor, denn warum sollte sich jemand auf diese Art und Weise aus dem Leben verabschieden wollen? Nein, nicht jetzt, bitte töte mich später - ich melde mich freiwillig! Dachte er etwa, dass August komplett bescheuert war?! Wer lieferte sich so einem anderen aus?? Der Engel wartete noch einen Moment, vielleicht überlegte es sich der Ältere noch und erklärte ihm gleich, dass es nur ein Witz war und rammte ihm das Messer in die Kehle, aber als nichts dergleichen folgte und er genug Zeit zum Nachdenken hatte, stieß er ein schnelles “Okay, okay!”, aus, nur damit er endlich vom Gewicht, der Hand in seinen Haaren und der Klinge an seiner Haut befreit wurde, denn beides schmerzte unglaublich. “Lass mich verdammt noch mal los! Ich habe doch schon zugesagt!”
Ein Deal mit einem Engel. Wenn Jaydee jemand vor Jahren gesagt hätte, dass er auch nur auf die Idee für so etwas kam, hätte er ihn ausgelacht und für verrückt erklärt. Er war immerhin ein Dämon und das auch noch mit einem gewissen Ruf. Nicht nur andere Dämonen kannten ihn, sondern auch bei der himmlischen Bevölkerung war er kein unbeschriebenes Blatt. Wobei letzteres nicht zuletzt daran lag, dass er schon so einige von ihnen auf dem Gewissen hatte, aber das kam eben davon, wenn man sich ihm in den Weg stellte. Genau so, wie es auch der kleine Engel getan hatte, den er noch immer mithilfe seines Knies auf dem Boden festpinnte. Es kam durchaus vor, dass er mal den einen oder anderen Deal mit jemandem einging - mit der entsprechenden Gegenleistung, die er sich notfalls auch mit Gewalt holte, wenn der andere nicht zahlen wollte. Dass sein Vertragspartner allerdings mal ein Feind sein würde, der ihn eben noch ausschalten wollte, damit hätte er niemals gerechnet und schon gar nicht, dass die Initiative dazu von ihm ausging. Das Leben hatte ihm inzwischen allerdings auch gelehrt, dass man wohl niemals nie sagen sollte. Damals, als er Viona kennen lernte, hatte er auch nicht damit gerechnet, dass sie es schaffen würde, sich erst als Freundin und später als so viel mehr in sein Herz zu schleichen. Sie sollte ein bloßes Spielzeug sein und als sie das nicht mehr war, war er dennoch fest davon überzeugt, dass er sich niemals in sie verlieben würde. Die Zeit hatte ihn eines besseren belehrt. Eine Fügung des Schicksals möchte man meinen, auch wenn er im Nachhinein der Meinung war, dass sich das Schicksal einen miesen Scherz mit ihm erlaubt hatte.
Die jetzige Situation konnte man wohl auch als glückliche Fügung bezeichnen. Zumindest wenn man seinen Tod als etwas Positives ansah, was wohl viele taten. Jaydee war sich sicher, dass so einige Leute eine große Party feiern würden, sobald er weg war. Natürlich gab es auch den einen oder anderen, der sich mit Sicherheit darüber ärgern dürfte, dass die Person nicht diejenige war, die ihn aus dem Weg geräumt hatte, doch das interessierte ihn herzlich wenig. Ob das alles allerdings so lief, wie er sich das gerade vorstellte, hing auch von der Entscheidung ab, die der kleine Schwarzhaarige unter ihn treffen würde. Die Überraschung war ihm deutlich anzumerken, was jedoch absolut kein Wunder war, wenn man sich anschaute, was er ihm gerade vorgeschlagen hatte. In jedem anderen Moment hätte er ihm vielleicht auch ein wenig Zeit gelassen, um eine Entscheidung zu treffen, auch wenn es seiner Meinung nach nicht schwer sein sollte, diese zu fällen, wenn das eigene Leben davon abhing. Genau diese Zeit lief ihm aber davon, sodass er eine Antwort zügig brauchte.
“Wird das mit der Antwort heute noch etwas oder muss ich meinem Anliegen noch etwas mehr Nachdruck verleihen? Wobei ich mit Sicherheit auch noch einen anderen Engel finde, der das liebend gerne an deiner Stelle übernehmen würde. So eine Chance bekommst du nie wieder.”
Letzteres war vermutlich auch dem Engel klar, denn sollte er sich dagegen entscheiden, war dieser Abend der letzte, den er erleben würde. Der Liste seiner Vorhaben vor seinem Tod müsste er so zwar wieder die Suche nach einem Jäger hinzufügen, aber diese Sache sollte schneller erledigt sein, als seine frustrierende Suche nach einer geeigneten Hexe für seinen Racheplan.
Zu seinem Glück schien der Kleine allerdings nun endlich seine Stimme wiedergefunden zu haben, denn er willigte hastig ein und ein Grinsen bildete sich auf Jaydees Lippen. Somit wäre das schon einmal erledigt. Bevor er ihn allerdings loslassen und wieder aufstehen konnte, hörte er plötzlich schwerfällige Schritte über den Regen hinweg und das Entsichern eines Gewehrs. Innerlich fluchte er leise, weil ihn die Situation mit dem Engel und der Zeitdruck unter dem er stand, davon abgelenkt hatte, seiner Umgebung genug Beachtung zu schenken, um mitzubekommen, dass der Tankstellenwart mit einer Taschenlampe und einem Gewehr bewaffnet das noch immer dunkle Gebäude verlassen hatte. Er leuchtete in ihre Richtung und als ihm bewusst wurde, was er sah, ließ er das Licht fallen. Jaydee blickte auf und bemerkte, wie sich die Augen des Mannes vor Schreck weiteten und seine Hände sich an die Waffe klammerten.
“W-Was machen Sie da? Gehen Sie von dem Mann weg… o-oder ich… erschieße Sie.”
Amüsiert bogen sich seine Mundwinkel zu einem weiteren Grinsen. Angst hatte er ganz gewiss nicht. Die Kugel aus dem Gewehr würde ihn gerade einmal kurz kitzeln, bevor die Wunde auch schon wieder verheilen würde.
“Das möchte ich doch anzweifeln. Und außerdem störst du. Wenn sich Engel und Dämonen unterhalten, hat die Krone der Schöpfung die Klappe zu halten.”
Bevor der Mitarbeiter der Tankstelle auch nur realisieren konnte, was er ihm gerade gesagt hatte, lenkte Jaydee seine Telekinese zu ihm, umfasste mit ihrer Hilfe das Herz des Mannes und quetschte es zusammen, bis es stehen blieb. Kein einziger Laut kam ihm über die Lippen und er hatte bereits das Interesse an dem anderen verloren, bevor er hörte wie dessen Körper den Boden berührte. Seine Aufmerksamkeit lenkte er stattdessen wieder auf den Engel unter ihm, der jammerte, dass er ihn endlich los lassen sollte.
“Bedank dich bei dem lästigen Menschen”, gab er ihm trocken als Antwort, bevor er seinen Dolch von seiner Kehle entfernte, seinen Griff in den Haaren lockerte und anschließend aufstand. Die Waffe behielt er dennoch weiterhin in der Hand. Es war eine kleine Vorsichtsmaßnahme, sollte es sich der Engel doch noch einmal anders überlegen, sobald sich die Panik seines nahenden Todes gelegt hatte.
“Für einen wahrscheinlich gefallenen Engel hast du noch ganz schön viel drauf. Die meisten mit dem Schicksal können das nicht von sich behaupten.”
Jaydee scheute sich nicht davor, sich das selbst ein- und dem anderen gegenüber zu gestehen. Er brach sich damit immerhin keinen Zacken aus der Krone, wenn er die Leistung eines anderen anerkannte. Zudem war es mal eine gelungene Abwechslung zu den Stümpern, die man sonst auf ihn angesetzt hatte.
Seiten: 1 2