Wind Beyond Shadows

Normale Version: Freedom isn't given, it is taken
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Akiharu Sasaki

Bis eben hatte Akiharu noch geglaubt, dass dieser Abend womöglich einer der schlimmsten für ihn werden könnte, seit Mr. Gonzales während einem der Geschäftsessen, bei denen er selbst gekellnert hatte, noch ein ganz anderes Interesse bekundete, als die bloße Bedienung während des Essens. Alleine die Tatsache, dass Mr. Perez eng genug mit dem anderen befreundet war, um ihn am heutigen Tag zu vertreten, ließ ihn absolut nichts Gutes für den Rest des Abends und der Nacht erahnen und der Gast bestätigte dieses Gefühl noch, als dieser meinte, er hoffe darauf, ihn auch würdig zu vertreten. Sofort schoben sich wieder die Bilder dieser ersten Nacht in seinen Kopf. Bilder, die er vergessen wollte und die ihn doch täglich bis in seine Träume verfolgten. Selbst die Narbe begann bei der Erinnerung leicht zu kribbeln.
Doch so weit, herauszufinden, was Perez genau vorhatte, um sich als würdige Vertretung zu erweisen, kam es gar nicht. Mit geweiteten Augen sah Akiharu auf den Mann, der das nächste Monster seiner Alpträume werden sollte. Er war unfähig wegzuschauen, als dieser sich übergab und auch wenn er nicht ganz glauben konnte, dass dies große Auswirkungen auf den restlichen Verlauf haben sollte, spürte er eine enorme Erleichterung, denn selbst wenn sich Xaldins Geschäftspartner wieder erholen sollte, um das umzusetzen, was er im Kopf hatte würde die Tortur doch weit später beginnen und kürzer andauern. Er hätte mehr Zeit, um sich auf das eventuell Kommende vorzubereiten. Er könnte sich darauf einstellen.
Wem willst du eigentlich etwas vormachen?, fragte ihn seine innere Stimme und er schluckte. Sie musste nicht weiter ausführen, was sie meinte, denn er verstand es auch so. Akiharu wusste, dass er sich selbst belog, wenn er glaubte, dass er sich vorbereiten könnte. Dass er bereit sein könnte für die Schmerzen und die Schmach. Für die weitere Erinnerung, die sich in seinen Kopf setzen und ihn jede Nacht genau wie all die anderen quälen und für den Rest seines Lebens beeinflussen würde.
Akiharu, wie wäre es, wenn du dich für den Moment in dein Zimmer zurückziehst?
Diese Frage und auch der Rest des Gesagten von Xaldin holte ihn aus seinen Gedanken und Befürchtungen bezüglich des weiteren Verlaufs des Abends. Blinzelnd sah er sich um. Erst zu der Stelle, an der Mr. Perez kurz zuvor noch saß und bei dem er gar nicht bemerkte, wie Elea ihn aus dem Raum manövriert hatte. Weiter zu Nazar, dem er jedoch nur einen kurzen Blick schenkte, da er noch immer nicht sicher war, wie dieser wirklich zu ihm stand, und schlussendlich zu Xaldin, der ihren Kellner seinerseits für einen kurzen Moment finster ansah. Der Augenblick war so kurz, dass er glaubte, es sich eingebildet zu haben, bis ihm die Worte des anderen wieder einfielen. Die Versprechen, die er ihm gemacht hatte. Vor allem aber das Versprechen, dass er verhindern würde, dass Perez ihn anfasste.
Sollte also Nazar für den kleinen Zwischenfall zuständig sein? Konnte das sein?
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wurde dieser bereits damit beauftragt, ihn auf sein Zimmer zu bringen und als sein Stuhl zurück geschoben wurde, damit er aufstehen konnte, zögerte er nicht, genau dies zu tun, denn er wollte keineswegs länger als nötig in Xaldins Nähe und somit in diesem Raum bleiben. Als er stand, verbeugte er sich noch einmal vor Xaldin, um diesem Respekt zu zollen, obwohl er diesen in seinen Augen nicht verdient hatte.
"Ich werde mich bereit halten…", sagte er leise, aber verständlich genug, auch wenn ihm dies alles andere als leicht fiel, denn er wollte Mr. Perez am liebsten nie wieder sehen. Zu entscheiden, ob dies noch einmal geschah, lag allerdings nicht in seiner Macht und so wandte er sich von dem Monster ab, das dies und somit auch ihn in der Hand hatte.
Schweigend folgte Akiharu dem älteren aus dem Raum und den Gang entlang in Richtung seines Zimmers, nicht wissend, was er sagen sollte, da sich nun, wo sie alleine waren, wieder die Frage in seinen Kopf schob, ob der andere mit der jetzigen Situation etwas zu tun hatte. Möglich wäre es, dass er etwas ins Essen gemischt hatte, denn immerhin war er derjenige, der es ihnen brachte und auch wenn der Weg von der Küche in den Speisesaal nicht sonderlich lang war, gab es dennoch Gelegenheit, etwas hineinzumischen. Aber war er wirklich bereit, dies zu riskieren? Für ihn? Die Konsequenzen, die ein solches Handeln nach sich zogen, sollte Xaldin davon Wind bekommen, wollte er sich gar nicht ausmalen, denn mit dem jetzigen Zustand des Gastes war nicht nur sein heutiger Einsatz auf unbestimmte Zeit verschoben sondern auch die geschäftlichen Verhandlungen, die geführt und sicher auch zu einem Abschluss gebracht werden sollten. Und gerade in diesem Punkt kannte Xaldin keine Gnade, wenn es jemand wagte, derartige Gespräche zu stören, wenn es nicht absolut wichtig war. Ihm zu helfen, damit er seiner Arbeit nicht nachgehen musste, zählte eindeutig nicht dazu.
Doch wie sollte er Nazar auf seinen Verdacht ansprechen? War es überhaupt klug, dies zu tun? Noch immer schwankten seine Gefühle zwischen Hoffnung und dem, verraten worden zu sein, hin und her, wenn es um seinen Fahrer ging und er hatte keine Ahnung, auf welches von beiden er vertrauen sollte. Ob er ihm vertrauen sollte und vor allem konnte. Während er darüber nachdachte, starrte er die ganze Zeit auf den Rücken des Größeren, die breiten Schultern und die Muskeln, die man selbst unter dem Anzug und dem Jackett erahnen konnte. Auf alles, was im Gegensatz zu seiner eigenen schmalen Statur stand. Sollte er mit seinem Verdacht falsch liegen und Nazar hatte nichts damit zu tun, wie es Perez ging, liefe er womöglich Gefahr, ihn zu verärgern, wenn er ihn eines solchen Verrats an Xaldin bezichtigte und in so einem Fall, hätte er körperlich gesehen absolut keine Chance gegen ihn.
Das Horrorszenario in diesem Fall formte bereits die ersten Einzelheiten in seinem Kopf, als sie sein Zimmer erreichten und er sich auf seinem Bett niederließ. Sofort war auch Sayuri bei ihm, beschnüffelt ihn und legte sich direkt neben ihn und ihren Kopf auf seine Beine, um ihm wie gewohnt zu zeigen, dass sie für ihn da war. Beinahe automatisch fand eine seiner Hände den Weg in ihr weiches Fell. Sie war wie ein Anker für ihn, den er gerade heute dringend brauchte - und das nicht nur für das, was bereits an diesem Tag und Abend geschehen war, sondern auch für das, was nun auf ihn zu kam.
Es dauerte nicht lange, bis Nazar das Wort ergriff und seine Welt ein weiteres Mal auf den Kopf stellte. Hatte er bis eben noch vermieden, ihn anzusehen, blickte er nun doch zu ihm und seine Augen weiteten sich mit jeder Sekunde mehr.
Willst du, dass es endlich vorbei ist?
Willst du, dass ich dich in Sicherheit bringe und du endlich wieder normal leben kannst?
Fassungslos schaute Akiharu Ihn mehrere qualvolle Momente lang an, unfähig einen Ton herauszubringen. Sein Inneres hingegen schrie ihm die Antwort entgegen, die er geben sollte und die im Grunde nur aus einem Wort bestand: Ja.
Ja, er wollte, dass es endlich aufhörte.
Ja, er wollte endlich wieder sein Leben zurückhaben und selbst entscheiden, was er wann tat. Er wollte hingegen, wohin er wollte, ohne bei jemandem plausibel Rechenschaft ablegen zu müssen. Er wollte sich treffen, mit wem er wollte, ohne darauf aufpassen zu müssen, diese Person in Gefahr zu bringen.
Ja, er wollte frei sein. Nicht erst morgen, sondern am liebsten auf der Stelle.
Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals, der es ihm unmöglich machte, auch nur dieses eine Wort herauszubringen. Akiharu schluckte. Einmal. Zweimal. Bis er das Gefühl hatte, dass seine Stimme nicht versagte, wenn er den Mund öffnete.
"Ja…", krächzte er heiser, als hätte er sich vor kurzem die Lunge aus dem Hals geschrien. Er krallte seine Finger in die Decke, auf der er saß, und versuchte es nach einem erneuten schlucken noch einmal. "Ja, ich will hier raus… Ich will, dass es aufhört… Ich will mein Leben wieder haben…"
Erneut bildete sich ein Kloß in seinem Hals. Dieses Mal jedoch aus einem anderen Grund. Tränen brannten ihm in den Augen, nahmen ihm die Sicht, bevor sie überliefen und sich einen Weg über seine Wangen suchten. Sofort wischte er sie weg, denn auch wenn Nazar ihm gerade anbot, ihn hier heraus zu holen, wollte er diese Schwäche ihm gegenüber doch nicht zeigen. Er war schwach und vermutlich wusste das jeder in diesem Haus und doch wollte er es niemandem mit seinen Tränen auch noch vor Augen führen.
Währenddessen sprach Nazar weiter, fütterte seinen Verdacht, dass er mit Perez Zustand etwas zu tun hatte, weiter und erklärte ihm genau wie einige Stunden zuvor, dass er ihn nicht länger hier wissen wollte. Dass er ihn in Freiheit und außerhalb von Xaldins Einflussbereich wissen wollte. Akiharu stockte dabei mitten in der Bewegung, als er sich die letzte Nässe von den Wangen wischen wollte und schaute den anderen perplex an.
"Das heißt… Du hast… etwas damit zu tun, dass es ihm so geht?"
Es fiel ihm schwer, die Worte herauszubringen, denn auch wenn es offensichtlich schien, wusste er noch immer nicht, ob es so gut war, es auch auszusprechen. Doch bevor er eine Antwort erhalten konnte, bekam er die Anweisung, seine Sachen zu packen und um Mitternacht hier auf ihn zu warten, da er ihn hier wegbringen wollte. Sofort ging sein Blick zu seinem Wecker auf dem Nachtschränkchen, der ihm zeigte, dass es gerade einmal um Neun war, was bedeutete, dass es noch drei Stunden waren, bis es soweit war.
Erst zu spät fiel ihm ein, Nazar zu fragen, wie er ihn hier heraus und in Sicherheit bringen wollte. Als ihm diese Frage in den Kopf schoss und er sich wieder zu ihm wandte, trat dieser bereits aus seinem Zimmer, doch die leisen Worte, die er zum Schluss von sich gab, drangen dennoch bis zu ihm.
Ich bring dich hier raus.
Anschließend schloss er die Tür hinter sich, um womöglich in seine eigenen vier Wände zu verschwinden, wie Xaldin es ihm aufgetragen hatte. Er hingegen konnte sich keinen Millimeter rühren, obwohl er einen Auftrag, eine Aufgabe erhalten hatte. Der letzte Satz spukte unablässig in seinem Kopf herum. Er wollte ihn hier herausholen.
Es war wieder ein unterschwelliges Versprechen, das er ihm gab und bei dem er nicht wusste, was er davon halten sollte. Nicht nach der Lüge, die am heutigen Tag bereits kurz nachdem Nazar sie aussprach, bereits als solche aufgedeckt wurde. Konnte und sollte er sich also darauf verlassen, dass es der andere ernst meinte? Und war trotz allem die Tatsache, dass er es sehr wahrscheinlich ihm zu verdanken hatte, dass diese Nacht nicht zu einem weiteren Alptraum würde, nicht ein Grund, ihm zumindest ein wenig zu vertrauen und zu schauen, ob er es ernst meinte? Doch was, wenn es trotzdem eine Falle war?
Akiharu vergrub die Hände in seinen Haaren und raufte sich diese. Er hatte absolut keine Ahnung, was er tun sollte. Die Freiheit lockte, klopfte bereits an seine Tür und flüsterte ihm leise zu, dass er nur noch zugreifen musste, doch gleichzeitig war da die Angst, was geschah, wenn Nazar nur mit ihm spielte oder Xaldin sie erwischte. Es gab nur eine Konsequenz, die darauf folgen würde und das wäre sein Tod - der in einer skurrilen Betrachtungsweise auch eine Art Freiheit wäre. Allerdings wollte er das nicht. Wenn er es so einfach hätte haben wollen, hätte er in den letzten Jahren mit Sicherheit Wege gefunden, um seinem Leben ein Ende zu bereiten, doch so wollte er das nicht. Er war vielleicht schwach und feige, wenn es darum ging, für seine Freiheit etwas zu riskieren, aber sich derart aus der Situation zu ziehen, kam für ihn nicht in Frage. Lieber ertrug er all die Qualen auch weiterhin - vor allem jetzt, wo Milou wieder ein Teil seines Lebens war, denn er wollte sie nicht verletzen, indem er feige einen Rückzieher machte und sie ihn endgültig verlor.
Die jetzige Lage war jedoch eine andere, als wenn er alleine versuchte, von hier wegzukommen. Jetzt hätte er Nazar an seiner Seite und als Hilfe. Einfacher machte es die Entscheidung dennoch nicht.
Während er darüber nachdachte, was er machen sollte, bekam er nicht mit, wie Sayuri von seiner Seite verschwand. Erst als sie eine ihrer Pfoten auf sein Knie legte, löste er seine Haltung auf und sah zu ihr. Überrascht weiteten sich Akiharus Augen, als er den Riemen seines Rucksacks in ihrer Schnauze entdeckte. Doch es war nicht etwa der, den er für die Schule nutzte, sondern der, den er damals auf der Straße hatte und in dem er die wichtigsten Gegenstände aufbewahrte, die er damals besaß. Seit er hier war, lag er allerdings vergessen im Schrank, denn er hatte von Xaldin einen neuen bekommen. Zaghaft streckte er eine Hand danach aus und griff danach. Der Stoff war abgewetzt und er hatte an der vordersten Tasche ein Loch - kein Wunder bei dem, was er alles mitgemacht hatte.
"Du meinst, ich soll es versuchen?", fragte er seine Hündin, denn dass sie ihm den alten Rucksack brachte, konnte für ihn nur das bedeuten. Er sollte nicht aufgeben, so wie er es zu seiner Zeit als Obdachloser auch nicht getan hatte. Mehrere Momente lang sah er sie einfach nur an. In ihre haselnussbraunen Augen, die ihn immer liebevoll anblickten und Wärme und Vertrauen vermittelten - Dinge, die er hier von niemand anderem bekam. Sollte er es also wirklich versuchen? Auch wenn er keinem Menschen oder Wesen vertrauen kann, sah das bei Sayuri doch ganz anders aus. Sie war sein Fels in der Brandung, auf den er sich immer verlassen konnte und hatte sie nicht schon oft genug gezeigt und bewiesen, dass er auf seine Intuition vertrauen konnte?
Einen Augenblick überlegte er noch, bevor er die Augen schloss und seine Entscheidung traf.
"Okay, ich versuche es…", murmelte er und machte sich anschließend daran, seine wenigen wichtigen Habseligkeiten zusammenzusuchen und in den Rucksack zu stecken.

Nazar

Nazar konnte nicht glauben, dass sein Vorhaben funktionierte. Die Idee, den Mann durch ein Mittel, welches Übelkeit verursachte, auszuschalten, war zu seiner Überraschung gut gelaufen und niemand nahm an, dass er damit zu tun hatte. Vielleicht schob man es ja auf den Koch oder den Fisch, der serviert wurde. Man wusste, Fisch musste immer frisch sein, wenn er gekauft wurde. Ansonsten bekam es einem nicht. Niemand würde das Mittel bemerken, was er unauffällig unter gemischt hatte.
Xaldin wies ihn an, Akiharu auf sein Zimmer zu bringen, also machte sich Nazar auf dem Weg zu dessen Stuhl, zog ihn vorsichtig zurück und sorgte dafür, dass Akiharu aufstehen konnte. Dieser zögerte nicht, den Platz zu verlassen.
Mit aufmerksamen Augen beobachtete Nazar, wie Akiharu sich verbeugte, sich von Xaldin verabschiedete und die Tatsache, dass er sagte, er würde sich bereithalten, war für Nazar ein Zeichen, dass er endlich etwas tun musste. Er musste dafür sorgen, dass Akiharu aus diesem Drama herauskam und endlich ein unbeschwertes Leben anfangen konnte.
Schweigend ging er dann mit Akiharu zusammen aus dem Speisesaal, lief die Treppen nach oben, den Gang entlang und blieb mit ihm zusammen vor dessen Tür stehen.
Er überlegte, ob er Akiharu einweihen sollte, ob er ihm mitteilen sollte, dass er verhindert hatte, dass Perez sich an ihm zu schaffen machte oder ob er ihm lieber nichts sagen sollte. Sollte er die Klappe halten? Sollte er sich offenbaren? Das Gewissen zerriss ihn und ließ seine Gedanken Karussell fahren. Immer wieder drehten sie sich, wurden schneller, mal langsamer, wurden angehalten, nur um von vorne zu beginnen. Noch dazu hatte er keine Ahnung, wie Akiharu ihm gegenüber stand und was er über ihn dachte.
Nazar öffnete die Tür, führte Akiharu ins Innere und betrachtete den Jungen, wie er sich auf das Bett setzte und den Blick senkte. Sayuri sprang zu ihm, schnüffelte an ihm und legte sich neben ihn. Eine Hand von ihm erhob sich und vergruben sich im Fell der Hündin.
Fast schon wäre Nazar neidisch gewesen, aber auch nur fast. Er erlaubte es sich nicht, Gefühle zu zeigen oder gar zuzulassen. Das, was er plante, war schon schlimm genug! Er hinterging damit seinen Meister, seinen Gebieter, seinen Lebensretter. Er hinterging Xaldin!
Als sich ihre Blicke trafen, weiteten sich Akiharus Augen und Nazar wusste nicht, was er davon halten sollte, solch eine Reaktion zu sehen.
Die Fragen, die er stellte, standen mehrere Momente unbeantwortet im Raum. Doch in Akiharus Blick konnte Nazar lesen, wie in einem offenen Buch. Es schien, als hätte Akiharu Probleme damit, seine Gedanken in Worte zu fassen. Aber dann… Dann kam ein Wort heraus, was Nazar dazu brachte, den Plan in die Tat umsetzen zu wollen.
Ja…
Ja, ich will hier raus… Ich will, dass es aufhört… Ich will mein Leben wieder haben…
Vielleicht konnte Nazar nicht dafür sorgen, dass er sein Leben wieder bekam, aber er würde dafür sorgen, dass er endlich aus dieser Situation herauskam.
Im nächsten Moment sah er, wie Akiharu sich die Tränen aus dem Gesicht wischte und die Nase nach oben zog, als würde er gegen die kleinen Wassertropfen ankämpfen.
Während er also verkündete, was offensichtlich war, lag Nazars Blick noch immer auf Akiharu und beobachtete ihn.
“Ich habe etwas damit zu tun, ja. Aber das spielt keine Rolle.”
Gleichgültig zuckte Nazar mit den Schultern, fuhr sich mit der Hand durch das Haar und begann anschließend im Zimmer auf und ab zu laufen. Er gab Akiharu einige Anweisungen, bevor er das Zimmer verließ und dafür sorgte, dass sein Vorhaben umgesetzt werden konnte.
“Ich bring dich hier raus”, sagte er leise, hoffte, dass Akiharu sie hörte und dann lief er weiter in sein Zimmer.
Dort ging er zum Kleiderschrank, öffnete diesen und zog ein paar einfache Hosen heraus, einige schwarze Pullover, Unterwäsche und warf es unachtsam auf das Bett. Dann griff er nach einem kleinen, alten Rucksack, warf diesen dazu und ging ins Badezimmer, entschied sich aber dazu, alles andere dort zu lassen, wo es war.
Dann lief er zum Nachtschrank, zog die Schublade heraus, holte ein kleines Kästchen heraus, öffnete es und erblickte Geldscheine, die er mit Sicherheit noch gebrauchen konnte. Schnell stellte er die Kiste ab, griff ein weiteres Mal in die Schublade, griff nach der Verriegelung für den doppelten Boden, ehe dieser freigab, was er verbarg. Schnell war die Waffe genommen, die er versteckt hielt und überprüfte die Monition, die darin enthalten war.
Schnell war alles in die Tasche gestopft. Nazar ging noch einmal aus dem Zimmer, brachte die Tasche unauffällig zu seinem Wagen und kapselte das GPS-Gerät vom Auto ab, so dass sie nicht verfolgt werden konnten. Dann ging er wieder ins Innere des Anwesens, wo sich Perez gerade von Elea zur Tür bringen ließ.
“Es tut mir leid… Wir verschieben das Essen auf ein anderes Mal”, sagte der Mann, während er entschuldigend zu Xaldin blickte.
Dieser sah ihn nur emotionslos an, atmete ruhig durch und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
“Es wird beim nächsten Mal anders laufen”, sagte er.
Als der Blick des Vampirs auf Nazar landete, ging dieser schnell in den Trakt der Dienstboten und suchte sich jemanden, der seine Hand professionell verband. Das war deutlich besser als das Provisorische, was er sich bisher um die Hand gebunden hatte.
Nachdem er wieder in sein Zimmer zurückgekehrt war, sah er auf die Uhr und seufzte. Er hatte noch mehr als genug Zeit, um sich etwas auszudenken und einen Ort zu finden, an dem Akiharu in Sicherheit war.
Es dauerte eine Weile bis Nazar einen Ort gefunden hatte und wohin Xaldin nie gehen würde. Dort konnte er Akiharu bringen, dort wäre er in Sicherheit und konnte warten, bis sich alles gelegt hatte, um weiter zu ziehen.
Nazar würde eine Spur legen, die Xaldin verfolgen würde, die aber nur ins Nichts führte. Dann würde er sich darum kümmern, dass Akiharu niemals mehr vom Vampir gefunden wurde.

Kurz vor Mitternacht sah Nazar durch einen Spalt der Tür heraus auf den Gang. Alles war ruhig, alles war still, niemand befand sich mehr auf dem Anwesen.
'Bereitet euch vor.'
Er sendete die Nachricht ab, die in wenigen Momenten für Ablenkung sorgen sollte und ihm die Möglichkeit geben sollte, Akiharu von hier weg zu bringen.
Punkt Mitternacht explodierte etwas im Garten, die Flammen schossen sofort in die Höhe und erhellten die Nacht. Das orangefarbene Licht des Feuers drang durch die Scheiben und ließen alles hell erstrahlen.
Nazar nutzte die Gelegenheit, sprintete aus dem Zimmer und rannte zu Akiharu. Er klopfte nicht an, wartete nicht auf die Erlaubnis, ins Zimmer treten zu dürfen und sah den Jungen auf dem Bett sitzen. Die Panik, was gerade geschah, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
“Es ist alles in Ordnung”, sagte Nazar, als er auf den Jungen zulief und dessen Handgelenk ergriff. “Vertrau mir, ich lasse nicht noch einmal zu, dass dir etwas passiert.”
Er griff nach der Halskette, die Akiharu trug, seitdem er damals abgehauen war und riss sie von dessen Hals. Er warf das Schmuckstück weg und nahm die Lampe des Nachttischs, warf sie auf das Fenster zu und durchstieß es damit. Natürlich klirrten die Scherben, als der Gegenstand auf dem Boden landete.
Es war Nazar egal, dass man es hörte, aber die zweite Explosion durchdrang die Nacht und ließ das zerbrechende Glas wie Nichts erscheinen.
Er schnappte sich den Rucksack, der auf dem Bett stand und sah zu Sayuri. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er denken, dass sie ihnen folgen würde. Ihm sollte es egal sein. Wenn dieser Hund einen Narren an Akiharu gefunden hatte, sollte er halt mitkommen.
“Komm jetzt”, sagte er und führte Akiharu zum Balkon.
Die Scherben knirschten unter der Sohle seiner Schuhe und das Treiben, was mittlerweile außerhalb des Hauses war, war für ihn die beste Gelegenheit, seinen Plan weiter in Angriff zu nehmen.
Sofern er es beurteilen konnte, stand Xaldin vor dem Haus und war erschüttert darüber, dass jemand seinen Garten im englischen Stil verunstaltet hatte. Er wies seine Männer an, das Feuer sofort zu löschen, die Männer zu finden, die dafür verantwortlich waren. Nazar hatte kein Problem damit, dass man es den Werwölfen zuschob, immerhin hatte er Xaldin am Nachmittag erzählt, dass Akiharu von Mitschülern angegriffen wurde. Oder eher … dass sie sich an ihm vergreifen wollten. Dass Akiharu Mischwesen in der Klasse hatte, war Xaldin mit Sicherheit nicht verborgen geblieben.
“Wir haben keine Zeit, um uns umzusehen oder traurig zu sein”, sagte er und sah hinter sich, als Akiharu kurz stehen geblieben war.
Er zog Akiharu weiter, schob ihn zur schwarzen Limousine und riss die Tür auf, schob den Jungen etwas unsanft hinein und wartete, dass auch Sayuri in den Wagen sprang. Dann lief er eilig um den Wagen herum, startete den Motor in dem Augenblick, als die dritte Explosion erklang. Dieses Mal war es das Haus, was zur Hälfte in Flammen stand. Doch es war nur der unwichtige Teil gewesen, in dem zu diesem Zeitpunkt niemand mehr war.
Er hatte dafür gesorgt, dass niemand zu Schaden kam. Vielleicht nur das Anwesen, aber das war etwas, was man mit genug Geld wieder aufbauen konnte.
Als Nazar auf dem Fahrersitz saß und alle Türen geschlossen waren, startete er den Motor und lenkte den Wagen hinter den Flammen entlang die Auffahrt hinab und erst als er das Anwesen weit hinter sich gelassen hatte, schaltete er das Licht am Fahrzeug an. Doch weit fuhren sie nicht, denn Nazar parkte den Wagen an der Straßenseite und stieg aus. Er öffnete den Kofferraum, nahm sowohl seinen Rucksack als auch den von Akiharu heraus und sah sich kurz um.
Es war alles nach Plan gelaufen und jetzt musste er nur noch Akiharu in Sicherheit bringen, dann würde er sich um die Spurenbeseitigung kümmern…
“Komm, wir müssen ein kleines Stück laufen…”, sagte er und öffnete die hintere Tür des Wagens, um Akiharu heraus zu lassen.

Akiharu Sasaki

Mit einem Seufzen auf den Lippen blickte Akiharu von seinem gepackten Rucksack zu seinem Wecker auf dem Nachtschränkchen und bemerkte, dass er noch immer mehr als genug Zeit hatte, bis es endlich Mitternacht war. Zeit, die sich schon jetzt wie Kaugummi zog. Es war ein Segen und ein Fluch zugleich, kaum etwas zu besitzen, was man als wichtig genug bezeichnen würde, um es bei der geplanten Flucht mitzunehmen.
Ein Segen, weil er auf diese Weise keine schweren Entscheidungen treffen musste, was er hier zurückließ, obwohl es ihm vielleicht auch am Herzen lag.
Ein Fluch, weil es viel zu wenig Zeit verbrauchte, die wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen und in den Rucksack zu packen, sodass auch sein Kopf nicht sehr lange beschäftigt war.
Der Inhalt seiner Tasche begrenzte sich auf ein paar Kleidungsstücke, da er noch ganz genau wusste, wie wichtig es war, etwas zum Wechseln zu haben oder auch nur etwas, um sich noch ein wenig wärmer anziehen zu können, wenn es zu kalt wurde. Etwas anderes besaß er zudem nicht, was er mitnehmen wollte. Es war nicht so, dass es ihm in materieller Hinsicht in diesem Haus an etwas fehlte. Besonders bis zu seinem 18. Geburtstag konnte er Wünsche äußern, die ihm anschließend erfüllt wurden - auch wenn sie ganz gerne als sehr bescheiden angesehen wurden. Nach seiner neuen Aufgabe als spezielle Gesellschaft für Xaldins Gäste wäre es ihm mit Sicherheit noch immer möglich gewesen, sich etwas zu wünschen und es auch zu bekommen, doch er traute sich nicht. Viel zu groß war die Angst, dass ab diesem Zeitpunkt jeder Wunsch eine Gegenleistung zur Folge hatte. Zudem war das einzige, was er sich seit der ersten Nacht seines damals beginnenden Alptraums wünschte, seine Freiheit und bei dieser wusste er einfach, dass der Herr des Hauses ihm diese nicht schenken würde.
Ganz anders als Nazar…
Ich habe etwas damit zu tun, ja. Aber das spielt keine Rolle.
Ich bring dich hier raus
Noch immer kreisten seine Gedanken um diese beiden Aussagen. Die Gründe, die sein Fahrer dafür hatte, Xaldin in den Rücken zu fallen, einem anderen dafür zu schaden, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken und es hinterher eiskalt als nicht weiter wichtig abzustempeln und offensichtlich einen Plan zu schmieden, ihn hier herauszubringen, erschlossen sich ihm nicht. Bis auf die Tatsache, dass sie unter einem Dach lebten und er auf ihn aufpasste, gab es keine weitere Verbindung zwischen ihnen. Sie wussten beide nichts voneinander, außer das, was sie nach außen hin zeigten, und doch riskierte er sein eigenes Leben für ihn.
Genau wie die Frau damals…, flüsterte seine innere Stimme und erinnerte ihn damit daran, dass es schon einmal jemand versucht hatte, ihm zu helfen und ihn aus diesem Alptraum zu befreien. Akiharu kniff die Augen zusammen und krallte seine Finger in den Stoff seines Cardigans und der darunterliegenden Hose, die er noch immer trug, als sich wieder die Bilder ihres Todes in sein Bewusstsein schlichen. Bilder, die ihn genau wie die vielen Male als Spielzeug von Xaldins Geschäftspartnern immer wieder in seinen Träumen aufsuchten und quälten.
Der Griff seiner Finger wurde mit jeder Sekunde stärker, bis er seine Nägel bis in seine Haut grub und ihn der Schmerz aus der Erinnerung holte. Er riss die Augen wieder auf, in denen sich Tränen bildeten, weil er die Frau noch immer vor sich liegen sah. Beinahe konnte er noch das Blut spüren, das sich bis zu seinen Füßen ausbreitete und seine Socken durchnässte.
Er wollte so etwas nie wieder erleben müssen. Nicht wegen ihm. Doch war es bei Nazar nicht etwas anderes als bei dieser Frau? Sie wusste vermutlich nicht einmal, dass es sich bei Xaldin um keinen Menschen sondern einen Vampir handelte, geschweige denn davon, zu was er alles fähig war. Nazar hingegen war seine rechte Hand. Er erlebte ihn und seine Machenschaften täglich, half ihm dabei.
"Bis heute…", murmelte er leise und wischte sich die Tränen von den Wangen, die sich aus seinen Augen gelöst hatten, ohne dass er etwas davon merkte. Dabei fiel sein Blick auf die Kleidung, die er noch immer am Leib trug und kaum hatte er registriert, dass es die war, die er für Perez hatte tragen sollen, um diesem zu gefallen, meldete sich in seinem Inneren das Verlangen, sich sofort etwas anderes anzuziehen. Akiharu war schon dabei, die Türen seines Kleiderschranks zu öffnen, als er innehielt, weil ihm bewusst wurde, dass es vielleicht keine schlaue Idee war, sich umzuziehen. Was, wenn sein Verschwinden wie eine Entführung wirken sollte? Dann wäre es kontraproduktiv, wenn man die Kleidung in seinem Zimmer fand. Immerhin hatte er zu Xaldin gesagt, dass er sich bereit halten wollte. Dies beinhaltete auch sein Outfit.
Akiharu biss sich auf die Unterlippe und seine Finger krampften um den Türgriff. Alles in ihm schrie förmlich danach, aus den Klamotten herauszukommen, mit denen er ohne dem Cardigan viel zu viel Haut zeigte. Doch er musste sich zusammenreißen. Er hatte keine Ahnung, was Nazar geplant hatte und wenn er hier raus wollte, musste er wohl oder übel die Füße still halten und noch ein wenig länger in der Kleidung stecken.

Einige Stunden später und somit kurz vor Mitternacht saß Akiharu auf seinem Bett, die Arme auf das Fensterbrett gelegt, auf denen er seinen Kopf gebettet hatte. Seine Augen waren geschlossen und sein Bewusstsein kurz davor komplett wegzudriften. In diesem Dämmerzustand bekam er kaum mit, wie die Zeit verging. Lediglich den Wind, der durch das angekippte Fenster ins Zimmer herein kam und über ihn hinwegstrich, spürte er. Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf seinem Körper, doch es störte ihn nicht genug, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen und das Fenster zu schließen, welches er geöffnet hatte, nachdem er sich entschieden hatte, lediglich weitere Kleidung einzupacken, die er anziehen würde, sobald sich die Gelegenheit dafür bot. Anschließend hatte er es sich auf seinem Bett bequem gemacht und hinaus in den Garten gestarrt, weil er sonst nicht wusste, was er tun sollte, bis Nazar zurückkam. Wenn er zurückkam und dies alles-
Der Gedanke hatte kaum eine Chance, vollständig Gestalt in seinem Kopf anzunehmen, als ein lauter Knall die Stille der Nacht zerriss und etwas Grelles seine Augenlider erhellte. Akiharu riss die Augen auf und sah Flammen auf der rechten Seite seines Fensters. Steif vom langen sitzen in derselben Position krabbelte er schwerfällig einige Zentimeter auf seinem Bett zurück - unfähig seinen Blick von dem Geschehen im Garten zu lösen. Sayuri war sofort an seiner Seite, bereit für alles, was nach der Explosion womöglich auf sie zukam. Akiharu hatte gar keine Zeit, um die Situation zu begreifen, als auch schon seine Tür aufflog und er am Handgelenk gepackt wurde. Instinktiv zuckte er zusammen und riss seine Hand zurück, um sie zu befreien. Anschließend konnte er seine Augen endlich von seinem Fenster und dem dahinter liegenden Garten lösen, um zu der Person zu schauen, die ihn berührt hatte. Sein ganzer Körper war angespannt und in Alarmbereitschaft, doch als er Nazar erblickte und dessen Worte hörte, entspannte er sich ein wenig.
Er hatte etwas damit zu tun…
Anders konnte es nicht sein oder? Bevor er jedoch weiter darüber nachdenken konnte, wer sonst dafür verantwortlich sein sollte - vor allem um diese Uhrzeit, die er aus dem Augenwinkel auf seinem Wecker schwach erkennen konnte - riss ihm Nazar die Kette vom Hals. Ein Laut der Überraschung kam ihm über die Lippen und seine Hand wanderte zu der Stelle, an der sie bis eben noch gehangen hatte. Das Zeichen dafür, dass er Xaldin gehörte. Sein Eigentum war. Es fühlte sich befreiend an, sie nicht mehr zu tragen. So leicht sie in Wirklichkeit auch war, so schwer fühlte sich ihre Last doch für ihn an. Eine Last, die nun einfach verschwunden war.
In diesem Empfinden versunken, merkte er erst, dass Nazar bereits dabei war, das Fenster einzuwerfen, als ein zweiter lauter Knall zu hören war. Erneut zuckte er und schaute in die Richtung. Kalter Wind kam durch die zerbrochene Scheibe ins Zimmer, zusammen mit der Wärme, die von den Explosionen bis hierher reichte. Um darüber nachzudenken, was alles zerstört wurde und ob dabei jemand zu Schaden kam, hatte er allerdings keine Zeit. Der andere war bereits dabei, mit seinem Rucksack aus dem Fenster zu klettern. Ganz automatisch stand er ebenfalls auf, blickte zu seiner Hündin, um zu sehen, ob sie bereit war, denn er würde sie nicht hier zurücklassen, bevor er ebenfalls aus dem Fenster kletterte. Dabei schnitt er sich an den Überresten der Scherben, die noch am Rahmen vorhanden waren.
Akiharu zischte und zog seine Hand zurück, sprang auf der anderen Seite aber dennoch hinaus und landete mit beiden Füßen auf dem Rasen im Garten. Für einen kurzen Augenblick schaute er auf den Schnitt in seiner Hand aus dem Blut quoll, bevor der Tumult durch die Explosionen seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Mit geweiteten Augen sah er dabei zu, wie Angestellte des Anwesens versuchten, die Feuer zu löschen, die bereits auf das Haus übergriffen. Es war ein skurriler Anblick den Ort, der so lange sein Gefängnis war, nun brennend vor sich zu sehen. Zumindest bis zu dem Moment, in dem Nazar ihn daran erinnerte, dass sie keine Zeit hatten.
"Ich trauere nicht…", erwiderte er in die Richtung seines Fahrers, folgte ihm aber weiter bis zu den Garagen, in denen sich auch die Limousine befand, die ihm nur allzu bekannt war. Der schwarze Lack glänzte im Schein des Feuers, fing es ein und hinterließ einen faszinierenden Anblick - dem er nicht lange verfallen konnte, da er bereits ins Innere des Wagens geschubst wurde. Er war froh darüber, dass Xaldin Wert auf bequem gepolsterte Sitze legte, denn so fiel er trotz der etwas unsanften Behandlung weich. Sayuri folgte ihm, sobald er saß und sich angeschnallt hatte. Kurz darauf folgte eine dritte, heftigere Explosion. Akiharu zuckte zusammen und begann leicht zu zittern, denn es hörte sich ganz so an, als hätte es dieses Mal das Haus direkt erwischt. Eine Sekunde später sah er zu seiner Hündin, die sich eng an ihn legte und ihren Kopf versuchte, hinter ihm zu verstecken. Für sie musste sich der Knall noch deutlich lauter anhören, als für ihn. Nun war er an der Reihe, sie zu beruhigen, indem er ihr mit seiner unverletzten Hand durchs Fell strich und leise Worte auf japanisch murmelte.
"Gleich wird es besser", versprach er ihr unter anderem, womit er sich auch selbst Hoffnung zusprach, da er nicht wissen konnte, ob dem wirklich so war.
Während er dabei war, sowohl Sayuri als auch sich selbst zu beruhigen und versuchte, den Schmerz durch den Schnitt zu ignorieren, lenkte Nazar das Fahrzeug vom Anwesen und erst als sie dieses hinter sich gelassen hatten, traute sich Akiharu einen Blick zurückzuwerfen, um sich das volle Ausmaß der Zerstörung von Weitem anzusehen.
"Weißt du, ob jemand verletzt wurde?", war das erste, was ihm in den Sinn kam, als er den sich immer weiter entfernenden hellen Fleck in der Landschaft sah, auch wenn ihm klar war, dass Nazar dies womöglich gar nicht wissen konnte. Um das Gebäude machte er sich keine Sorgen, denn er wusste, dass Xaldin mehr als genug Geld besaß, um dieses wieder aufzubauen. Doch die Angestellten hatten es nicht verdient, durch seine Flucht verletzt zu werden. Niemand von ihnen. Selbst die nicht, die freiwillig für den Vampir arbeiteten und dennoch weg sahen, obwohl sie wussten, was mit ihm geschah, denn auch bei diesen war er sich sicher, dass es Angst war, die sie davon abhielt, etwas zu sagen.
Bei diesem Gedanken tauchte Eleas Gesicht vor seinen Augen auf und er erinnerte sich an die Idee, die für einen kurzen Moment in seinem Kopf auftauchte, als er für einige Stunden bei Milou zu Hause war: dass Elea dafür geeignet wäre, ihn zu ersetzen…
"Ob er sich wohl jemand anderen sucht, mit dem er dasselbe macht, wie mit mir?", fragte er etwas leiser und schloss die Augen, als sich noch mehr Bilder dazu gesellten.
Bevor er jedoch eine Antwort erhalten konnte, hielt Nazar den Wagen bereits schon wieder an und Akiharu sah zu beiden Seiten aus dem Fenster, um zu sehen, wo sie sich befanden - und um zu schauen, ob er nicht doch in eine Falle gelaufen war. Ein Knoten aus Angst bildete sich in seinem Magen, denn daran, dass der andere ihn hereingelegt haben könnte, hatte er nicht mehr gedacht, seit die erste Explosion zu hören war und sie geflohen waren. Erst im zweiten Moment kam ihm in den Sinn, dass es vielleicht keine gute Idee war, weiterhin den Wagen zu nehmen, denn er wusste, dass diese mithilfe eines GPS Senders verfolgt werden konnten. Aus diesem Grund stieg er auch schnell aus, als Nazar ihm die Tür öffnete. Kurz darauf stand auch Sayuri neben ihm, bereit ihm überallhin zu folgen, während er darauf wartete, in welche Richtung sie gehen würden.

Nazar

Nazar wusste nicht, wie sehr er in Gedanken versunken war, bis er den Wagen schließlich am Straßenrand abgestellt hatte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass Akiharu mit ihm gesprochen hatte.
Immer wieder waren seine Überlegungen zur Explosion zurückgekehrt und zu dem, was er gerade tat. Er entführte Akiharu quasi vor der Nase Xaldins. Oder besser gesagt, er rettete Akiharu aus den Fängen dieses Vampirs.
Nur zu gut wusste er, was Akiharu immer wieder durchmachen musste. Nicht nur, weil er mehr als einmal Zeuge der Andeutungen von Xaldins Freunden und Bekannten wurde, sondern weil er selbst am Anfang für gewisse Vorzüge herhalten musste.
Je weiter er im Ansehen des alten Vampirs aufgestiegen war, desto weniger wurde er für solche Zwecke eingesetzt. Er hatte immer speziellere Aufträge bekommen, musste sich um andere Dinge kümmern und schließlich hatte er den Job als Leibwächter von Akiharu bekommen.
Doch jetzt ließ er den Motor verstummen, stieg aus und umrundete das Fahrzeug. Er öffnete den Kofferraum, nahm sowohl seinen Rucksack als auch den von Akiharu heraus und sah sich kurz um. Schnell ging er zur Tür, um diese für Akiharu zu öffnen.
"Komm, wir müssen ein kleines Stück laufen…", wiederholte Nazar schließlich, ehe er bemerkte, dass Akiharu nicht alleine auf der Rückbank gewesen war.
Sayuri, die Shiba Inu-Hündin, die stets an Akiharus Seite war, stand kurz darauf neben ihm. Er löste sich von ihrem Anblick, schulterte ihre beiden Taschen und atmete tief durch.
Er sah zu einer Anzeige, die sowohl die Uhrzeit, als auch die Temperatur und das Datum anzeigte. Auf dieser erkannte er, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten und da packte er Akiharu am Handgelenk, zog ihn im rasanten Schritt hinter sich her. Aber so konnte er garantieren, dass er mit ihm mithielt und nicht verloren ging. Wenn er nicht ausgerechnet mit Seife oder Butter in Kontakt gekommen war, würde er dieses Handgelenk erst loslassen, wenn sie am nächsten Punkt angekommen waren.
In den letzten Stunden hatte sich Nazar eingängig damit befasst, wohin er Akiharu bringen würde und jetzt mussten sie einen Multivan erreichen, der sie aus der Stadt bringen würde. Doch dieser stand in einem anderen Stadtviertel und dies war auf der anderen Seite des Flusses und sie hatten nicht mehr viel Zeit.
Mit einem kurzen Blick über die Schulter versicherte er sich, dass es noch immer Akiharu war, den er hinter sich herzog und atmete etwas erleichtert auf, als er merkte, dass es noch immer der Junge war, weswegen er all das auf sich nahm. Ihr Ziel war ein Ort, den er seit vielen Jahren nicht mehr aufgesucht hatte und er hoffte, dass er Akiharu dort die Sicherheit geben konnte, die er so dringend verdiente, um sich endlich wieder an ein normales Leben zu gewöhnen und hoffentlich die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
"Es ist nicht mehr weit, aber wir müssen uns beeilen", erklärte Nazar mit einer ruhigen Stimmenlage, obwohl er fast im Dauerlauf durch die nächtlichen Straßen lief.
Doch da erreichten sie bereits den Fluss, den sie noch mit Hilfe einer kleinen Brücke überqueren mussten, dann noch zwei Häuserblocks weiter und dann würde auf einem kleinen Parkplatz der dunkle Multivan stehen, in den sie steigen würden und der sie aus dieser Stadt bringen würde.
Natürlich hatte Nazar unterwegs darauf geachtet, dass sie keinerlei Kameras kreuzten und von diesen nicht erfasst wurden. Xaldin hasste es, Verkehrskameras anzuzapfen, aber sollte er wirklich auf die Idee kommen, es doch zu tun, würde er es schwer haben, sie dadurch zu verfolgen. Nicht einmal auf dem Parkplatz, den sie ansteuerten gab es Überwachungskameras, so dass sie ungesehen verschwinden konnten.
Als sie das andere Viertel erreichten, sie immer näher zum Parkplatz kamen, blieb Nazar stehen, sah zu einer alten Kirche und sah auch dort auf die Uhrzeit, die von einem großen Ziffernblatt mit alten Zeigern angegeben wurde.
"Wir haben es gleich geschafft", entwich es Nazar, als er in einem deutlich langsameren Schritt weiter ging.
Dennoch lockerte er den Griff um das Handgelenk Akiharus nicht, denn er wollte ihn noch nicht gehen lassen, denn... wer wusste, was auf den letzten Metern geschah und ob er dann noch für die Sicherheit des Jungen sorgen konnte, wenn er ihn nicht mehr spürte. Die kleine, unsichere und doch sicherer Verbindung, beruhigte auf eine gewisse Art und Weise sein Gemüt und sorgte dafür, dass er nicht darüber nachdenken musste, ob Akiharu noch immer hinter ihm war oder nicht.
Nazar blieb stehen, als er den Parkplatz erspähte und Ausschau nach dem Multivan hielt. Doch da bog dieser gerade durch die Einfahrt auf den Platz und parkte über mehrere Begrenzungen hinweg. Es schien, als würde der Fahrer des Wagens darauf warten, dass die Passagiere eintrafen und er endlich wieder weg konnte. Nur ungern wollte er den Fahrer warten lassen, weswegen er den Fuß wieder vor den anderen setzte und die letzten Meter zum Wagen überbrückte. Erst als sie dort ankamen, hob er die Verbindung zu Akiharu, ausgelöst durch die Berührung seiner Hand an dessen Handgelenk, auf.
Es fühlte sich auf merkwürdige Art und Weise komisch an, ihn nicht mehr zu berühren, aber er konnte nicht die Tür zum Wageninneren öffnen, dem Fahrer in die Augen sehen und hoffen, dass dieser diese Verbindung bemerkte. Dafür war sein Ruf, dass er mittlerweile gefühllos war, zu weit verbreitet.
"Bereit für eine weitere Autofahrt?", wandte er sich an Akiharu, während er langsam zum Multivan ging.

Akiharu Sasaki

Dass Akiharu in Gedanken versank, besonders wenn er alleine war und keine Gefahr fürchten musste, war nichts ungewöhnliches. In seinem Leben gab es einfach vieles, das in beschäftigte, Probleme, für die er am liebsten eine Lösung finden würde, auch wenn alles nachdenken nichts brachte, weil es bislang für ihnen keine Möglichkeit gab, einen Ausweg aus seiner Situation zu finden.
Nazar in diesem Zustand zu sehen, während er hinter dem Lenkrad saß, sodass er nicht einmal mitzubekommen schien, dass er mit ihm sprach, war dagegen etwas Neues für ihn, dass er so noch nicht erlebt hatte. In der Regel war sein Fahrer vollkommen auf seine Aufgabe konzentriert und durch nichts davon abzulenken. Das Fehlen einer Antwort auf seine Frage konnte man zwar auch darauf schieben, doch ein Blick in den Rückspiegel, in dem er den anderen sehen konnte, verriet ihm, dass es heute einen ganz anderen Grund hatte.
Womöglich waren Antworten auf die Fragen, ob jemand verletzt wurde und Xaldin eventuell einen Ersatz für ihn suchte, aber auch einfach nicht möglich, da es Nazar selbst nicht wusste und so blickte Akiharu aus dem Fenster und machte sich seine eigenen Gedanken darüber, während die Häuser und Straßen an ihnen vorbei zogen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Nazar verletzte wenn nicht gar Tote in Kauf nahm, um ihn aus dem anderen zu holen, war hoch, wenn er daran dachte, dass es ihn auch keine Mühe kostete, dem Gast des Abends etwas unter das Essen zu mischen. Aber war es wirklich so einfach, den älteren als skrupellosen Mann dastehen zu lassen, der selbst nicht davor zurückschreckte, andere Angestellte, mit denen er zum Teil seit Jahren zusammenarbeitete und unter einem Dach lebte, zu gefährden? War es bei Mr. Perez, den sie beide heute wohl zum ersten Mal gesehen hatten, nicht doch etwas anderes?
Akiharu presste die Lippen zusammen, denn er wusste es einfach nicht. Möglich wäre es sowohl, dass es Nazar tatsächlich egal war, was aus den anderen Mitarbeitern und somit seinen Kollegen wurde, als auch, dass er penibel darauf geachtet hatte, dass keiner von ihnen zu Schaden kam. Er konnte sich nicht mit Gewissheit für eines von beiden entscheiden. Die Wahrheit wusste nur Nazar allein.
Und was die andere Sache betraf, war er genauso zwiegespalten. Auf der einen Seite hoffte er, dass Xaldin nicht nach ihm suchen würde. Dass er wirklich frei war, sobald sie den Ort erreichten, zu dem sein Fahrer ihn bringen wollte, denn das war genau das, was er sich von ganzem Herzen wünschte. Andererseits wollte er nicht, dass jemand anders genau dasselbe durchmachen und ertragen musste, was man ihm die letzten Jahre antat. Der Gedanke, Elea oder jemand anders könnte seine Rolle übernehmen, schnürte ihm die Brust zusammen und ließ ihn kaum atmen. Niemand hatte das verdient.
Aus diesem Zustand der Zerrissenheit holte ihn erst das Öffnen der Tür. Akiharu blinzelte ein paar mal, um wieder eine scharfe Sicht zu bekommen und sich umsehen zu können, nachdem er ausgestiegen war. Die Gegend kam ihm noch von seinem Leben auf der Straße bekannt vor. Nicht weit entfernt lag der Park, in dem Milou und er gerne Zeit verbrachten, während sie die anderen Menschen beobachteten. Sein Blick wanderte in die Richtung und erneut drohte er, in Gedanken zu versinken. Etwas, dass die plötzliche Berührung an seinem Handgelenk jedoch erfolgreich verhinderte. Schockiert sah er Nazar an und stolperte die ersten Schritte hinter ihm hinterher - einerseits froh, von diesem gehalten zu werden, da er bei dem Tempo, was der andere an den Tag legte, sonst gefallen wäre, andererseits spürte er bereits nach wenigen Sekunden das beklemmende Gefühl in seinem Brustkorb, welches sich bei Berührungen in ihm breit machte und von dem er wusste, dass es stärker wurde, je länger der Zustand anhielt.
Als er sich endlich wieder gefangen hatte und glaubte, Schritt halten zu können, ohne über seine eigenen Füße zu stolpern, nahm er das Knurren und Bellen neben sich wahr, dass Nazar scheinbar dazu bringen sollte, ihn wieder loszulassen. Doch nichts dergleichen geschah. Er wurde weiter gezogen und wie erwartet verstärkte sich der Druck in seinem Inneren, der es ihm schwer machte, richtig zu atmen. Als er glaubte, es nicht mehr auszuhalten, versuchte er sich aus dem Griff zu befreien, zog und rüttelte, doch Nazars Hand lag wie eine Stahlklammer um sein Gelenk, die sich keinen Millimeter öffnete, sondern eher noch fester wurde, je mehr er versuchte, sich zu wehren. Vielleicht kam es ihm aber auch nur so vor, da die Panik beinahe übermächtig wurde.
Dass der ältere ihm immer wieder erklärte, dass es nicht mehr weit war und sie es bald geschafft hatten, war keine allzu große Hilfe in seinem Zustand. Innerlich betete er, dass er recht hatte und er ihn dann wieder los ließ. Ein kleiner Teil von ihm fand es allerdings bemerkenswert, wie ruhig Nazars Stimme klang, obwohl sie beinahe durch die Straßen hetzten. Er selbst brachte keinen Ton über die Lippen, hatte Angst, sich zu übergeben, falls er es tat. Zudem ging sein Atem rasselnd, was nicht jedoch nicht nur an seinem mentalen sondern auch an seinem physischen Zustand lag, denn seine Kondition war so gut wie nicht vorhanden. Seine Kräfte schwanden merklich, bis ihn im Grunde nur noch der Griff an seinem Handgelenk aufrecht hielt und dazu bewegte, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Dankbarkeit durchflutete ihn, als sie endlich ein wenig langsamer liefen, da sie offensichtlich fast da waren. Mit Mühe und Not versuchte er, Sauerstoff in seine Lungen zu pumpen, was alles andere als einfach war, solange festgehalten wurde. Mit jeder Sekunde, die es länger andauerte, wurde das Bedürfnis größer, die Verbindung zu lösen. Eine Ereignis, das erst stattfand, als sie einen Parkplatz erreichten, auf den kurz nach ihrer Ankunft ein Multivan fuhr, der den Motor laufen ließ und den Nazar augenblicklich ansteuerte. Bei dem Wagen angekommen, geschah, was er sich schon seit einer halben Ewigkeit wünschte: Er wurde losgelassen.
Das Gefühl der Panik herrschte dennoch in seinem Inneren vor, was seine Beine in dem kurzen Moment der Ruhe zittern ließ. Selbst Sayuri, die sich nah neben ihn stellte und ihm damit zeigte, dass sie bei ihm war, konnte ihm kaum dabei helfen, sich wieder zu beruhigen. Nur am Rande nahm er wahr, wie Nazar ihn etwas fragte und eher automatisch als wirklich überzeugt, nickte er nur, auch wenn die Bedeutung der Worte nicht ganz bis in seinen Verstand vorgedrungen waren. Man hätte ihn gerade auch fragen können, ob er wieder zurück wollte und er hätte einfach zugestimmt, da er zu sehr mit sich beschäftigt war. Dennoch schaffte er es irgendwie, ins Auto zu steigen, als ihm Nazar die Tür öffnete. Wie er ins Innere des Wagens genommen war, könnte er später wohl nicht mehr sagen, aber er war froh, als er saß, da er befürchtete, dass seine Beine nachgaben, wenn er noch länger hätte stehen müssen.
Kaum spürte er die Polsterung der Sitze unter sich und den Gurt über seiner Brust, stellte er die Füße auf den Sitz und zog sie an seinen Körper. Dass er damit den Stoff eventuell ruinierte, war ihm in diesem Moment genauso egal, wie die Tatsache, dass Nazar den Multivan nicht selbst fuhr und sie sich auf einen für ihn Fremden verlassen mussten. Er schlang die Arme um seine Beine und bettete den Kopf auf die Knie, bevor er begann sich vor und zurück zu wiegen, in der Hoffnung, dass er sich auf diese Weise ein wenig beruhigen konnte. Sein Körper zitterte unentwegt und ganz egal, wie sehr er dagegen ankämpfte, um seine Muskeln ruhig zu halten, es klappte nicht, sondern wurde gefühlt nur noch stärker.
Wie viele Minuten er in diesem Zustand verbrachte, wusste er nicht, aber er spürte, wie sich die Erschöpfung über ihn stülpte und sein Bewusstsein langsam schwand.
"Ist alles in Ordnung bei ihm?", war alles, was er noch mitbekam, bevor ihm die Augen komplett zufielen.

Nazar

Als Nazar Akiharu am Handgelenk umfasste, dachte er nicht daran, dass dieser es gar nicht wollte, nicht ertragen konnte. Er hatte keinerlei Ahnung, dass diese unscheinbare Berührung eine Panikattacke in Akiharu auslösen konnte. In seinem Kopf herrschte nur eines: Der eigene Befehl, den Jungen in Sicherheit zu bringen und ihn so weit wie möglich wegzuschaffen. Dabei war es ihm fast schon egal, ob er über Leichen gehen musste oder ob jemand nur verletzt wurde.
Nachdem er das Auto abgestellt hatte, rannten sie durch die Straßen der Stadt, bis sie zu einem Parkplatz kamen und dort, als er die Stellfläche für die verschiedensten Fahrzeuge erblickte, lockerten sich endlich die Finger um Akiharus Handgelenk.
Jetzt erst fiel ihm auf, dass dieser vollkommen außer Atem war und sich sein Brustkorb zu sehr hob und senkte. Er hatte es übertrieben. Er hatte wissen müssen, dass der Junge keinerlei Kondition hatte und dass nicht nur darauf zurückzuführen war, dass er kaum etwas aß und auch sonst immer zurückgezogen lebte. Wahrscheinlich hatte Nazar bedenken müssen, dass er sich mehr hätte um Akiharu kümmern müssen, statt ihn einfach hinter sich herzuziehen und seine gesundheitlichen Aspekte zu ignorieren.
Kaum hatte Nazar diesen inneren Kampf mit sich selbst für einen kurzen Waffenstillstand beendet, fragte er den Jungen, ob er bereit war, eine weitere Autofahrt auf sich zu nehmen. Als er zu Akiharu blickte, wusste er nicht, wie er den Gesichtsausdruck deuten sollte. Irgendetwas stimmte nicht, aber ehe er etwas diesbezüglich fragen konnte, nickte Akiharu und stieg in den Van.
Nazar verschloss von außen die Tür, stieg neben dem Fahrer ein und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Als auch die Tür ins Schloss fiel, setzte sich auch schon der Wagen in Bewegung.
Langsam drehte sich Nazar nach hinten, um noch einmal nach Akiharu zu sehen. Da fiel ihm auf, wie dieser sich auf den Sitz kauerte. Die Beine angezogen, die Füße auf dem Sitz abgestellt und den Kopf auf die Knie gelegt. Die Arme waren dabei um seine Beine geschlungen und Nazar wollte nur zu gerne wissen, was gerade in ihm vorging. Dennoch wusste er, dass er dies nicht erfragen sollte, denn so nahe standen sie sich nicht.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Nazar, wie Akiharu sich nach vorne und hinten wiegte, sein Körper zitterte. Auch der Fahrer bemerkte das unruhige Verhalten des Jungen, stellte die Heizung höher und doch brachte es nichts.
Am liebsten hätte Nazar gesagt, dass sie kurz anhalten mussten. Doch es hätte nichts gebracht, da sie mittlerweile auf einem Highway waren und die nächste Möglichkeit zum Halten mehrere Meilen entfernt war. Einfach am Straßenrand wollte er auch nicht stehen bleiben, weil er immer noch die Gefahr im Nacken spürte, dass Xaldin einige seiner Männer losschickte, um sie zu suchen. Die Bedrohung, dass sie hier vorbeikamen und sie fanden, war viel zu groß.
„Ist alles in Ordnung bei ihm?“, fragte der Fahrer.
Doch Nazar wusste nicht, wie er es erklären sollte.
„Fahr schneller“, wies er den Fahrer schließlich nur an und wandte sich wieder zu Akiharu, der gerade die Augen schloss und seine Arme sanken zur Seite.
Sofort riss Nazar den Gurt aus der Halterung, kletterte nach hinten und riss Akiharu vom Sitz herunter, als er dessen Gurt ebenfalls gelöst hatte. Erneut war es ihm gleich, dass er den Jungen berührte und es ihn womöglich direkt in den nächsten Schock versetzen konnte, wenn er erwachte.
Sanft rüttelte er ihn an der Schulter, hoffte, er würde innerhalb der nächsten Sekunden wieder das Bewusstsein zurückerlangen.
Er hatte zu viel von ihm verlangt, hatte nicht darauf Rücksicht genommen, dass es ihm nicht zu einhundert Prozent gut ging und jetzt musste er mit den Konsequenzen leben. Wie sollte er nur damit klarkommen, wenn Akiharu durch diese dumme Aktion Schaden nahm?
Sein Blick fiel, als er sich im Wageninneren umsah, auf eine kleine Flasche Wasser und diese öffnete Nazar mit einer schnellen Drehung der Kappe. Dann legte er seine Hand hinter Akiharus Kopf, hob dessen Körper etwas an und hielt die Flasche an seine Lippen. Als er etwas von dem kühlen Wasser in dessen Mund kippte, hoffte er, er würde nicht daran ersticken, sollte das Wasser nicht in die Speise-, sondern in die Luftröhre und damit in dessen Lunge gelangen.
„Komm, mach die Augen wieder auf…“, flüsterte Nazar leise, so dass es nur Akiharu, aber nicht der Fahrer hören konnte, sollte Akiharu gerade wieder zurück ins Hier und Jetzt finden.
Er sah neben sich und entdeckte Sayuri, die ihn mit einem bedrohlichen Blick im Auge behielt.
Hilfesuchend sah er die Hündin an, lachte kurz über sich selbst, bevor er sagte: „Du bist immer an seiner Seite… Hilf ihm… Mach, dass es ihm besser geht…“
Er war eindeutig kurz davor, endgültig den Verstand zu verlieren, wenn er nicht nur Xaldin hinterging, sondern jetzt auch noch mit einem Hund sprach. Irgendetwas musste in seinem Inneren vollkommen schieflaufen, wenn er schon mit Tieren sprach…
Dennoch hoffte er, dass Akiharu innerhalb der nächsten Augenblicke die Lider wieder öffnete und sich endlich wieder beruhigte… Auch wenn er nicht wusste, ob die Nähe zu ihm nicht einen weiteren Schock auslösen würde…

Akiharu Sasaki

"Ich bin gleich wieder bei dir", war leise eine Stimme zu hören, gefolgt von einer kurzen Berührung an der Schulter, die Akiharu unweigerlich zusammenzucken ließ. Weiter traute er sich nicht, sich zu bewegen, bis er das leise Klacken des Türschlosses hörte. Kaum war er alleine, tastete er ohne den Kopf zu drehen neben sich nach der Bettdecke. Eine Bewegung, die anderen sonst keine große Mühe kostete, ihn aber bei jedem Zentimeter, den er sich aus seiner Position bewegte, stocken ließ und in ihm das Bedürfnis weckte, einfach so liegen zu bleiben, wie er war. Ein anderer Drang war jedoch stärker und sorgte dafür, dass er die Zähne zusammenbiss und die Schmerzen in Kauf nahm, die sich in ihm bemerkbar machten, sobald seine Muskeln arbeiteten.
Mit viel Mühe ertasteten seine Finger den Stoff der Decke und er zog diese über sich, um seinen entblößten Körper zu bedecken. Ein Schauer lief ihm dabei über den Rücken, als die kühle Seide seine Haut berührte, doch das Zittern, das kurz darauf folgte, war ihm lieber, als sich die Blöße zu geben, noch immer nackt auf dem Bett zu liegen, sobald der Mann, dem er in dieser Nacht von Xaldin überlassen wurde, wieder zurückkam, und er hatte keinen Zweifel daran, dass er genau das tun würde. Dabei war es nutzlos, da der andere bereits alles gesehen hatte, was es zu sehen gab, doch obwohl er es wusste und der Schutz durch die Decke trügerisch war, fühlte er sich auf diese Weise doch ein wenig
sicherer und wohler, als wenn er ohne darauf wartete, dass die Nacht ihren weiteren Lauf nahm und hoffentlich bald vorbei war.
Viel zu schnell für seinen Geschmack war erneut das Geräusch der Tür zu hören und ohne es kontrollieren zu können, zog Akiharu die Decke enger um sich und wollte sich am liebsten komplett darunter zusammenrollen. Soweit ließ es der Mann allerdings nicht kommen und noch bevor er sich auch nur tiefer unter die Decke zurückziehen konnte, spürte er, wie ihm diese entzogen wurde. Sofort begann er erneut zu zittern - sowohl durch die plötzliche Kälte als auch aus Angst vor dem Kommenden.
"Es gibt absolut keinen Grund, dich zu verstecken, Kleiner", hörte er und krallte seine Finger in das Bettlaken, ohne seinen Blick zu heben und ihn anzusehen. "Ich habe dir ein Glas Wasser mitgebracht. Soll ja keiner sagen, es würde dir bei mir nicht gut gehen."
Das Wort
gut war blanker Hohn, da änderte auch das Getränk nichts daran, doch Akiharu gab keinen Laut von sich, der alles nur noch schlimmer machen könnte. Bewegen tat er sich ebenfalls nicht, auch wenn ihm bewusst war, dass die Erwähnung des Glases wohl eine Aufforderung dazu war, dies zu tun und etwas zu trinken. Für einige wenige Momente schien es auch so, als würde es der Mann hinnehmen oder geduldig darauf warten, dass er sich bewegte, doch Geduld war keine Eigenschaft, die man ihm zuschreiben konnte, was ein Grund dafür war, dass er sich kaum rühren konnte.
"Hey Kleiner, willst du mich etwa beleidigen?"
Ohne, dass er Zeit hatte, darauf zu reagieren, wurde er auf den Rücken gedreht und am Kinn gepackt. Ein Schmerzenslaut kam ihm über die Lippen gefolgt von einem Wimmern, das jedoch verstummte, als seine Kiefer auseinander gezwungen wurden und der andere das Glas ansetzte, um ihm das Wasser einzuflößen. Zu Beginn versuchte er die Flüssigkeit noch zu schlucken, kam aber nicht schnell genug hinterher und begann zu husten…


Akiharu drehte seinen Kopf zur Seite, als das Getränk in seiner Luftröhre landete. Sein Körper wehrte sich gegen das Wasser und sorgte für einen Hustenanfall. Nur am Rande nahm er wahr, dass er nicht davon abgehalten oder dazu gezwungen wurde, weiterzutrinken, wie er es erwartet hätte. Doch das änderte auch nichts daran, dass der Husten anhielt und nicht aufhören wollte, bis ihm langsam aber sicher der Brustkorb und der Bauch schmerzten. Unwillkürlich suchte seine Hand erneut nach Halt und fand ihn am Arm der Person neben ihm. Obwohl er es nicht sollte, krallte er seine Finger hinein, hielt sich an ihm fest, als wäre er sein rettender Anker. Als der Husten endlich nachließ und kurz darauf komplett aufhörte, fühlte er sich schlapp und ohne nachzudenken ließ er seinen Kopf entkräftet gegen die Schulter des Mannes sinken, bei dem er nicht einschätzen konnte, ob dieser es einfach hinnahm, dass er sich an ihm abstützte oder ob es eine Strafe nach sich ziehen würde. Der Gedanke an Letzteres ließ ihn erneut zittern, doch er war zu schwach, um an seiner Position etwas zu ändern und so war er froh über jede Sekunde, in der er sich mit geschlossenen Augen einfach nur ausruhen und Kraft sammeln konnte. Kraft, die er wohl oder übel noch brauchen würde…
„Du bist immer an seiner Seite… Hilf ihm… Mach, dass es ihm besser geht…“
Akiharu nahm die Stimme wahr, bemerkte, dass sie nicht mit der zusammenpasste, die er bis eben mehrfach gehört hatte. Sie kam ihm bekannt vor, doch es dauerte noch einen endlos langen Moment, bis er sie Nazar zuordnen konnte, und einen weiteren, bis er vollends realisierte, wo er sich befand und was er gerade tat. Abrupt riss er die Augen auf, löste sich aus seiner Haltung und versuchte, ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen, was in der Enge des Autos nur schwer zu bewerkstelligen war.
"E-es tut mir leid… Ich… wollte nicht-", stammelte er und brach ab, da er nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte. Somit war er froh, als Sayuri seine Aufmerksamkeit auf sich zog, indem sie zu ihm kam und seine Nähe suchte. Besorgt beschnüffelte sie ihn und stupste ihn mit dem Kopf an, bis er seine Hand hob und sie sanft streichelte. Am liebsten hätte er ihr wie sonst auch gesagt, dass alles in Ordnung war, aber sie war nicht dumm. Das hatte sie schon oft genug bewiesen und jetzt zu behaupten, dass es ihm gut ging, würde selbst ein Blinder als Lüge entlarven. So streichelte er sie weiter, beruhigte damit sie und vor allem sich selbst, bis er spürte, dass das Zittern in seinem Körper nachließ. Seine Muskeln schmerzten dennoch und die Bilder von eben schoben sich wieder vor sein Auge.
"Was ist passiert?", fragte er, da die Situation mit dem anderen Mann noch viel zu präsent war, um sich daran zu erinnern. Nur Stück für Stück lösten sich die Bilder des Geschehenen auf, verschwanden für diesen Moment, doch er wusste, dass sie früher oder später wiederkamen. Es war einer der vielen Alpträume, die er immer und immer wieder hatte. Akiharu wollte allerdings nicht darüber nachdenken und konzentrierte sich stattdessen auf seine Erinnerungen vor seiner Ohnmacht. Nach einigen Minuten kam sie langsam zurück und er erinnerte sich an die Strecke, die er zusammen mit Nazar durch die Straßen gerannt war, um zu einem Parkplatz zu kommen, wo kurz darauf das Auto auftauchte, in dem sie nun saßen. Sein Blick wanderte zu seinem Handgelenk und der Stelle, wo der andere ihn festgehalten hatte. Er presste die Lippen zusammen, versuchte nicht alleine durch die Erinnerung erneut in Panik zu geraten und atmete kontrolliert ein und aus.
"Wo genau soll es eigentlich hingehen?", schob er noch nach, in der Hoffnung, dass ihn die Erklärung weiter ablenkte und er die Reaktionen seines Körpers unter Kontrolle bekam.

Nazar

„Du bist immer an seiner Seite… Hilf ihm… Mach, dass es ihm besser geht…“
Dieser Satz hing noch immer in der Schwebe, als er den Hund anflehte, Akiharu zu helfen. Konnte ein Tier wirklich etwas ausrichten, wenn der Mensch in eine Art Krampfanfall geriet? Er wusste nicht genau, wie er diesen Zustand beschreiben sollte. Dennoch wusste Nazar, dass damit nicht zu spaßen war.
Doch kaum hatte er die Worte an den Vierbeiner gerichtet, bemerkte er, dass Akiharu ruhiger wurde. Zumindest kam es ihm so vor. Die Ruhe hielt allerdings nur kurz an, denn abrupt riss sich Akiharu aus der Haltung und versuchte von ihm wegzukommen. Doch im Inneren des Vans war es nicht allzu leicht, Distanz zwischen sie zu bringen.
„Ich… Nicht du musst dich entschuldigen…“, sagte Nazar mit sanfter Stimme, zumindest soweit es seine Stimmlage zuließ, und versuchte Akiharu damit zu beruhigen, auch wenn er nicht wusste, ob es ihm gelang.
Aufmerksam beobachtete der Dunkelhaarige, wie Akiharu die Hand hob, die Vierbeinerin kraulte und streichelte, nachdem sie nach seiner Aufmerksamkeit verlangt hatte. Auch schien es, als würde das Zittern seines Körpers nachlassen.
„Du…“, begann Nazar, stoppte kurz und atmete tief durch. „Ich weiß nicht, ob du so etwas wie eine Panikattacke hattest? Ich… Es war wohl zu viel Stress…“
Nazar ließ sich auf die Fersen zurücksinken, strich sich das Haar aus der Stirn und sah dann wieder zu Akiharu. Dies war wohl eine Angewohnheit, die er nicht aus sich herausbekommen würde. In ihm steckte noch immer die Tradition seines Landes, die Tradition, dass die Japaner auf dem Fußboden saßen und sich auf die Fersen setzten. Auch nach all den Jahren, die er fernab des Landes der aufgehenden Sonne gelebt hatte, war er nie davon losgekommen.
„Ich kenne einen Ort, an dem du erst einmal sicher sein solltest. Dort wird auch Xaldin nicht auftauchen können. Nicht, ohne die Barrieren zu überwinden. Es muss schon viel geschehen, damit er dich dort findet. Dort kannst du in Ruhe deine schulische Ausbildung beenden und dann kannst du schauen, was du machst… Vielleicht helfen dir die Personen dort, ein neues Leben aufzubauen, mit allem, was du erlebt hast, fertig zu werden…“, sprach er ruhig weiter und merkte, dass die Worte schwer über seine Lippen kamen.
Ein Stich machte sich in seinem Herzen bemerkbar, auch wenn er nicht wusste, wieso. Vielleicht lag es daran, dass er die ganze Zeit auf Akiharu aufpassen musste, sich immer um ihn gekümmert hatte und jetzt kurz davor war, das Leben und den Schutz in die Hände dieser Personen, zu denen sie jetzt hinfuhren, zu legen. Auch wenn er nicht wusste, woher dieser Druck in seinem Inneren kam, wusste er doch, dass er unbedingt aufhören sollte, so viel zu reden. Das passte nicht zu ihm und sorgte dafür, dass er das Gefühl bekam, viel zu viel von sich preiszugeben. Er musste schleunigst zu seiner alten Form zurückkehren und damit anfangen, sich zu überlegen, was er sagte und was zu viel des Guten war.
„Sofern du damit einverstanden bist?“, hakte Nazar schließlich nach und sah zu Akiharu, um herauszufinden, wie der Junge darüber dachte.

Akiharu Sasaki

Es hieß, der Hund sei der beste Freund des Menschen und Akiharu konnte diese Aussage nur bestätigen - nicht nur heute sondern bereits seit dem Tag, an dem Xaldin sie ihm vorstellte und ihm mitteilte, dass sie von nun an ihm gehörte. Inzwischen wusste er, dass es ein Mittel zum Zweck war, denn ohne Sayuri würde er nirgendwohin gehen und er war sich sicher, dass der Ältere genau darauf gesetzt hatte. Mit einem Hund zu fliehen, war umständlicher und auch ein wenig gefährlicher, da man nicht sagen konnte, wie ein Tier in unbekannten Situationen reagierte. Auch Sayuri - so treu und gehorsam sie normalerweise auch war - hatte sich bereits seiner Befehle widersetzt. Dennoch war sie immer für ihn da und an seiner Seite. Er könnte und wollte sie nicht dort zurücklassen. Akiharu war es ihr nach all dem, was sie zusammen durchgemacht hatten, nicht nur schuldig - ohne sie wäre er verloren.
Die Situation, in der er gerade steckte, zeigte dies sehr eindrucksvoll. Alleine ihre Nähe und Anwesenheit beruhigten ihn, ließen ihn kontrollierter atmen und gegen die Panik in seinem Inneren ankämpfen. Ohne sie wüsste er so manches mal nicht, was er tun sollte.
Als er gedanklich all die Male durchging, in denen sie ihm bereits geholfen hatte, durchbrach Nazar leise die Stille, die sich in dem Fahrzeug ausgebreitet hatte und lediglich durch das Geräusch des Motors durchbrochen wurde. Im ersten Moment glaubte er, sich verhört zu haben oder noch nicht wieder ganz bei sich zu sein. Seine Hand stoppte mitten in der Bewegung, was auch Sayuri erst zu ihm und dann zu dem anderen schauen ließ.
Hatte er sich gerade indirekt bei ihm entschuldigt?
Akiharu wusste nicht, ob er das glauben sollte, auch wenn ihn der Ältere an diesem Tag bereits mehrfach überrascht hatte. Dennoch wirkte es vielmehr so, als wollte ihm sein Gehör einen Streich spielen - nicht zuletzt, weil die Stimme des anderen ungewöhnlich sanft klang. Nazar sagte jedoch nichts weiter dazu - sich vielleicht selbst bewusst werdend, was er so eben getan hatte. Allerdings konnte er sich in dem Punkt ebenfalls nicht sicher sein und ihm fehlte der Mut, ihn zu fragen, was er eben gesagt hatte.
Zudem wechselte er bereits das Thema, antwortete ihm auf seine Frage und erklärte ihm, was geschehen war, obwohl er dies bereits mehr oder weniger wusste. Als er erwähnte, dass er womöglich eine Panikattacke hatte und es an zu viel Stress lag, presste er die Lippen aufeinander und senkte den Blick auf den Boden des Vans. Dabei versuchte er, nicht wieder an die letzte halbe Stunde zu denken, um nicht erneut in diesen Zustand zu fallen. Bisher wusste außer Milou niemand, dass er bei jeder kleinsten Berührung Gefahr lief, in Panik zu verfallen. Wie er es schaffte, seiner Arbeit nachzugehen, war ihm anfangs ein Rätsel, doch mit der Zeit hatte er gemerkt, dass die Furcht vor Xaldins Strafen sehr viel größer war und tiefer saß, als die Angst vor Berührungen. Daher überstand er es auch, wenn ihn sein Herr selbst grober anfasste, da er ihm diese Schwäche einfach nicht zeigen wollte. Seinen Angestellten hingegen hatte er es strengstens untersagt, ihm auch nur ein Haar zu krümmen, außer er ordnete dies ausdrücklich an. So kam es, dass sich die Berührungen zwischen Nazar und ihm nicht nur auf ein Minimum begrenzten, sondern bis zum heutigen Tag an einer Hand abzählbar waren. Worüber er mehr als froh war, denn er konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob er andernfalls nicht schon weit früher dabei in Panik geraten wäre.
Somit wusste er nun jedoch auch nicht, ob er dem anderen gegenüber die Wahrheit sagen sollte. So lange hatte er es für sich behalten, da es in dem großen Anwesen keine gute Idee war, zu viele Schwächen zu zeigen, die andere ausnutzen konnten. Wobei gerade Xaldin ein wahrer Meister in dieser Disziplin war und diese wohl schon vor langer Zeit perfektioniert hatte. Hier in diesem Fahrzeug sah die Sache nun ein wenig anders aus. Inzwischen war er weit weg von den Mauern, die in den letzten Jahren wie ein Gefängnis für ihn waren, und mit jeder Sekunde entfernte er sich weiter davon. Zeitgleich rückte auch die Person, die ihm all dies antat in immer weitere Ferne. Jedoch handelte es sich bei Nazar um dessen rechte Hand. Über viele Jahre war der Mann vor ihm dem anderen treu ergeben und wer sagte ihm, dass all dies nicht doch nur ein Spiel war? Ein Spiel, mit dem man ihm Hoffnung machte, um sie anschließend endgültig zunichte zu machen?
Akiharu grub seine Zähne in seine Unterlippe, bis diese aufging und begann zu bluten. Den Schmerz hieß er dabei beinahe willkommen, denn er ließ ihn klarer denken, obwohl sich seine Gedanken grundsätzlich immer wieder um dieselbe Frage drehten: konnte er Nazar vertrauen? Hilfesuchend huschte sein Blick zu Sayuri und wie sehr wünschte er sich, sie könnte reden, denn ihre Intuition, was andere Menschen betraf, war bisher fast immer richtig. Diese erwiderte seinen Blick und als könnte sie in seinen Kopf schauen, stupste sie ihn beinahe aufmunternd mit ihrer Schnauze an.
"Ich…", begann er und unterbrach sich direkt wieder. "Es liegt nicht am Stress. Ich… ertrage nur keine Berührungen…", sprach er weiter, wobei er zum Ende hin immer leiser wurde und seine Stimme nur noch einem Murmeln glich. Normalerweise sollte es sich gut anfühlen, sich zu offenbaren und etwas auszusprechen, was man schon lange mit sich herumtrug, doch sein Inneres war eher das reinste Gefühlschaos, aus Angst doch etwas falsches gesagt zu haben. Ob Nazar es überhaupt nachvollziehen konnte, wusste er nicht, doch nun waren die Worte einmal ausgesprochen und er konnte sie nicht zurücknehmen.
Zum Glück lenkte ihn der andere von dem hin und her in seinem Inneren ab, indem er ihm erklärte, wo es überhaupt hin ging. Sobald er den ersten Satz ausgesprochen hatte, hob Akiharu seinen Blick wieder und sah ihn an. Ungläubig, gespannt und mit einem Funken Hoffnung im Herzen hing er regelrecht an seinen Lippen. Und auch als er ihn fragte, ob er überhaupt einverstanden war, brachte er keinen Ton heraus. All dies hörte sich zu schon an, um wahr sein zu können. Sollte es wirklich so einen Ort geben? Einen Ort, an dem ihn Xaldin nicht fand? Wo er keine Angst vor ihm haben musste? Wo er einfach leben und versuchen konnte, die Geschehnisse zu verarbeiten? War das nicht nur ein Märchen und zu schön für die Realität?
"Ist das wahr? Gibt es so einen Ort wirklich? Was ist das für ein Ort und wo liegt er?", war das erste, was ihm einfiel, da sein Kopf nicht verarbeiten konnte, dass er wirklich frei sein konnte. Wobei frei wohl die falsche Bezeichnung war, denn im Grunde war er dort ebenfalls mehr oder weniger gefangen. Sollte er diesen Ort verlassen, könnte Xaldin ihn dennoch finden. Zumindest glaubte er das, wenn er über die Sache mit der Barriere nachdachte.
Kaum dachte er darüber nach, dass er dort aber zumindest freier war als die letzten Jahre, huschten seine Gedanken zu einer Person, die er dann womöglich ebenfalls nicht wiedersehen würde: Milou.
Mit einem mal wurde sein Hals trocken und seine Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen. Wenn er an diesen geheimnisvollen Ort ging, würde ihn seine beste Freundin ebenfalls nicht finden, wenn nicht einmal Xaldin dazu in der Lage sein sollte. Gleichzeitig konnte er nicht zu ihr, da er dann wieder Gefahr lief, gefunden zu werden.
"Was ist dann mit Milou?", kam es ihm schneller über die Lippen, als er genauer darüber nachdenken konnte. Er wollte nicht, dass er sie nie wieder sah. Allerdings wollte er auch nicht zurück in diesen goldenen Käfig, aus dem er gerade so entkommen war. Zudem wusste er, was seine beste Freundin ihm wohl sagen würde: Dass er gehen und erst einmal an sich denken sollte. Aber konnte er das, wenn er sie somit zurückließ? Wieder einmal… Und wie sollte er die vergangenen Jahre verarbeiten, wenn sie nicht an seiner Seite war?
Als er sich bei diesem Punkt noch einmal Nazars Worte ins Gedächtnis rief, fokussierte sich sein Blick wieder auf den Mann ihm gegenüber und ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, das er nicht beschreiben oder erklären konnte.
"Und was wird aus dir? Was machst du dann?"
Der Gedanke, dass er ihn dort nur ablieferte und anschließend zu Xaldin zurückging, gefiel ihm nicht, obwohl er nicht genau sagen konnte, warum. Allerdings konnte er sich vorstellen, dass ihm eine saftige Strafe blühte - selbst wenn der alte Vampir nicht wissen sollte, dass er für den ungenießbaren Fisch und die teilweise Zerstörung des Anwesens verantwortlich war. Immerhin hatte er es ihm zur Aufgabe gemacht, darauf zu achten, dass ihm nichts geschah, und gleichzeitig darauf aufzupassen, dass er nicht versuchte zu fliehen. Letzteres war fehlgeschlagen und er wollte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn der Vampir erfuhr, dass Nazar dabei seine Finger im Spiel hatte. Der Tod war dabei wohl noch die harmloseste Strafe.

Nazar

Nazar war nie in den Genuss gekommen, ein eigenes Haustier zu haben. Niemanden, um den er sich kümmern musste. Niemand, für den er die Verantwortung trug. Seit dem Tag, an dem er zu Xaldin kam, musste er sich um sich selbst kümmern, musste dafür sorgen, dass Xaldin immer zufriedengestellt war und niemand sich ihm näherte. Doch dann kam Akiharu dazu und seine Aufgabe wurde es, sich um Akiharus Sicherheit zu kümmern. Ihn zur Schule zu fahren und ihn dort wieder abzuholen. Er musste ihn zu Xaldins Essen bringen, ihn zu dessen Kunden und Freunden fahren. Was sie dort mit ihm machten, wusste er und er hasste sich dafür, dass er zuließ, dass dies mit Akiharu getan wurde. Dieser Junge hatte es nicht verdient, derart behandelt zu werden.
Er merkte erst, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, als das Fahrzeug, in dem sie saßen, zu schlingern begann. Erst hörte er das Fluchen des Fahrers, dann ein lauter Knall und dann geriet der Bus außer Kontrolle. Sofort glitt Nazars Blick zu Akiharu, ob er in Sicherheit war. Er wollte die Finger nach ihm ausstrecken, ihn festhalten und davor bewahren, quer durch den Innenraum des Fahrzeugs zu fliegen. Doch er besann sich darauf, ihn nicht zu berühren und zog die Hände wieder zurück.
Das Auto raste mit großer Geschwindigkeit von der Straße herunter, durchfuhr einen Graben und kam unsanft auf der anderen Seite wieder nach oben. Irgendwann blieb das Auto stehen, weil es mit der Motorhaube gegen einen Baum knallte. Der Fahrer stieß einen dumpfen Laut aus, löste irgendwie den Sicherheitsgurt und beugte sich nach hinten, um nach ihm und Akiharu zu sehen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er und kletterte zu ihnen nach hinten.
Nazar spürte seine linke Hand nicht mehr, was aber daran liegen konnte, dass er unsanft durch den Raum geschleudert wurde, in dem er sich befand. Oder daran, dass die Hand unnatürlich von seinem Arm weg stand und es gut möglich war, dass die Hand gebrochen war. Es könnte aber genauso gut sein, dass das Gelenk aus der Pfanne gesprungen war und nur wieder dahin zurückbefördert werden musste. Aber darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn es so weit war.
Sofort suchte er Akiharu und sah ihn auf dem Boden liegen. Mühsam stand Nazar auf, krabbelte zu ihm und wollte ihn ein weiteres Mal berühren, an ihm rütteln, aber da hielt er sich erneut zurück und kämpfte gegen den Drang an, ihn durch das Shirt anzufassen.
„Akiharu?“, fragte er leise und sah zum Jungen. „Sprich mit mir…“
Er wusste nicht, ob er ihn berühren konnte, wenn er bewusstlos war oder es Folgen haben würde, wenn er ihn abtastete, um herauszufinden, ob bei ihm ein Knochen gebrochen war. Auch sein Hund war etwas durch den Innenraum gepoltert. Er betrachtete den Akita Inu und versuchte mit den Augen zu erkennen, ob bei dem Vierbeiner alles in Ordnung war oder irgendwo Verletzungen erkennbar waren. Da dieser allerdings zu ihnen kam, keine Auffälligkeiten beim Laufen erkennbar waren, nahm Nazar an, dass die Fellnase mit einem Schrecken davongekommen war.
Dabei hatte er gerade, bevor dieser Unfall passiert war, zum Antworten ansetzen wollen, hatte mit Akiharu darüber reden wollen, ob es diesen Ort, zu dem sie wollten, wirklich gab. Er hatte, als er den Plan geschmiedet hatte, den Fahrer angerufen, der Zugang zu diesem Ort hatte und jetzt war das Auto, mit dem sie dorthin wollten, defekt! Ein geplatzter Reifen! Etwas, was man nicht mitten in der Nacht mitten im Wald reparieren konnte, sofern man nicht das passende Werkzeug bei sich hatte. Er sah zu seinem Bekannten, um herauszufinden, ob dieser einen Plan hatte.
Durch die Seitentür kamen sie ins Freie und als Nazar zu Akiharu sah, war er froh, dass dieser wohl nur ein oder zwei blaue Flecke davontrug, statt schlimmere Verletzungen zu erleiden. Nachdem er seine Hand gewaltsam zurück ins Gelenk gedrückt hatte, beobachtete er, wie der Fahrer ums Auto herumlief und sich den zerstörten Reifen ansah. Dazu betrachtete er noch die verbeulte Motorhaube und stieß einen lauten Seufzer aus. Gleichzeitig ignorierte Nazar den einsetzenden Schmerz in seinem Handgelenk und versuchte zu ignorieren, dass es jetzt deutlich mehr schmerzte als zuvor. Er hatte keine Zeit, sich jetzt mit seinem Arm und dem Handgelenk auseinanderzusetzen.
„Ich glaube, wir müssen ab hier zu Fuß weiter“, sagte er und deutete in die Richtung, in die sie gerade gefahren waren. „Aber zum Glück sind es nur noch wenige Kilometer bis zu einem Motel. Dort können wir übernachten und später können wir dann jemanden Bescheid geben, der das Fahrzeug abschleppt und uns dort abholt.“
Nazar sah erneut zu Akiharu und legte den Kopf schief. Würde der Junge den Fußmarsch überstehen oder würde er ihn irgendwann tragen müssen, weil Akiharu einfach keine Kraft mehr hatte? Wie würde er dann wohl reagieren, weil es sich dann nicht vermeiden ließ, dass Nazar ihn berühren musste?
Am liebsten hätte er Akiharu noch all die Fragen beantwortet, die offen zwischen ihnen standen, aber dafür war jetzt keine Zeit. Xaldin hatte wahrscheinlich bereits mitbekommen, dass er und Akiharu fehlten und konnte sich eins und eins zusammenzählen. Womöglich hatte er schon die besten Leute darauf angesetzt, sie aufzuspüren. Ihnen blieb nicht viel Zeit, wenn sie in Sicherheit sein wollten, wenn Xaldin ihren Aufenthaltsort herausbekommen sollte…
„Bist du bereit für einen weiteren kleinen Fußmarsch?“, fragte er an den Jüngeren gewandt.

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